Das weite Land der Seele - Über die Psyche in einer verrückten Welt

Das weite Land der Seele - Über die Psyche in einer verrückten Welt

von: Georg Psota, Michael Horowitz

Residenz Verlag, 2016

ISBN: 9783701745388

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 757 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das weite Land der Seele - Über die Psyche in einer verrückten Welt



EINFÜHRUNG VON GEORG PSOTA


VON VER-RÜCKTEN UND NORMALEN


»Alle haben eine Psyche, deshalb glauben alle, sie verstehen etwas davon …« – ein ewig gültiger Satz des großen Wiener Psychiaters Stephan Rudas. Der Wissensstand über das Psychische ist – im Gegensatz zur Selbstwahrnehmung der Gesellschaft – jedoch weiterhin sehr gering, sowohl im Bereich der psychischen Gesundheit als auch bei psychischen Erkrankungen. Dies betrifft sowohl das einzelne Individuum als auch die Gesellschaft als Ganzes. Und es bringt Nachteile mit sich – für jeden Einzelnen, für die Gesellschaft, für die Staatengemeinschaft, für alle, und ganz besonders für diejenigen, die psychisch erkrankt sind. Dieses Buch soll ein Beitrag über notwendiges Wissen zum Thema Psyche sein, ein Beitrag zur Aufklärung und Vorbeugung, aber noch viel mehr ein Beitrag zum grundlegenden Verstehen der Landkarte vom weiten Land der Seele.

Psychiatrie bedeutet aus dem Altgriechischen übersetzt »Seelen-Heilkunde«. Sie ist ein medizinisches Fach, genauso wie zum Beispiel die Chirurgie. Für beide Spezialfächer ist ein erfolgreich abgeschlossenes Medizinstudium und eine daran anschließende gemeinsame praktische Ausbildung Voraussetzung für die weitere Spezialisierung.

Psychologie bedeutet »Seelen-Kunde«. Das allein sagt bereits aus, dass es dabei nicht primär um Erkrankung und Heilung geht. Sie ist kein medizinisches Fach und hat eine völlig andere Ausbildung.

Psychotherapie bedeutet »Seelen-Behandlung«. Sie ist ebenso kein medizinisches Spezialfach. Sie wird im Rahmen einer psychotherapeutischen Ausbildung erlernt. Weder Medizinstudium noch Psychologiestudium sind dafür Voraussetzung. Sehr viele Psychotherapeuten in Österreich waren vorher als Lehrer, Sozialarbeiter, Priester, Sozialpädagogen oder Krankenschwestern tätig. Allerdings gibt es auch viele Ärzte, darunter besonders viele Psychiater, und Psychologen, die zusätzlich eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert haben.

Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie – drei Begriffe, die permanent vermischt werden; drei Berufe mit unterschiedlichen Ausbildungen und Aufgabenstellungen.

Wie kann es sein – und wenn es so ist, darf es nicht so bleiben! – dass die Bevölkerung über Depression ganz wenig und über Schizophrenie gar nichts weiß? Was ist Schizophrenie? Antworten wie »Bei Vollmond wird es schlimmer« oder »Schizophrene wurden von Sigmund Freud mittels Psychoanalyse geheilt« sind keine Seltenheit. Besonders häufig ist auch von »gespaltener Persönlichkeit« die Rede. All das ist völlig falsch. Leider ist dieser Irrglaube auch an nicht-psychiatrischen Abteilungen mancher österreichischer Krankenhäuser verbreitet. Das heißt: Auch Ärzte und Pflegepersonal verschiedener medizinischer Bereiche haben keine Ahnung, welche Krankheit Schizophrenie ist. Und auch in der Literatur wird das Adjektiv »schizophren« als abwertend für etwas »Gespaltenes« verwendet – obwohl Schizophrenie mit Persönlichkeitsspaltung nichts zu tun hat.

Dieses Buch will auch dazu beitragen, dass nicht mehr von »schizophrenen Situationen«, »schizophrenen Konstellationen« und ähnlichem Unsinn gesprochen wird. Denn: Schizophrenie ist nicht eine Krankheit, sondern setzt sich aus mehreren zusammen. Es geht um die Gruppe der Schizophrenien; diese Erkrankungen sind durch massive Veränderungen im Wahrnehmen, Erleben, Denken und Fühlen gekennzeichnet. Und das zeitweilig oder andauernd. Was hat das mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun? Absolut nichts! Dieses Buch will sich auch dagegen wenden, dass man immer wieder Sätze wie »Das ist ja schizophren!« als Beschimpfung hört. Das ist genauso unpassend und falsch wie »Das ist ja diabetisch!«. Also: »Diabetisch« hat mit »diabolisch« nichts zu tun und »schizophren« nichts mit »gespalten«.

Kaum jemand weiß, dass psychische Erkrankungen, beispielsweise die Depression, ebenso häufig vorkommen wie Diabetes. Rund zehn Prozent aller Menschen werden innerhalb eines Jahres von Panikattacken überfallen. Diese sind neben Depression, aber auch Demenz und Alkoholismus inzwischen zu einer Volkskrankheit geworden – eine Tatsache, die kaum bekannt ist. Das ist weder für die Betroffenen, deren Angehörige und Freunde noch für die Gesellschaft gut. Denn dadurch wird die Vorbeugung und die frühe Behandlung massiv erschwert, die mögliche Genesung oder Heilung verzögert. Auch daher dieses Buch.

Aber auch deshalb, weil die Welt immer »ver-rückter« wird. Auch die »normale« Welt – was immer das ist. Denn oft sind nicht die »Verrückten« verrückt, sondern die »Normalen«. Die Gesellschaft will das nicht immer wahrnehmen, vieles wird verdrängt, manches auch verleugnet. Verleugnung ist mehr als eine Ausrede, Verleugnung ist nicht »schwindeln«, sie ist viel tiefer gehend. Sie ist die Ausblendung der Wahrnehmung. Für Sigmund Freud war sie einer der heftigsten Abwehrmechanismen. Keineswegs wird diese Abwehr der Realitätswahrnehmung nur von psychisch kranken Menschen angewendet. Im Gegenteil – sie ist ein gesellschaftliches Phänomen.

Ein trauriges Beispiel für Verleugnung als Realitätsverweigerung ist derzeit in Österreich – und in ganz Europa – zu bemerken. Wir erleben momentan eine Epoche der panischen Xenophobie: der Angst vor den Fremden und auch der Angst vor dem Fremden. Ein verhaltensbiologisch alter Mechanismus feiert gerade unfröhliche Urständ. Der 500 Millionen Menschen umfassende Einzugsraum Europa, ein völlig überalterter Subkontinent, wird mit Flüchtlingen konfrontiert. Eineinhalb Millionen Menschen, die in einen Lebensraum flüchten, in dem eine halbe Milliarde Menschen lebt, bringen Europa ins Wanken, an den Rand des Zerfalls. Das ist verrückt! Wirklichkeit und Wahrnehmung sind nicht völlig ident, haben jedoch eine hohe Korrelation. Wenn die Wahrnehmung von der Wirklichkeit völlig losgelöst abrückt – dann ist die Wahrnehmung verrückt geworden. In einem ver-rückten Europa. Allerdings ist diese Verrücktheit nicht die Folge einer psychischen Erkrankung, nicht einmal der Xenophobie, sondern anderer psychodynamischer Kräfte, also von Kräften, die auf die Psyche einwirken.

Und wieder ist man mit Verleugnung konfrontiert: In Syrien tobt seit fünf Jahren ein grauenhafter Krieg. Der heftigste seit dem Vietnamkrieg. Es gibt dort mittlerweile etwa eine halbe Million Tote, zwei Millionen Verwundete und mehr als zehn Millionen Flüchtlinge. Syrien, einer der Hochkulturräume des Vorderen Orients, war – was etwa die Alphabetisierung und die Akademikerquote betrifft – vor dem Krieg durchaus mit europäischen Ländern vergleichbar. Die westlichen Länder haben während der letzten Jahre mit lukrativen Waffengeschäften viel Geld verdient. Dies ist nicht eine Frage des Standpunktes, dies ist eine Tatsache. Die Menschen in Syrien haben – sofern sie nicht unmittelbar einer der bewaffneten Gruppen angehören – nur die Option, von Bomben in Stücke gerissen zu werden oder bei Feuerwechseln gekillt, die Frauen vergewaltigt, die Männer versklavt zu werden. An banalen Erkrankungen mangels medizinischer Versorgung oder am Hunger zu krepieren. Die syrische Bevölkerung ist von allen Seiten bedroht. Am meisten vom IS, dem sogenannten Islamischen Staat, der sowohl Elemente von religiösem Fanatismus als auch Grundstrukturen, die an SA und SS erinnern, vereint. Wer diese Tatsachen (ver)leugnet, blendet Wirklichkeit aus. Dies geschieht aber in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit.

Andererseits wird aber auch verleugnet, dass es sehr unterschiedliche Gruppen von Menschen gibt, die nach Europa drängen. Ein großer Teil kommt aus Syrien und aus Regionen, in denen die Schergen der Taliban ihr Unwesen treiben. Doch nicht alle: Etwa ein Drittel der Ankömmlinge hat nach den geltenden Konventionen kein Anrecht auf Asyl. In der öffentlichen Wahrnehmung werden derzeit verfolgte Familien aus syrischen Kriegsgebieten mit Glücksrittern aus allen möglichen Regionen vermischt. Der Verlust des Differenzierens ist, psychiatrisch gesehen, immer ein Rückfall in eine geringere Entwicklungsstufe. Wir nennen das bei einzelnen Menschen Regression – eine in aller Regel ungünstige Entwicklung.

»Das weite Land der Seele« ist ein Buch, das nicht wegen der europäischen Realitätswahrnehmungs-Verweigerung im Zusammenhang mit Flüchtlingskrisen geschrieben wurde. Mit diesem Beispiel soll aber aufgezeigt werden, was ein psychischer Abwehrmechanismus wie Verleugnung bedeutet. Das Ausweichen auf einen derart primitiven Reserve-Abwehrmechanismus bringt eine scheinbar erwachsene Gesellschaft in eine verrückte Situation. Die Verrücktheit großer Teile der Gesellschaft, die sich...

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