Ein gesegnetes Kind - Roman

Ein gesegnetes Kind - Roman

von: Linn Ullmann

btb, 2017

ISBN: 9783641200541

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 1240 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein gesegnetes Kind - Roman





Erika und Laura trugen Shorts, aus denen sie eigentlich herausgewachsen waren, und verwaschene hellrote T-Shirts. Beide hatten lange blonde Haare, lange braune Barbiepuppenbeine und kleine Mädchenpos, die in eine Hand passten und sich hin und her wiegten, wenn sie mit einem Wassereis in der Hand den langen Weg vom Laden bis zu Isaks Haus zurücklegten. Männer drehten sich nach ihnen um und dachten das Unaussprechliche, aber die Schwestern dachten nicht an Männer, sie hatten mehr als genug damit zu tun, das Eis unter Kontrolle zu halten, damit es nicht an ihren Händen klebte und Flecken auf den T-Shirts machte.

 

Oder sie lagen im hohen Gras auf der Wiese neben dem weißen Kalksteinhaus, das Isak gekauft hatte, als Rosa mit Laura schwanger war.

»Wir sind Schwestern, stimmt’s?«, fragte Laura.

»Halbschwestern«, sagte Erika. »Das ist etwas völlig anderes.«

»Ja«, sagte Laura.

»Wir haben verschiedene Mütter, und man muss dieselbe Mutter haben, um richtige Schwestern zu sein«, sagte Erika.

»Und denselben Vater«, sagte Laura.

Erika dachte nach.

»Es ist ein bisschen wie Pseudokrupp«, sagte Erika. »Es ist nicht echt, Halbschwestern zu sein«, fügte sie hinzu und sang: »Halb, unecht. Lüge. Schwindel.«

»Was ist Pseudokrupp?«, fragte Laura.

»Eine Krankheit«, sagte Erika.

»Was für eine Krankheit?«, fragte Laura.

»Wenn ein Kind nicht atmen kann«, sagte Erika. »Das Kind wird blau im Gesicht und blau um den Mund und dann quakt es so …« Erika öffnete den Mund und brachte einen quakenden, hustenden, durchdringenden Ton hervor, der aus den Tiefen ihrer Kehle kam, nahm ihren Hals in beide Hände und zitterte am ganzen Körper.

Laura kicherte und legte sich neben sie. Erika hatte Lust, die Hand der Schwester zu nehmen, sie war so klein und fein und dünn. Stattdessen sagte sie:

»Als ich klein war, hatte ich Pseudokrupp. Meine Mutter war ganz allein auf der Welt. Allein und verlassen. Und ich bin fast gestorben. Meine Mutter war ganz allein, stand draußen in der Winternacht mit mir und weinte.«

Laura wurde still, sie wollte gern eine ähnliche Geschichte von ihrer Mutter Rosa erzählen, aber ihr fiel keine ein. Rosa war nie allein und verlassen. Rosa würde niemals draußen in der Winternacht stehen und weinen, so etwas Verrücktes würde ihr niemals einfallen. Einmal im Winter hatte Laura auf dem Heimweg von der Schule ihre Mütze abgesetzt und in die Tasche gesteckt, und da ist Rosa so böse geworden, dass sie zehn Minuten lang kein Wort hervorbrachte, mindestens. Sie war ganz sicher, dass Laura eine Lungenentzündung bekäme, und obwohl sich Rosa selten irrte, irrte sie sich in diesem Fall. Niemand wurde krank.

Erika fuhr fort:

»Aber es gibt natürlich etwas, was noch schlimmer ist als Pseudokrupp.«

»Was denn?«, fragte Laura.

»ECHTER KRUPP!«, sagte Erika, ohne genau zu wissen, was ECHTER KRUPP eigentlich war. Aber schlimmer als Pseudokrupp war er ganz sicher.

»Dann hast du keine Chance«, sagte Erika. »Dann stirbst du einfach. Dann ist es vorbei.«

»Aber …«, sagte Laura. Sie wollte weitere Einzelheiten hören.

Erika unterbrach sie mit lautem Gebrüll. Wenn sie brüllte, musste sie nicht so viel erklären. Sie stand auf, taumelte über die Wiese und rief dabei HILFE, HILFE, ICH KRIEGE KEINE LUFT, ICH HABE KRUPP, ICH HABE KRUPP, und dann fiel sie neben Laura um.

 

Erika lag mitten auf der Blumenwiese, es juckte sie in den Kniekehlen und an den Fußgelenken, im Nacken und auf der Kopfhaut, es waren Insekten, die auf ihr herumkrabbelten, es waren Zecken, die sich an ihr festsaugten. Wenn man sich eine Zecke einfing, gab es in Isaks Haus einen Aufstand. Holzböcke hießen sie dort. Ein Holzbock war besser als eine Zecke. Wenn man sich einen Holzbock einfing, besahen sich Isak und Rosa deine Armbeuge, beugten sich über deinen Po oder dein Bein, strichen dir die Haare aus dem Nacken, um sich ihn eingehend anzuschauen. Es war ein bisschen so, als ginge man mit einer neuen Hose zur Schule, alle sagten Sauber, deine neue Hose, es war angenehm und eklig zugleich. Es war zum Beispiel ganz angenehm, eine Zecke mit Butter und einer Pinzette zu entfernen, besonders wenn sie groß und dick geworden und dem Platzen nahe war und ganz blaulila von dem vielen Blut. Wenn man die Zecke zusammendrückte, tröpfelte Blut aus ihr heraus. Entscheidend war, dass der Kopf nicht stecken blieb. Das war gefährlich und konnte zu einer Blutvergiftung führen, sagte Rosa. Ein Splitter im Finger oder im Zeh konnte ebenfalls zu einer Blutvergiftung führen, falls der Splitter länger drin bliebe oder man es nicht schaffte, den ganzen Splitter herauszuholen. Und eine Blutvergiftung führte zu Fieberkrämpfen, die wiederum zu Faulbrand führten, der zur Amputation führte, manchmal ohne Betäubung, weil es schnell gehen musste. Man musste zum Beispiel einen Arm abschneiden oder ein Bein und dabei ganz wach und bei Bewusstsein sein – nur weil man es versäumt hatte, eine Zecke oder einen Splitter richtig zu entfernen.

Hinter den Bäumen, hundert Meter von dem holprigen grauen Steinstrand und dem silbergrauen Meer entfernt, lag Isaks weißes Kalksteinhaus. Erika sagte zu sich: Ich bin Erika Lövenstad. Isak Lövenstad ist mein Vater. Wir wohnen hier auf dieser Insel, meine Schwester heißt Laura und ich bin die Ältere.

Sie schlug die Augen auf und sah direkt in den blauen Himmel.

Die Sommertage waren nicht zu unterscheiden, auch die Sommer nicht.

Erika und Laura lagen im hohen Gras neben Isaks Haus und lasen Donald Duck und später Starlet, wofür sie eigentlich noch zu jung waren. Sie aßen Walderdbeeren und hatten rote Flecken an den Händen und um den Mund. Die Sonne schien jeden Tag, und es war Draußenzeit, was hieß, dass es nicht erlaubt war, ins Haus zu gehen und zu stören. Die Draußenzeit war ein Dekret. Darüber wurde nicht diskutiert, sie wurde niemals erklärt. Alle wussten, was die Draußenzeit war. Sie war eine Konstante, sie war wie die Sonne, der Mond und die Jahreszeiten. Draußenzeit bedeutete, dass man sich draußen aufzuhalten hatte. Man durfte nicht ins Haus, um sich ein Glas Wasser zu holen oder aufs Klo zu gehen, denn dann rauschte es in den Rohren und das hörte Isak. Man ging nicht ins Haus, um etwas aus seinem Zimmer zu holen, das man vergessen hatte (zum Beispiel ein Gummiband, falls jemand Lust hatte, bei Gummitwist mitzumachen), denn dann knarrten die Dielen. Das alles lernte Erika in der ersten Woche auf Hammarsö. Wenn Isak gestört wurde, konnte er sich nicht mehr konzentrieren, und dann war sein Arbeitstag verdorben. Dann würde er aus dem Büro stürmen, sich mitten in die Küche stellen und brüllen. Laura konnte von Isaks Gebrüll berichten (ausnahmsweise ohne Unterbrechung), darüber, welche Angst sie gehabt hatte mit ihm allein in der Küche, wie er vom vielen Brüllen ganz weiß im Gesicht geworden sei. Erst weiß, dann rot, dann lila wie eine Zecke kurz vorm Platzen. Isak war so böse, dass ihm der Speichel aus dem Mund rann.

 

Es gab keinen Grund, der Schwester nicht zu glauben, dachte Erika. Erikas Mutter hatte sie vor Isaks Launen gewarnt, bevor sie nach Hammarsö gereist war, aber die Mutter hatte nicht von Launen gesprochen, sondern von Temperament. Elisabeth hatte mehrfach gesagt, dass Erika ihn nicht während der Arbeitszeit stören dürfe, denn dann riskierte man, sein Temperament auszulösen – und das war nicht gut. Hin und wieder stellte Erika sich Isaks Temperament als eine Tonne Plutonium in seinem Kopf vor, direkt unter dem Schädelknochen. Es bedurfte nicht vieler Störungen in der Atmosphäre, und alles ging schief, die Tonne quoll über und das Plutonium, hellviolett, lief über den Boden.

Erika und Laura lagen im hohen Gras, und Erika erzählte ihrer kleinen Schwester, wie sie einmal als kleines Kind mit Elisabeth im Puppentheater im Frognerpark gewesen war.

»Frognerpark?«, wiederholte Laura fragend.

»Der Frognerpark ist ein Park in Oslo«, sagte Erika.

Schweden hatte ABBA, Björn Borg, zwei Fernsehkanäle und den Vergnügungspark Gröna Lund. Und auch wenn das Tollste, was ein schwedischer Erwachsener zu Erika sagen konnte, war, dass sie doch sehr gut Schwedisch spreche, so verspürte Erika ein leichtes Kribbeln im Magen, als sie in Oslo sagte, so als wäre Oslo etwas Fremdes, etwas Leuchtendes und weit weg mit großen Parks und breiten Straßen.

Sie erzählte Laura von einer Puppe mit kleinen schwarzen Stecknadelaugen, großer roter Nase und heruntergezogenen Mundwinkeln, die sie im Frognerpark gesehen hatte. Die Puppe sah traurig aus. Eher traurig als böse oder sauer. Die Puppe trug einen grauen Anzug, einen braunen Schlips und schwarze Schuhe. Sie war schmächtig, ungelenk und kahlköpfig, Guten Tag, mein Name ist Herr Holzschädel, sagte sie mehrmals, das war ihr ganzer Text, und jedes Mal, wenn sie auf der Bühne einer der anderen Puppen begegnete, führte sie die Hand zum Kopf, nahm die obere Kopfhälfte ab, verbeugte sich und sagte Guten Tag, mein Name ist Herr Holzschädel – als wäre der obere Teil des Kopfes ein Hut.

 

Das Publikum lachte jedes Mal, wenn Herr Holzschädel dies tat, auch Erika lachte, und als sie Laura von ihm erzählte, lachte Laura so laut, dass Erika noch lauter lachen musste, und sie lachten so sehr, dass sie auf den Bauch rollen und sich in die Hände beißen mussten, damit das Lachen nicht mit dem Wind über...

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