Theo Boone und der große Betrug

Theo Boone und der große Betrug

von: John Grisham

Heyne, 2017

ISBN: 9783641196530

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1183 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Theo Boone und der große Betrug



Eins

Theodore Boone wachte schlecht gelaunt auf. Tatsächlich war er schon mit schlechter Laune ins Bett gegangen, und die hatte sich über Nacht nicht gebessert. Während die ersten Strahlen der Morgensonne sein Zimmer erhellten, starrte er an die Decke und überlegte, wie er sich vor der ganzen Woche drücken konnte. Normalerweise mochte er die Schule – seine Freunde, die Lehrer, die meisten Fächer, den Debattierclub –, aber manchmal wollte er einfach nur im Bett bleiben. Heute war so ein Tag, vor ihm lag nämlich die schlimmste Woche des Jahres. Ab morgen, Dienstag, würden er und die anderen Achtklässler bis zum Freitag an ihre Schulbänke gefesselt eine ekelhafte Prüfung nach der anderen absolvieren.

Judge spürte, dass etwas nicht stimmte, und hatte sich irgendwann von seinem Platz neben dem Bett auf die Bettdecke verfrachtet. Mrs. Boone hielt nichts davon, dass der Hund bei Theo im Bett schlief, aber sie las unten in aller Ruhe die Morgenzeitung und bekam bestimmt nichts mit. Oder vielleicht doch? Manchmal entdeckte sie ein Hundehaar an der Bettwäsche und fragte Theo, ob Judge bei ihm im Bett schlief. Meistens sagte Theo Ja, ließ diesem Geständnis aber gleich die Frage »Was soll ich machen?« folgen. Er konnte den Hund schlecht im Auge behalten, wenn er, Theo, fest schlief. Und ganz ehrlich, eigentlich wollte Theo den Hund gar nicht bei sich im Bett haben. Judge hatte die nervige Angewohnheit, sich mitten im Bett auszustrecken, sodass Theo bloß die Bettkante blieb, wo er oft nur knapp einer schmerzhaften Landung auf dem Boden entging. Nein, Theo war es lieber, wenn Judge in seinem kleinen Hundebett auf dem Boden schlief.

Tatsächlich tat Judge aber, was er wollte, und zwar nicht nur in Theos Zimmer, sondern in jedem Raum im Haus.

An Tagen wie heute beneidete Theo seinen Hund. Was für ein Leben: keine Schule, keine Hausaufgaben, keine Prüfungen, kein Druck. Er aß, wann ihm danach war, döste den Großteil des Tages in der Kanzlei und wirkte meist völlig unbekümmert. Die Boones sorgten für ihn, und er tat, was er wollte.

Widerwillig krabbelte Theo aus dem Bett, tätschelte seinem Hund den Kopf, wünschte ihm – allerdings nicht mit dem üblichen Elan – einen guten Morgen und schleppte sich ins Bad. In der vergangenen Woche hatte der Kieferorthopäde seine Zahnspange nachgestellt, und Theo tat immer noch der Kiefer weh. Er grinste sich selbst im Spiegel an, musterte das verhasste Metall in seinem Mund und versuchte, sich damit aufzumuntern, dass die Spange vielleicht noch rechtzeitig vor der neunten Klasse herauskommen würde.

Er stellte sich unter die Dusche und dachte über die neunte Klasse nach. Highschool. Er war einfach noch nicht bereit dafür. Er war dreizehn und fühlte sich an der Strattenburg Middleschool sehr wohl, wo er seine Lehrer mochte, zumindest die meisten, den Debattierclub leitete, es fast schon bis zum Eagle Scout gebracht hatte und überhaupt eine Führungspersönlichkeit war. Auf jeden Fall war er der einzige Nachwuchsanwalt unter den Schülern und seines Wissens der Einzige in seinem Alter, der davon träumte, entweder ein großer Prozessanwalt oder ein brillanter junger Richter zu werden. Er konnte sich nicht entscheiden. In der neunten Klasse würde er wieder einer der »Kleinen« sein und ganz unten anfangen müssen. Vor den Kleinen hatte keiner Respekt. Die Middleschool war in Ordnung, weil Theo seinen Platz gefunden hatte, einen Platz, den es in wenigen Monaten nicht mehr geben würde. Highschool bedeutete Football, Basketball, Cheerleader, Autofahren, Mädchen, Bands, Theater, große Klassen, Klamotten, Rasieren – eben Erwachsenwerden. So weit war er einfach noch nicht. Die meisten seiner Freunde wollten so schnell wie möglich erwachsen werden, aber Theo war da anders.

Er stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Judge beobachtete ihn, wobei er bestimmt nur an sein Frühstück dachte. Der Hund hatte es gut.

Während sich Theo die Zähne oder vielmehr die Spange putzte, musste er sich eingestehen, dass sich sein Leben veränderte. Die Highschool tauchte langsam am Horizont auf. Ein unübersehbares und höchst unangenehmes Alarmsignal waren die zentral abgestimmten Prüfungen, eine furchtbare Idee, die sich irgendwelche Experten weit weg hatten einfallen lassen. Diese Leute hatten beschlossen, dass alle Achtklässler im Bundesstaat unbedingt gleichzeitig dieselben Prüfungen schreiben mussten, damit die Leiter der Strattenburg Middleschool und aller anderen Schulen wussten, wo sie standen. Das war der eine Grund für die Prüfungen. Zumindest in Strattenburg gab es noch einen weiteren, da so die Achtklässler für die Highschool in drei Gruppen eingeteilt wurden: Die klügsten Köpfe landeten direkt im besonders anspruchsvollen Honors-Programm. Schwächere Schüler mussten in Klassen, die es deutlich langsamer angingen. Und die Durchschnittsjugendlichen wurden ganz normal behandelt und durften einfach so die Highschool besuchen.

Und schließlich sollte durch die Prüfungen auch die Leistung der Lehrer bewertet werden. Wenn die Klasse eines Lehrers besonders gut abschnitt, erhielt er einen Bonus. Und wenn die Klasse schlecht abschnitt, drohten dem Lehrer alle möglichen unangenehmen Konsequenzen. Bis hin zur Kündigung.

Selbstverständlich war der gesamte Prozess der Prüfung, Benotung, Einteilung und Lehrerbewertung mittlerweile höchst umstritten. Die Schüler hassten ihn. Die meisten Lehrer mochten ihn nicht. Fast alle Eltern wollten ihre Kinder in eine Honors-Klasse schicken, und fast alle wurden enttäuscht. Diejenigen, deren Kinder in den »langsamen Klassen« gelandet waren, waren enttäuscht und geradezu beschämt.

Das Thema war heiß umstritten. Mrs. Boone war strikt gegen die Prüfungen, daher war Mr. Boone natürlich dafür. Die Familie redete seit Wochen darüber – beim Abendessen und im Auto, ja sogar beim Fernsehen. Seit einem Monat bereiteten die Lehrer ihre Schüler auf die Prüfungen vor. »Prüfungsvorbereitung« war das Wort der Stunde und bedeutete, dass es keinerlei kreativen Unterricht mehr gab und die Stunden nicht den geringsten Spaß machten.

Theo hatte die Prüfungen schon jetzt gründlich satt, dabei hatten sie noch nicht einmal angefangen.

Er zog sich an, schnappte sich seinen Rucksack und ging nach unten, dicht gefolgt von Judge. Er begrüßte seine Mutter, die es sich wie immer im Bademantel auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, ihren Kaffee schlürfte und die Zeitung las. Mr. Boone ging immer schon früh aus dem Haus und traf sich mit seinen Freunden im immer gleichen Diner in der Innenstadt, um sich bei einem Kaffee über die neuesten Gerüchte auszutauschen.

Theo machte zwei Teller mit Cheerios fertig und stellte einen davon für Judge auf den Boden. Sie aßen fast immer schweigend, aber manchmal gesellte sich Mrs. Boone zu einem Schwätzchen zu ihnen. Normalerweise, wenn sie den Verdacht hegte, dass etwas nicht stimmte. Heute kam sie in die Küche, goss sich Kaffee nach und setzte sich ihrem Sohn gegenüber.

»Was ist für heute geplant?«, fragte sie.

»Noch mehr Stoff wiederholen, noch mehr Prüfungsaufgaben üben.«

»Bist du nervös?«

»Eigentlich nicht. Ich habe nur jetzt schon die Nase voll. Ich bin in diesen Prüfungen nicht gut, deswegen mag ich sie nicht.«

Das stimmte. Theo hatte fast nur Einsen, vielleicht mal eine Zwei in Naturwissenschaften, aber bei diesen zentral vorgegebenen Prüfungen hatte er noch nie gut abgeschnitten.

»Was, wenn ich es nicht ins Honors-Programm schaffe?«

»Teddy, du wirst dich in der Highschool, am College und im Jurastudium, falls du dich dafür entscheidest, hervorragend schlagen. Mach dir wegen der neunten Klasse keinen Kopf.«

»Danke, Mom.«

Die Worte seiner Mutter taten gut, auch wenn sie ihn »Teddy« genannt hatte, ein Spitzname, den glücklicherweise nur sie verwendete und auch nur, wenn sie allein waren.

Theo hatte Freunde, deren Eltern wegen der Prüfungen am Rad drehten und schlaflose Nächte hatten. Sie waren fest davon überzeugt, dass ihre Kinder keine Chance im Leben haben würden, wenn sie es nicht ins Honors-Programm schafften.

Das kam Theo albern vor.

»Du weißt wahrscheinlich, dass es landesweit Proteste gegen diese Prüfungen gibt«, sagte seine Mutter. »Sie werden immer unbeliebter, und offenbar wird immer wieder geschummelt.«

»Wie kann man bei einer zentral vorgegebenen einheitlichen Prüfung schummeln?«

»Das weiß ich auch nicht genau, aber ich habe von einigen Fällen gelesen. In einem Bezirk haben die Lehrer die Antworten nachträglich geändert. Kaum zu glauben, was?«

»Warum tut ein Lehrer so was?«

»In dem Fall war die Schule nicht besonders gut und hatte vom Bezirk nur eine vorläufige Zulassung bekommen. Außerdem wollten die Lehrer ihren Bonus. Die Sache ist komplett sinnlos.«

»Ich glaube, ich werde krank. Bin ich blass?«

»Nein, Teddy. Du siehst völlig gesund aus.«

Es war acht Uhr, er musste weg. Er wusch beide Teller aus und stellte sie in die Spüle, wie immer.

Er küsste seine Mutter auf die Wange.

»Ich muss los«, sagte er.

»Hast du Geld fürs Mittagessen?« Das fragte sie fünfmal pro Woche.

»Wie immer.«

»Und die Hausaufgaben sind erledigt?«

»Alles unter Kontrolle, Mom.«

»Wann sehe ich dich?«

»Ich komme nach der Schule in der Kanzlei vorbei.« Theo kam jeden Tag nach der Schule in der Kanzlei vorbei, aber Mrs. Boone fragte trotzdem immer.

»Pass auf dich auf. Und vergiss nicht: Immer lächeln.«

»Ich lächle doch, Mom.«

»Hab dich...

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