Die Kirschendiebin - Eine Erzählung

Die Kirschendiebin - Eine Erzählung

von: Helga Schütz

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841212900

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 1927 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Kirschendiebin - Eine Erzählung



2
Ich, Melina


Wie nennst du mich?

Habe ich einen Namen. Heiße ich wie die Zeit, die es strenggenommen gar nicht gibt. Bin ich der Augenblick zwischen Hell und Dunkel. Siebenundsiebzigmal bin ich mit der Erde um die Sonne gezogen. In einer Wiege, in Holzschuhen, barfuß, in Igelitsandalen, in Schuhen vom VEB Rotes Banner, in High Heels aus Wien oder jetzt in Turnschuhen mit Einlagen auf Orthopädenrezept.

Neuerdings, wenn ich eine volle Runde gedreht habe, an einem Tag im Oktober, während ich unterm Baum das letzte Fallobst auflese, die Boskop, die aus der hohen Krone gefallen sind, denke ich: Kann das sein? Ist das wahr? Schon wieder Oktober. Ich schau auf die Uhr. Wie schnell wir sind, die Erde und ich. Und ich denke an meine Mutter. Sie hat mich auf die Welt gebracht. Wahrscheinlich unten in der dunklen Kammer mit dem kleinen Fenster zum Berg, in der später Kostgänger August die Kriegsjahre bis zur Flucht mit uns lebte.

Ich bin unehelich auf die Welt gekommen. Meinen Vater kenne ich nicht, aber ich denke manchmal an ihn, nicht an einen Menschen, sondern an ein Schicksal. Er war nicht allein nur mein Vater, denn er hatte sich in einem Nachbarstädtchen ziemlich zur gleichen Zeit ein zweites Mal zum Vater gemacht, dort sogar amtlich, sogar aktenkundig. Während er für mich nur ein Sprichwort war. In unserer Stube wurden manchmal Andeutungen gemacht, sie hatten hohe Bedeutung, aber keine Gestalt.

Er lebte unter anderen Leuten, in anderen Kreisen, in einem Haus, das nicht Stube und Kammer hatte, sondern Erker und Salon.

Im mütterlichen Nest wohnten Waschfrauen und Waldarbeiter, sie lebten zusammen mit stolzestem Kleinvieh, fleißigen Bienen, dazu einer hochtalentierten Kuh, die Furchen ziehen, Heufuder deichseln, Milch liefern und kalben konnte. Sie ging selbständig auf die Weide, wenn sie an die Krippe wollte, steckte sie ihren mit Weinlaub umkränzten Kopf durch das Stubenfenster. Dann machte ihr einer die Stalltür auf.

Die Mütterlichen hatten mich erst einmal ohne Urkunde als neues Lebewesen aufgenommen und irgendwie unter- und durchgebracht. Meine Wiege passte in die Stubenecke. Im anderen Winkel stand der neue, mein Dasein behütende Dauerbrandofen, ein Koksfresser einerseits, aber andererseits ein Wunder, ein Gerät, das den Zwischendampf auffing und den Abdampf nutzte. Die Alten knieten staunend davor, eine Innovation. Sie beobachteten, wie sich die Klappen langsam bewegten, auf und zu. Alles von selber. So musste es sein. Neues Leben und Wärme. Ich spürte Geselligkeit, wie in Bethlehems Stall, Kommen und Gehen. Wenn einer die Vordertür aufmachte, stürmte der Wind ins Haus, er fegte Schnee durch den Söller und tobte aus der Hintertür wieder hinaus.

Ich wusste, dass der Wind hinter dem Haus direkt in die Hölle fuhr.

Ich hörte das Ticken der Wanduhr über der Wiege und die Stimmen. Geld nehmen wir nicht. Die Schweinchen quiekten, denn bei Dauerfrost wurden die Jungtiere in der Nähe des Ofens einquartiert, die Glucke saß hinter dem Rohr.

Der Ofen war Unservater.

Den Winter musste man sich mit Schießgewehr und verschneiter Soldatenmütze vorstellen, breit und grimmig, so marschierte er durch die Welt. Die Leute flüsterten, der Drahtfunk meldete in der Nacht: Es sei aber noch viel schlimmer. Großmutter nähte schwarze Trägerschürzen, sie nähte mit schwarzem Garn, Schnittmuster auf schwarzem Stoff, für unter der Woche, und die schwarzseidene Suntichschürze, schwarze Bänder zum Schleifenbinden. Jegliche Väter starben in Stalingrad, so auch der doppelte von uns.

Sie lagen dort, bekannt und unbekannt, ganz tief unterm Schnee.

Man konnte sich an den Frieden vor dem Krieg vielleicht noch erinnern. Vielleicht an Liebe. Es konnte geschehen, dass ein Kerl, also mein Vater, zwei Mädchen liebte, zwei Frauen. Dass zwei in einen verliebt waren. Er wird wohl ein charmanter Lümmel gewesen sein. Mutter war achtzehn Jahre alt. Mit dreizehn war sie aus dem Elternnest fortgegangen. In Stellung. Als Schlesierin hatte man es nicht schwer, eine Arbeit zu finden. In den Zeitungen stand: Schlesische Mamsell gesucht. So ist sie rumgekommen, in der Nachbarstadt Schönau, in Berlin, in Leipzig, in Radebeul. Sie hat bald ihre jüngeren Schwestern nachgeholt. Hilde und Lotte, weil sie auch fleißig waren. Nimmermüde und goldene Hände. Mit der Zeit hatte die Großmutter drei Kleinkinder aufzuziehen. Ich war die Älteste, die beiden Jüngeren hatten einen leibhaftigen Vater, aber auch der blieb uns nicht lange, auch der blieb in Russland, vermisst, ein Mann, der einmal als Knecht Ruprecht von drauß’ vom Walde in die Stube hereingepoltert war. Ich hatte seine Ohren unter der Ruprechtlarve, vor allem aber seinen weißen Daumen erkannt. Dick mit Mull verbunden, ein Ungeschick mit der Säge. So geisterte Knecht Ruprecht, ich könnte auch sagen: mein schlesischer Onkel, in der Taiga, in Sibiriens großen stalinschen Waldschutzgürteln, umher.

Wir aber, die Kinder und die Alten, zogen im Treck vor den anrückenden Russen Richtung Westen, wir kehrten noch einmal um, weil die Kuh und die Hühner versorgt und die Felder bestellt werden mussten. Und weil in unserem schlauen Ofen noch Glut war. Jedoch die Alliierten hatten anders entschieden, also ließen wir beim erneuten Aufbruch aber-auch-alles-stehen-und-liegen. Den Hut mit dem Ziegenbart am Haken hinter der Tür, daneben den Lederschurz, unterm Schemel die Filzschuhe, als wären sie noch warm. Nur den Ofen hatte der Großvater kalt gemacht, Asche, das Feuer war aus. Das war unser letzter eiserner Wille.

Von meinem Vater habe ich kein Bild, ich habe seinen Namen nie gehört. Ein einziges Mal hat meine Mutter eine Andeutung gemacht, nicht über ihn als Vatermenschen, sondern über seine Herkunft, sozial, dass es eine andere Welt war mit Bildung und Geld. Sie hatte auch angedeutet, dass meine Großmutter, also ihre Mutter, einmal mit mir an der Hand bis zur Schwelle dieser Welt vorgedrungen war, um ein Kuvert mit Geld zurückzuweisen. Meine Großmutter und ich. Das wusste ich bereits, das musste mir meine Mutter nicht mit Worten erzählen, denn das trug ich wie eine angeborne Erbschaft in mir. Es fing damit an, dass wir an eine schöne große Haustür klopften, dass uns aufgemacht ward und dass wir stocksteif auf einer Schwelle stehen geblieben waren, dass wir nicht reinkommen, nichts berühren, nichts hören und sehen wollten.

Angeboren.

Die selbstgewisse Großmutter, meine Trauer, das Versäumnis. Die Schwelle, die ich gerne überschritten hätte. Der Heimweg.

Wir hatten unser Nest unter dem Strohdach zu Fuß und mit dem Autobus nach einer Tagereise wieder erreicht.

Ich höre meine Großmutter singen. Sie hatte, mit mir an der Hand, den langen Weg bis zu unserer Wiese, wo die kluge Kuh schon auf uns wartete, gesungen.

Ich hatte eine gern singende Großmutter. Aber lesen und schreiben konnte sie nicht.

Dieser Vater war im Stalingradwinter ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Vielleicht hat er, als für ihn alles vorbei war, an mich gedacht, vielleicht hat er uns alle in seiner letzten Stunde noch einmal gesehen. Sein schönes Elternhaus, die offene Tür, die Stufen. Salve. Pferde, die Katzbach. Siegfried aus unserem Volkslesebuch sitzt auf der Brückenmauer, zwei Mütter, jung und schön, rechts und links in seinen Armen, beide freundlich, verwegen, sogar ein wenig frech oder frivol, zärtlich froh. Zwei Kinder spielen unten am Ufer, ein kleines blondes Mädchen, ein gleich blonder kleiner Junge. Sonne. Sonntagsglocken, Eintracht, wie das Leben sie nicht bieten kann. Liebe für immer, das ist der Tod.

Die Erde trägt uns. Im Schlaf, im Traum. Wir sind unterwegs auf einem Rundweg um die Sonne.

Ein Klingelzeichen. Die Briefträgerin an der Pforte. Sie hatte das gelbe Auto an der Hauptstraße abgestellt, bewundernswert, wie sie den ganzen Plunder kreuz und quer verteilte. Die Frau arbeitete schon lange hier im Bezirk, ich habe ihren Namen gekannt, aber leider wieder vergessen.

Gehts gut?

Geht so.

Ein Paket für die Nachbarn, und das ist für Sie.

Sie schob den Karton hinter die Tür und reichte mir eine Ansichtskarte von Gisela. So eine Spaßkarte mit dem wattierten Marx-und-Engels-Denkmal.

Zur Erinnerung an uns. Schade, dass Du beim Aufarbeiten nicht mitmachst. Die Erde trug uns. Wir waren unterwegs. Am liebsten schwärmten wir nachts. Am Himmel war immer was zum Staunen. Sternschnuppen, Antimaterie.

Gruß, Gisela.

Ach Gisela, es tut mir leid, dass ich grade Dich enttäuscht habe mit meinem Nein. Es geht ja auch um die Kröten, die Dir durch meine Sturheit entgehen. So eine Aufzeichnung für die Archive hätte Dir sicher ein bisschen was gebracht. Den Fluchtweg haben wir seinerzeit ziemlich genau zu Protokoll gegeben. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Wie damals meine innere Verfassung war, dafür finde ich überhaupt keine Worte, und wie es mir später ergangen ist, da kann ich nur sagen, dass ich danach die Teilung des Landes erst recht empfunden habe, mir hat die Westwelt vorher nicht so brutal gefehlt wie danach der Osten. Ihr alle habt mir gefehlt. Klar hätte ich das laut sagen können, aber die meisten meiner Bekannten hätten mich für verrückt erklärt. Wir hatten nach kurzer Zeit ein Auto, Telefon, Kopiergerät, um die Ecke eine Pizzeria. Ich gründete einen Kindergarten bzw. eine Kita.

An meinem Buch über den Wald hätte ich mindestens noch drei Jahre arbeiten müssen, aber ich hatte einen guten Vertrag mit einem festen Termin. Dafür war ich dankbar und...

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