Die Musik und das Unaussprechliche

Die Musik und das Unaussprechliche

von: Vladimir Jankélévitch

Suhrkamp, 2016

ISBN: 9783518748183

Sprache: Deutsch

268 Seiten, Download: 10635 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die Musik und das Unaussprechliche



Erstes Kapitel


 

Die »Ethik« und die »Metaphysik« der Musik


 

Musik wirkt auf den Menschen, auf das Nervensystem des Menschen und sogar auf seine Lebensfunktionen. Liszt hatte für Singstimme und Klavier Die Macht der Musik geschrieben.[1] Ist dies nicht eine Huldigung, welche die Musik selbst ihrer eigenen Macht darbringt? Diese Macht, die Farben und Gedichte zuweilen indirekt besitzen, ist bei der Musik besonders unmittelbar, drastisch und indiskret: »Sie dringt in das Innere der Seele ein«, sagt Platon,[2] »und prägt sich ihr auf das Kräftigste ein«, καταδύεται εἰς τὸ ἐντὸς τῆς ψυχῆς ὅ τε ῥυδμὸς καὶ ἁρμονία, καὶ ἐρρωμενέστατα ἄπτεται αὐτῆς; und Schopenhauer gibt in diesem Punkt die Ansicht Platons wieder. Da die Musik machtvoll in unser Inneres eindringt, setzt sie sich fest und scheint dort ihren Wohnsitz zu nehmen: Der Mensch, den dieser Eindringling bewohnt und beherrscht, der seiner selbst beraubte Mensch ist nicht mehr er selbst; er ist ganz und gar vibrierende Saite und klingende Orgelpfeife, außer sich, erschauert er unter dem Geigenbogen oder den Fingern des Instrumentalisten; und wie Apollon die Brust der Pythia erfüllt, so bemächtigen sich die kraftvolle Stimme der Orgel und die sanften Klänge der Harfe des Zuhörers. Dieser irrationale und sogar nicht einzugestehende Vorgang vollzieht sich am Rande der Wahrheit: Daher hat sie mehr von Magie[3] als von beweisender Wissenschaft; wer uns nicht mit Gründen überzeugen, sondern mit Gesängen überwältigen will, setzt eine emotionale Kunst des Gefallens ins Werk, das heißt eine Kunst, den Zuhörer durch Suggestion zu unterjochen und durch die trügerische und gauklerische Macht der Melodie zu unterwerfen, ihn durch die Blendwerke der Harmonie und die Faszination der Rhythmen zu erschüttern: Deshalb wendet er sich nicht an den logistischen und leitenden Teil des Geistes, sondern an dessen gesamtes psychosomatisches Wesen; wenn der mathematische Diskurs ein Denken ist, das sich einem anderen Denken verständlich machen will, indem es ihm gegenüber transparent wird, ist die musikalische Modulation ein Akt, der ein Sein beeinflussen will; und unter »Einfluss« muss man wie in der Astrologie oder der Hexerei eine unzulässige Kausalität, gesetzwidrige Ränke und schwarze Praktiken verstehen. Der Gesetzgeber Solon ist ein Weiser, der bezaubernde Orpheus aber ein Magier. Eine Vokalise ist kein Grund, ein Duft ist kein Argument. Darum empört sich der ins vernünftige Alter gelangte Mann gegen dieses unberechtigte Streben nach Beifall; er will nicht mehr der Bezauberung nachgeben, das heißt, sich nicht mehr dem zuwenden, wozu ihn die Gesänge verleiten; die bezaubernde Verleitung wird für ihn zur Verführung und folglich zur Täuschung; der Erwachsene lehnt es ab, gefesselt zu werden, und er widersteht den Glaubensvorstellungen, die ihm die Auletik suggeriert. Die Frau, die allein durch den Duft ihrer Gegenwart, das heißt durch die magische Ausströmung ihres Seins, überwältigt, die Nacht, die uns behext, die Musik, die allein durch den Zauber eines Trillers oder eines Arpeggios unsere Zustimmung gewinnt, werden nun mit tiefem Misstrauen angesehen. Es ist eines vernünftigen Mannes unwürdig, bezaubert zu werden. Und da sich ein männlicher Wille angeblich aus Vernunftgründen entscheidet und niemals eine emotionale Vorliebe zugibt, gibt eine männliche Vernunft auch niemals zu, für Verführungen empfänglich zu sein. Ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, uns dem Taumeln der Nacht und den Versuchungen des bezaubernden Scheins zu entziehen? Die Musik, ein klingendes Phantasma, ist das haltloseste Scheinbild, und der Schein, der sein verblendetes Opfer ohne Beweiskraft oder einsichtigen Determinismus überwältigt, ist gewissermaßen die Objektivierung unserer Schwäche. Der ernüchterte, entmystifizierte Mann ist auf sich selbst böse, dass er früher einmal auf die trügerischen Mächte hereingefallen war; der nüchterne, aus seinem nächtlichen Rausch erwachte Mann errötet, weil er der schwarzen Kausalität nachgegeben hatte: Wenn es wieder Morgen ist, verleugnet er zusammen mit der Kunst zu gefallen die gefälligen Künste selbst! Das Vorurteil der starken und ernsthaften, prosaischen und positiven Geister gegenüber der Musik ist vielleicht aus dieser Ernüchterung entstanden … Angesichts der bedenklichen Macht, welche die Musik besitzt, sind mehrere Haltungen möglich. Unterscheiden wir hier den richtigen Gebrauch, das leidenschaftliche Ressentiment und die schlichte und einfache Ablehnung.

1. Orpheus oder die Sirenen?


Platon meint, man dürfe diese Macht, die Gaffer zu betören, nicht irgendeinem Flötenspieler überlassen; wie der Redner spiele der Musiker mit gefährlichen Verzauberungskünsten, und der Staat müsse im Rahmen einer gesunden Orthopädie den Gebrauch des musikalischen Einflusses reglementieren. Musikalisch sei nicht die Stimme der Sirenen, sondern der Gesang des Orpheus. Die Meeressirenen, die Feindinnen der Musen, haben nur ein Ziel: Sie wollen die Heimkehr des Odysseus ablenken, in die Irre führen und hinauszögern. Mit anderen Worten: Sie lassen die Dialektik des geraden Weges entgleisen, die unseren Geist zur Pflicht und zur Wahrheit zurückführt. So kommt es, dass bei Michail Lermontow die bezaubernden Lieder der heimtückischen Tamara den Reisenden in den Tod führen. Was kann man, um nicht verführt zu werden, anderes tun, als sich bei jeder Melodie taub zu stellen und zusammen mit der Versuchung die Empfindung selbst zu beseitigen? Tatsächlich machen uns die Komponisten, welche die Russalkas und die Sirenen des Nichts singen lassen – so etwa Debussy, Balakirew oder Rimski-Korsakow –, eher die Stimme des Orpheus vernehmbar: Denn wahre Musik humanisiert und zivilisiert. Musik ist nicht nur eine fesselnde und verfängliche List, um gewaltlos zu unterwerfen, um durch ihre bezaubernde Wirkung gefangen zu nehmen, sie ist auch noch etwas Sanftes, das besänftigt: Da sie selbst sanft ist, macht sie jene sanfter, die sie hören, denn in jedem von uns befriedet sie die Ungeheuer des Instinkts und zähmt die Raubtiere der Leidenschaft. Franz Liszt zeigt uns im Vorwort zu seiner Sinfonischen Dichtung Orpheus den »Vater der Gesänge«, ἀοιδᾶν πατήρ,[4] wie Pindar sagt, der die Steine erweicht und die wilden Tiere verzückt, die Vögel und die Wasserfälle verstummen lässt und der ganzen Natur den übernatürlichen Segen der Kunst bringt: Denn dies ist für Liszt und den Theosophen Fabre d'Olivet[5] die Botschaft einer orphischen Kultur. Wie der Wagenführer des Phaidros das störrische Ross zähmt, um es gehorsam (εὐπειθής)[6] zu machen, so spannt Orpheus Löwen vor seinen Pflug, damit sie das Brachland bearbeiten, und die Panther vor die Kutschen, damit sie die Familien spazieren fahren; er kanalisiert die ungezügelten Wildbäche, und die gehorsam gewordenen Bäche drehen die Mühlräder. Alle Wesen der Schöpfung scharen sich aufmerksam um den Dirigenten der Löwen; die Nachtigallen halten ihre Arpeggien und die Wasserfälle ihr Geplätscher zurück. Jener, der die wütenden Fluten unter dem Schiff der Argonauten beruhigt, den fürchterlichen Drachen der Kolchis einschläfert, die Tiere, die Pflanzen und selbst den unerbittlichen Aides rührt, jener könnte wie Jesus, der einen anderen Sturm bezwang, sagen: πραός εἰμι, »Ich bin sanftmütig«;[7] der inspirierte Sänger zähmt die kimmerischen Ungeheuer nicht mit der Peitsche, sondern überwältigt sie mit der Lyra; seine persönliche Waffe ist nicht die Keule, sondern ein Musikinstrument; Michelet würde gewiss sagen, das Werk des Orpheus ergänze die gute Arbeit des Herkules, sie seien alle beide die Helden der Kultur und der Übernatur: Denn wie der Athlet gewaltsam kolonisiert und urbar macht, so humanisiert der Zauberer das Unmenschliche durch die harmonische und melodiöse Anmut der Kunst; jener rottet das Böse aus, während dieser, der Architekt und Kitharöde, es zum Menschlichen bekehrt. In der Bible de l'humanité [»Bibel der Menschheit«][8] kommentiert Michelet in großartigen Worten den Widerstreit der Lyra und der Flöte, von dem Aristoteles in der Politik spricht: Der dionysischen Flöte, dem Instrument des Satyrs Marsyas, der Flöte der Orgien und der unwürdigen Trinkgelage stellen sich die Phorminx des Orpheus und die Kithara Apollons entgegen; und während die rattenfängerische und Schlangen beschwörende Flöte das verdächtige, schmachtende und schamlose Instrument der Thyrsosträger ist, verkörpert der dem Barbarischen feindliche Orpheus die Kultur der Lyra. Die Geburt dieser wahrhaft apollinischen Lyra erzählt uns Albert Roussel in einer schlichten Oper; dem Lichtgott, dem Musenführer, widmet Strawinsky Apollon Musagète [»Apollon, Führer der Musen«]; zu Ehren desjenigen, der den abscheulichen Drachen durchbohrte, harmonisiert Fauré den Hymne à Apollon [»Hymnus an Apollon«] … Der weichliche Zitherspieler, den Kierkegaard, den Phaidros des Gastmahls anführend, in Furcht und Zittern verunglimpft, ist kein wahrer Orpheus![9] Orpheus stirbt als Opfer der thrakischen Bacchantinnen: Die trunkenen Mänaden, das heißt die Furien der Leidenschaften, zerreißen ihn; Orpheus, der Feind des bacchischen und Flöte spielenden Gottes,...

Kategorien

Service

Info/Kontakt