Die Schönheit des Kreisverkehrs - Roman

Die Schönheit des Kreisverkehrs - Roman

von: Dominique Paravel

Nagel & Kimche, 2017

ISBN: 9783312010301

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 1771 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Schönheit des Kreisverkehrs - Roman



2 «Zwei Kaffees.»

«Nein, einen Obstsaft bitte.»

Krankenhausfliesen, gelbe Wände, stumm flimmernder Fernseher, das Provinzcafé ist von komprimierter Hässlichkeit. Sie ist erschöpft. Nach einer schlaflosen Nacht, der sie mit einer Flasche Petrus beizukommen versucht hatte, wartete die Autobahn auf sie, eine lange blinde Rutsche in den Süden. Für einen Augenblick war sie am Steuer eingenickt, wäre beinahe auf einen Lkw aufgefahren. Auf der Höhe von Tournus blieb sie an einer Raststätte eine halbe Stunde auf dem Boden sitzen, das Gesicht dem Nieselregen zugewandt.

Der Landschaftsgestalter von Savinco ist ihr seit der Abfahrt von Feyzin wie weltabwesend vorgekommen, jetzt jedoch, während sie auf ihre Bestellung warten, ist eine Art Verwirrung über sein Gesicht geglitten, die ihm eine unerwartete Schönheit verleiht. Sie setzt ihre schwarze Brille ab und beugt sich zu ihm vor.

«Joaquin, haben Sie spanische Wurzeln?»

Er antwortet nicht, er belauert die Kellnerin. Das junge Mädchen stellt mit schwingendem Hintern die Getränke auf den Tisch. Jede seiner Gesten scheint ihn zu fesseln. Sie wendet den Blick ab. Wie grauenhaft, ein Bananensaft. Auf dem Fernsehbildschirm wedelt ein Hund, verfolgen sich Wagen, geht die Sonne auf, läuft ein Schuh ganz von allein. Ein Kind mit rotem Strohhalm im Gesicht verfolgt das aufregende Geschehen gebannt. Während sie auf Joaquins Antwort wartet, denkt sie an das Leben in der Provinz, an die Erde, die sich unablässig in derselben Richtung dreht, an die Raumanzüge, die die russischen Astronauten in den sechziger Jahren trugen, an ihre Cousine Justinienne, die zum Kochen eine weiße Kochmütze aufsetzt.

«Meine Eltern kommen aus Spanien, aber ich bin in Frankreich geboren.»

«Aus welcher Gegend in Spanien?»

Sie wäre gern ein anderes Stück Weg mit ihm gegangen als das, was sie hier zurücklegen, aber Joaquin hat sich rätselhaft in sich selbst zurückgezogen, sein unregelmäßiges Gesicht hat jeden Reiz verloren, sich wieder ganz seiner kurzen Gestalt angepasst, seiner mittelmäßigen Kleidung, dem weinroten Anzug, dem grünen Hemd. Bestimmt mag er Technik, Biowein, Bermudas. Morgen schon kann sie den Faden dieses Lebens durchschneiden. Sie steht mit einem Satz auf. Schnell wieder auf den Weg. Solange man fährt, ist nichts endgültig. Die Landschaft gehört uns nicht. Wir gehören zu nichts.

N 7, ab jetzt ist die Strecke verwahrlost, lauter aneinandergestückelte Segmente, die keine richtige Straße mehr bilden. Auch durch ihren Kopf geht nur noch eine Reihe loser Gedankenfetzen: ein Name (Salaise-sur-Sanne) (Chanas), ein Landschaftsschnipsel (Bahngleis) (Feld), eine Gestalt (Frau in rotem Kleid von hinten) (Teenagergruppe mit Fahrrad), Piktogramme (Kinder, die über eine Straße rennen) (Auto, das über eine nasse Fahrbahn schlittert), eine Empfindung (kaum mit dem Blick erhaschter Garten), Werbung (Gemeinsam in den Sommer) (1001 Nacht und Ihre dazu), Zahlen (Valence 49 km), (Montélimar 96 km), Piktogramme (Messer und Gabel gekreuzt), Anzeige (Sie betreten nun die Drôme), Silhouette (behelmter Motorradfahrer), Werbung (Bei diesen Preisen bin ich die Königin von England), Zahlen (Sie fahren mit 95 Stundenkilometern), Empfindung (Haus mit geschlossenen Fensterläden).

Die Welt zieht vorüber, in Reichweite und doch unerreichbar. Verminderte Reflexe, schwerer Kopf, sie würde gern anhalten, dieses altmodische Hotel mit seiner Blumentapete und seinen gebohnerten Treppen betreten, nach einem Zimmer fragen. Dann wäre sie es, die aus dem Fenster die Autos vorbeifahren sieht, wäre sie eine Silhouette, ein Landschaftsschnipsel, eine Empfindung. Die Straße umfährt Saint-Rambert d’Albon, Joaquin döst, sie hat Hunger. Sie verlangsamt, im Rückspiegel bildet sich eine Fahrzeugschlange. Die einzigen Restaurants am Straßenrand sind geschlossen, und sie will den Umkreis nicht ausdehnen. Joaquin Reyes scheint an diesem Auftrag zu hängen, möchte rechtzeitig da sein, und sie fühlt sich verpflichtet, sich seinem Wunsch zu beugen. Am linken Rand der Nationalstraße entdeckt sie eine Terrasse mit roten Sonnenschirmen, einen Parkplatz, sie reißt das Lenkrad herum und stellt sich neben einen Lkw. Joaquin schlägt die Augen auf, blickt benommen um sich. Sie stellt den Motor ab, steigt aus und steuert auf das Fernfahrerrestaurant zu. Joaquin folgt ihr, sie hört ihn am Telefon sprechen, eine etwas müde, matte Stimme. Wahrscheinlich unterhält er sich mit der Bürgermeisterin von La Chochotte. Das glühende Westlicht fällt auf die schräggestellten Sonnenschirme, strenge menschliche Ausdünstungen hängen in der Luft, denen die Straße anhaftet, ein Gemisch aus dem Geruch von Benzin und überhitztem Asphalt.

Sie sitzen. Nach so vielen Kilometern in der Parallele scheint ihn dieses Visavis in Verlegenheit zu bringen, er weicht ihrem Blick aus. Vierzig Jahre, ein bisschen Karriere im Unternehmen, was ihm wohl vorschwebt, es zum Projektleiter bringen, seine eigene Firma aufbauen, einen Allrad steuern? Unter den Hemdsärmeln kommen kräftige Handgelenke zum Vorschein, das schwarze Haar darauf aufgerichtet. Sein gestreckter Zeigefinger streicht über die Messerklinge, er wischt sich die Lippen und glättet die schmutzige Serviette auf dem Tisch. Die schlechten Tischmanieren stoßen sie ab. Joaquin nimmt einen Schluck Wein, sie lauert auf das Schluckgeräusch, zwingt sich zu einem Lächeln.

«Erzählen Sie mir von dem Verkehrskreisel von La Gnognotte.»

Er korrigiert sie sofort. «La Virote», sagt er, «die Gemeinde heißt La Virote. Es handelt sich um einen kleinen Kreisverkehr am Schnittpunkt der Nationalstraße 7 und der Departementstraße 760. Fünfzehn Meter Durchmesser. Drei Abzweigungen, zwei auf der Nationalstraße, eine in Richtung La Virote.»

Der Rosé ist ausgetrunken, der Zettel mit der Rechnung, der unter dem Aschenbecher eingeklemmt ist, flattert im Wind. Sie überlegt, ob sie einen zweiten Kaffee bestellen soll.

«Und haben Sie bereits eine Idee für die Gestaltung?»

Er scheint zu zögern. Dann auf einmal, als würde er sich von einer Brücke stürzen: «Ich habe einen langen Stahlguss vorgesehen, eine machtvolle Bewegung der Materie, eine Art Metapher der Straße, eine Anspielung an ihren mythischen Gehalt.»

Er spricht mit niedergeschlagenen Augen, sie bemerkt die gerade Linie seiner schwarzen Brauen. Sein Entwurf ist genau wie er, ambitiös und missraten. Sie langweilt sich, möchte nichts dazu sagen müssen, einfach nur dasitzen, in dieser überraschend leichten Luft, als hätte sie Joaquin als Anhalter am Straßenrand aufgelesen, als würde ein großer Sommer vor ihnen liegen.

«Interessant.»

«Ich kann Ihnen den Entwurf auf dem Tablet zeigen, wenn Sie wollen.»

«Später, danke.»

Sie betrachtet heimlich ihre eigenen Hände, mit ihren in letzter Zeit steif gewordenen Gelenken. Sechsundvierzig Jahre. Mein Gesicht geht auf das Alter zu, ich sehe die Gesichter meiner Ahnen darin aufscheinen, eine ganze Genealogie, die in meinem Fleisch verkrochen ist und jetzt nach und nach zum Vorschein kommt, mein Gesicht ein Puzzle aus toten Gesichtern.

Sie sind wieder aufgebrochen. In Wellen steigt die Hitze auf, verwischt die Linien, ein gelber Schmetterling klatscht an die Windschutzscheibe. Granulöse Bürgersteige, Mauern, Steinmauern, da und dort durch Ziegelsteine ausgebessert, schwarzgefleckter Asphalt, eine geschlossene Bar mit eingeschlagenen Fensterscheiben. Der Ortseingang von Saint-Vallier war von einem Kreisverkehr markiert, mit hageren Zypressen bepflanzt und einem Metallvogel in der Mitte. Sie fährt einmal ganz um den Kreisel herum, aus lauter Spaß an der Freude, und dann, von der Zentrifugalkraft gezogen, ein zweites Mal. Joaquin, der gegen die Wagentür gedrückt wird, sagt nichts. Bevor sie zur dritten Runde ansetzt, dreht sie sich zu ihm. Das ist wie ein umgekehrtes Karussell, nicht? Man könnte sich rund um die Mittelinsel herum Holzpferde vorstellen, die reglos bleiben, während die Autos um sie herumkreisen. Das gibt es schon, sagt er eisig. Sie dreht gemächlich eine dritte Runde, eine Art langsamer Walzer um den vom Verkehr gefangenen Vogel, und schert aus. Die Rhone ist wieder da, breit wie ein Meeresarm, gesäumt von nebelverhangenen Hügeln. Die alten, abgeblätterten Häuser verleihen dem Kai ein Hafenflair. Eine Wohnung steht zum Verkauf. Sie wird sie kaufen, sich mit ihrem Koffer darin einrichten, am Morgen wird sie das Fenster auf die grüne Weite öffnen, hinuntergehen und den unbestimmten, schlammigen Geruch einatmen, der das Meer verspricht. Sie wird an einem der drei Tische auf der Terrasse einen Kaffee trinken. Der Winter wird kommen, sie wird immer noch dasitzen, versteinert, der Kaffee am Tassengrund ausgetrocknet, der Tisch mit Reif bedeckt.

«Soll ich die Scheibe wieder hochdrehen?», fragt sie. «Wegen des Durchzugs.»

«Nein, es geht schon, danke.»

«Wir werden rechtzeitig da sein, machen Sie sich keine Sorgen.»

Gerade, banale Straße bis Érôme, dann beginnt sich der Fluss zwischen geharkten Weinhängen hindurchzuschlängeln. Auf dem Gipfel eines Hügels berührt eine Kapelle den Himmel. Sie spürt eine flüchtige Freude, eine Art Zustimmung zum Leben. Der nächste Kreisverkehr taucht wie ein Punkt nach dem langen Satz auf, den sie gemeinsam und jeder für sich ausgeführt haben, Joaquin den Kopf zum Fluss gewandt, sie von neuem von der Kreisbewegung erfasst, auf der Mittelinsel eine kleine Landschaft, drei Bäume, eine Bank, Levkojen, ein Platz, um eine Rast einzulegen und sich auszuruhen, ein Ort, wo keiner hingeht, der unerreichbar...

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