Puer robustus - Eine Philosophie des Störenfrieds

Puer robustus - Eine Philosophie des Störenfrieds

von: Dieter Thomä

Suhrkamp, 2016

ISBN: 9783518748268

Sprache: Deutsch

738 Seiten, Download: 6080 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Puer robustus - Eine Philosophie des Störenfrieds



Einleitung


 

 

Der puer robustus schlägt zu, eckt an, begehrt auf. Er spielt nicht mit, gibt nicht klein bei, handelt auf eigene Faust, verstößt gegen Regeln. Er ist unartig, unverschämt, unbequem, unbehaust, unbekümmert. Er wird gefürchtet, ausgegrenzt, abgestraft, aber auch bewundert und gefeiert. Der puer robustus – der kräftige Knabe, der starke Kerl – ist ein Störenfried.

Der Störenfried stört den Frieden. Er ist also nicht gerne gesehen – es sei denn, er wendete sich gegen einen faulen, falschen Frieden. Dann dankt man ihm für den Bruch mit der bleiernen Zeit. Mit seinem abstoßend-anziehenden Gesicht passt er auf eines jener ›Wackelbilder‹, mit denen ich als Kind gespielt habe: Wenn man sie nur ein bisschen zur Seite kippte, verwandelte sich die grimmige in eine freundliche Miene – oder umgekehrt. So kennt man den puer robustus als Unhold oder Held, Schreck- oder Wunschbild, Angstgegner oder Leitfigur.

Besser gesagt: Man kannte ihn. Heute ist er vergessen, doch über drei Jahrhunderte hinweg hat er die Gemüter erhitzt. Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Victor Hugo, Alexis de Tocqueville, Karl Marx und viele andere haben ihm ihre Aufmerksamkeit geschenkt und sich über der Frage entzweit, was von ihm zu halten sei. Dem puer robustus ist ein neuer Auftritt auf der Bühne der politischen Philosophie zu gönnen. Er hat das Zeug dazu, eingespielte Denk- und Handlungsmuster zu verschieben und die ganze Szene zu verwandeln. Käme er nicht so burschikos daher, könnte man ihn zu den grauen Eminenzen der Ideengeschichte zählen.

Der Streit, der sich am puer robustus entzündet hat, betrifft nicht irgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie: die Frage, wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpassen oder quertreiben. Zum Thema der Ordnung gehört notwendigerweise das der Störung, also auch die Rolle von Außenseitern und Randfiguren, Querulanten und Quertreibern. Die politischen Aufbrüche und Umbrüche der Moderne stehen, so meine ich, für Krisen, die nicht vom Zentrum der Macht, sondern vom Rand her zu verstehen sind. Entsprechend kann auch nur dort der Umgang mit diesen Krisen gelernt und ihre Lösung gesucht werden.

Die Initialzündung für das intellektuelle Feuerwerk, das mit dem puer robustus entfacht worden ist, erfolgte im 17. Jahrhundert. Thomas Hobbes verhalf ihm zum ersten Auftritt auf der Bühne der Neuzeit. 1647 erschien die zweite Auflage von De cive (Vom Bürger), Hobbes ergänzte sie durch ein Vorwort, in dem es hieß, der »vir malus« sei fast dasselbe wie ein »puer robustus, vel vir animo puerili«. Die zu Hobbes' Lebzeiten angefertigte englische Version lautete: »A wicked man is almost the same thing with a childe growne strong and sturdy, or a man of a childish disposition.« Oder auf Deutsch: »Ein böser Mann [gleicht] so ziemlich einem kräftigen Knaben oder einem Manne mit kindischem Sinn.« Dieser puer robustus stand für die ultimative Bedrohung der staatlichen Ordnung, Hobbes hielt ihn für den bösen Störenfried schlechthin.

Den vorerst letzten auffälligen Auftritt hatte der puer robustus in China, während einer kurzen Phase politischer Liberalisierung im Frühjahr 1957. »Lasst hundert Blumen blühen« – dazu hatte Mao zuvor aufgerufen. Die Studenten der Universität Peking nahmen ihn beim Wort, gründeten eine »Hundert-Blumen-Gesellschaft« und taten auf Wandzeitungen ihre Meinung kund. Tan Tianrong, einer der studentischen Wortführer, ließ seine Botschaft vom 20. Mai 1957 mit einem Heraklit-Zitat beginnen, wonach die »Regierung der Stadt an bartlose junge Männer übergeben werden« solle, und unterschrieb sie mit der lateinischen Formel »Puer robustus sed malitiosus«. Dieser puer trat – ganz anders als bei Hobbes – als demokratischer Aktivist auf: als guter Störenfried.

Hierhin und dorthin hat es den puer robustus verschlagen, er gelangt vom London des 17. ins Peking des 20. Jahrhunderts – und überdies an zahlreiche andere Orte. Niemand hat der verwickelten, verblüffenden Geschichte dieses enfant terrible bislang Beachtung geschenkt und ihren Ertrag für die Theorie von Ordnung und Störung geerntet. Mein Buch ist der Wiederentdeckung, Vergegenwärtigung und Beurteilung des puer robustus gewidmet.1

Man kann das Bauprinzip dieses Buches mit einer Drehbühne vergleichen. Mit jedem Akt zeigen sich ein neues Bühnenbild und ein anderer puer robustus. Er ändert sich im Sauseschritt, er ist Dickschädel oder Leichtfuß, Barbar oder Narr, Trittbrettfahrer oder Künstler, Räuber oder Retter, Siegfried oder Ödipus. Trauergesänge und Jubelstürme brausen um ihn herum auf. Natürlich geht es in diesem Buch um eine Geschichte nach Hobbes, also um die langwierige, ergiebige Auseinandersetzung mit ihm, die von Rousseau bis Leo Strauss reicht – und darüber hinaus. Aber es ist nicht nur schmückendes Beiwerk, dass zwei der ungewöhnlichsten Helden der französischen Literatur, Rameaus Neffe und der Glöckner von Notre Dame, als Verkörperungen des puer robustus ins Spiel kommen. Neben sie treten die Pariser Straßenjungen, die europäischen Proletarier, die kalifornischen Pioniere des 19. Jahrhunderts, die Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die deutschen Halbstarken, die italienischen Kommunisten, die bereits erwähnten chinesischen Studenten der 1950er Jahre und viele andere mehr. Die Denker, die dem puer robustus die Ehre erweisen, setzen ihn einem wilden Spiel von Konflikten aus. Es ist ein Tanz ums Subjekt oder um mehrere Subjekte der Geschichte, der von ihnen aufgeführt wird.

Zu diesem Tanz passt es nicht, einfach einen Lobgesang oder Abgesang auf den Störenfried anzustimmen. Vielleicht wünscht man sich, nur den Siegeszug von Freiheitshelden zu schildern oder umgekehrt ein für alle Mal mit Schmarotzern, Querulanten und Provokateuren aufzuräumen. Solche sauberen Lösungen und Trennungen verbieten sich angesichts des widersprüchlichen, widerspenstigen puer robustus. Er lässt sich nicht in einen Bildungsroman hineinzwingen, in dem sich »das Subjekt« langsam, aber sicher »die Hörner abläuft« (Hegel, WA 14, 220).

Wenn dieses Buch lebendig wäre, dann schlügen wohl zwei Herzen in seiner Brust. Es ist eine philosophische Abhandlung – und auch so etwas wie eine Abenteuergeschichte. Zugegeben: Ich konkurriere nicht mit den Reportern, die sich in der Hip-Hop-Szene, bei den Testamentsverwaltern von Occupy Wall Street, bei Revoluzzern oder Randalierern herumtreiben. Aber ich wiege mich in dem Glauben, dass es auch geistige Abenteuer gibt, und stürze mich in sie. Man könnte dieses Buch probeweise so charakterisieren, dass darin ein Bogen von Hobbes bis zur Gegenwart geschlagen wird, doch das wäre schon schief. Ein Bogen ist eine ununterbrochene, ungebrochene Linie. Wer sie durchläuft, kennt seinen Kurs. Wer dagegen in einen »Abenteuerroman« hineingerät, verfügt über diese Sicherheit nicht. Als literarische Gattung handelt er von einem Helden, der keinen festen »Platz […] im Leben einnimmt«, und zeigt, »wie aus einem Menschen ein anderer wird« (Michail Bachtin).2

Mein Held – der puer robustus – ist unterwegs. Er weiß nicht, wo er morgen sein wird und wer er morgen sein wird. Statt seine Erfahrungen wie Perlen auf eine Schnur aufzufädeln, bis alles fest sitzt und passt, schlägt er sich durch und hofft, dass alles am Ende gut ausgeht. Er kann nur zugeben: »Ich kenne mich nicht aus.« Der Abenteuerroman wird zu Unrecht als eine Gattung angesehen, die anachronistische Züge hat. Er ist die Gattung einer Welt – unserer Welt –, in der man aufgerufen ist, »ins Chaos hinab[zu]steigen, und sich dort wohl[zu]fühlen« (Ludwig Wittgenstein).3 Dazu gehört eine Auffassung von Geschichte, wonach einzelne Situationen einen Überschuss, ein Überraschungsmoment behalten und sich der Einordnung widersetzen. »Das Abenteuer ist die Exklave des Lebenszusammenhanges« (Georg Simmel).4 Das Unvollendete wird Ereignis. Deshalb gehört derjenige, der eine Abenteuergeschichte erzählt, auch zu den Verehrern des Aphorismus. »Wir, die wir nicht aphoristisch denken und sprechen, sondern aphoristisch leben, wir, die wir aphorismenoi und segregati (ausgesondert und abgetrennt) im Leben stehen« (Søren Kierkegaard),5 lernen mit dem puer robustus einen neuen Nachbarn kennen.

Hinter der Neigung zum Abenteuerroman steckt ein Misstrauen gegen Theorie. Ich glaube nicht, dass man in der politischen Philosophie gut daran tut, die Frage nach Ordnung und Störung am Reißbrett zu bearbeiten. Es genügt nicht, Argumente zu prüfen und Regeln aufzustellen, es genügt auch nicht, Fälle zu simulieren oder Gedankenexperimente durchzuführen, mit denen sich solche Regeln anwenden und erproben lassen. In der Annahme, dass man sein Thema auf diese Weise in den Griff bekommen...

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