Ktaadn - Mit einem Essay von Ralph Waldo Emerson
von: Henry David Thoreau
Jung und Jung Verlag, 2017
ISBN: 9783990271537
Sprache: Deutsch
160 Seiten, Download: 579 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Am 31. August 1846 fuhr ich mit Eisenbahn und Dampfboot von Concord, Massachusetts, nach Bangor und ins Hinterland von Maine, um einen im Holzhandel tätigen Verwandten bis zum Damm am westlichen Nebenfluss des Penobscot zu begleiten, wo er Land kaufen wollte.1 Ich schlug vor, von dort aus, ungefähr hundert Meilen von Bangor flussaufwärts, dreißig Meilen von der Houlton Military Road und rund fünf Meilen jenseits der letzten Holzhütte, Abstecher zum Berg Ktaadn, dem zweithöchsten in Neuengland, ungefähr dreißig Meilen entfernt, und zu einigen der umliegenden Seen des Penobscot zu unternehmen, entweder allein oder in Gesellschaft, wenn sich dort welche finden würde. Zu dieser Jahreszeit, wenn die Holzfäller ihre Arbeit getan haben, trifft man so tief in den Wäldern nur selten auf ein Lager, und ich war froh, dennoch einer Gruppe Männer zu begegnen, die Schäden vom großen Hochwasser im Frühjahr reparierten. Man kann den Berg leichter und direkter zu Pferd oder zu Fuß vom Nordosten her über die Aroostook Road und den Wassataquoik River erreichen, doch so sieht man viel weniger von der Wildnis, dem herrlichen Fluss und der Seenlandschaft und erfährt auch nichts über batteaux und das Leben der Bootsführer. Zudem war die Jahreszeit günstig, denn im Sommer machen Myriaden von Gnitzen, Moskitos und Stechmücken oder, wie die Indianer sie nennen, »no-see-ems«2 das Wandern in den Wäldern so gut wie unmöglich; doch nun war ihre Herrschaft schon fast zu Ende.
Ktaadn oder Katahdin, nach einem indianischen Wort, das »höchstes Land« bedeutet, wurde von Weißen erstmals 1804 bestiegen. 1836 wurde er von Professor J. W. Bailey aus West Point erkundet, 1837 vom staatlich beauftragten Geologen Dr. Charles T. Jackson und 1845 von zwei jungen Männern aus Boston.3 Alle haben Berichte über ihre Expeditionen geschrieben. Seit ich dort gewesen bin, haben zwei, drei andere Gruppen die Exkursion unternommen und ihre Geschichten erzählt. Abgesehen davon haben nur sehr wenige, selbst unter Trappern und Jägern, den Aufstieg gewagt, und es wird lange dauern, ehe er bei Sommerfrischlern in Mode kommt. Die bergreiche Region des Staates Maine erstreckt sich von der Umgebung der White Mountains hundertsechzig Meilen nach Nordosten, bis zur Quelle des Aroostook River, und ist ungefähr sechzig Meilen breit. Der weitaus größte Teil davon ist wild oder unbesiedelt. Der Neugierige wird also, nach wenigen Stunden Reise in diese Richtung, an den Rand eines Urwaldes gelangen, und das wäre vielleicht trotzdem interessanter, als wenn er tausend Meilen nach Westen ginge.
Am nächsten Vormittag, Dienstag, 1. September, brach ich mit meinem Begleiter auf und fuhr mit einer Kutsche von Bangor flussaufwärts zum rund sechzig Meilen entfernten Mattawamkeag Point, wo wir am Abend des darauf folgenden Tages zwei Bangorer treffen wollten, die beschlossen hatten, uns auf unserem Ausflug zum Berg zu begleiten. Jeder von uns trug einen Rucksack oder Beutel mit Kleidung und anderen unverzichtbaren Dingen, und mein Kamerad hatte sein Gewehr dabei.
Weniger als ein Dutzend Meilen hinter Bangor stießen wir auf die Dörfer Stillwater und Oldtown an den Wasserfällen des Penobscot, welche die wichtigste Energiequelle sind, um die Wälder von Maine in Bauholz zu verwandeln. Die Sägemühlen stehen direkt auf und über dem Fluss. Hier herrscht zu jeder Jahreszeit Gedränge und Hochbetrieb, und der einstmals grüne, seit langem weiße Stamm – nicht weiß wie Schnee, sondern wie Treibholz – endet als schlichter Bretterstapel. Hier liegt der Ursprung eurer ein, zwei oder drei Zoll dicken Dielen, und Mr. Sawyer führt die Liste, die über das Schicksal all der niedergemähten Wälder entscheidet. Durch dieses mehr oder minder grobe Stahlsieb wird der wipfelige Wald von Maine von Ktaadn und Chesuncook und den Quellwassern des St. John River unbarmherzig getrieben, bis er so viele Bretter, Dauben, Latten und Schindeln ausspuckt, wie die Winde aufnehmen kann, um dann vielleicht immer weiter zersägt zu werden, bis man die benötigte Größe hat. Stellt euch vor, wie die Weißkiefer am Ufer des Chesuncook stand, wie ihre Zweige in den vier Winden rauschten und jede einzelne Nadel in der Sonne zitterte – stellt euch vor, was aus ihr geworden ist, nachdem sie womöglich an eine Streichholzfabrik in Neuengland verkauft wurde! Ich habe gelesen, dass es 1837 zweihundertfünfzig Sägemühlen auf dem Penobscot und seinen Zuflüssen nördlich von Bangor gab, die meisten in dieser Gegend, und sie sägten jährlich zweihundert Millionen Fuß an Brettern. Man rechne das Bauholz vom Kennebec, Androscoggin, Saco, Passamaquoddy und anderen Flüssen hinzu. Wen wundert es, dass wir so oft von Schiffen hören, die vor unserer Küste eine Woche lang inmitten von Treibholz aus den Wäldern von Maine feststecken. Die Männer dort scheinen damit beauftragt, gleich einer Schar geschäftiger Dämonen so schnell wie möglich alle Wälder aus dem Land, aus jedem einsamen Bibersumpf und von jedem Berghang zu vertreiben.
In Oldtown besuchten wir eine Batteau-Werkstatt. Die Herstellung von batteaux ist hier ein gutes Geschäft, das den Bedarf am Penobscot River abdeckt. Wir sahen uns einige der Boote im Lager an. Sie sind leicht und wohlgeformt, gebaut für reißende und felsige Flüsse. Man kann sie über lange Portagen auf den Schultern tragen, sie sind zwanzig bis dreißig Fuß lang und nur vier oder viereinhalb breit, an beiden Enden spitz zulaufend wie ein Kanu, doch ist der Kiel am Bug breiter und ragt sieben bis acht Fuß aus dem Wasser, damit er so sanft wie möglich über Felsen gleitet. Die Wände sind sehr dünn, nur zwei Planken pro Seite, die gemeinhin mit Kniestücken aus leichtem Ahorn oder anderem Hartholz befestigt sind, doch für die Innenwände werden die hellsten und breitesten Weißkieferplanken verwendet, wobei wegen der Form viel Material verschwendet wird, denn der Boden ist vollkommen flach, nicht nur von einer Seite zur anderen, sondern auch von vorne nach hinten. Manchmal, nach langem Gebrauch, werden sie »bauchig«, und die Bootsführer drehen sie um und glätten sie mit Gewichten an beiden Enden. Man erzählte uns, dass die Boote nach zwei Jahren abgenutzt wären, oft aber auch nach einer einzigen Fahrt über die Felsen, und zwischen vierzehn und sechzehn Dollar kosteten. Für meine Ohren klang allein der Name des Kanus der Weißen – batteau – erfrischend und wild melodisch, indem er mich an Charlevoix4 und die kanadischen Voyageurs erinnerte. Das batteau ist eine Art Kreuzung aus Kanu und Boot, ein Boot für Pelzhändler.
Die Fähre brachte uns hier an der Indianerinsel vorbei. Als wir das Ufer verließen, sah ich einen kleinen, zerlumpten Indianer, der einer Wäscherin ähnelte; meist haben sie das kummervolle Aussehen von dem Mädchen, das der verschütteten Milch nachweint. Er kam gerade von flussaufwärts, war vor einem Lebensmittelladen auf der Oldtown-Seite gelandet, zog sein Kanu an Land, nahm ein Bündel Felle in eine Hand und ein leeres Fässchen in die andere und kletterte damit die Böschung hinauf. Dieses Bild reicht aus, um die Geschichte der Indianer zu illustrieren, das heißt, die Geschichte ihrer Auslöschung. 1837 waren von seinem Stamm noch dreihundertzweiundsechzig Seelen übrig. Die Insel schien nunmehr verlassen, doch entdeckte ich einige neue Häuser zwischen den verwitterten alten, als hätte der Stamm noch Aussichten für die Zukunft; doch im Allgemeinen machen sie einen sehr schäbigen, elenden und freudlosen Eindruck, sind ganz kehrseitig und wie Holzschuppen, keine Heimstätten, nicht einmal indianische Heimstätten, sondern nur Ersatz für Heim oder Lager, denn die Männer verbringen ihr Leben domi aut militiae, zu Hause oder im Krieg, oder heute eher venatus, also auf der Jagd, und meistens gilt Letzteres. Die Kirche ist das einzige schmucke Gebäude, doch ist das nicht den Abenaki, sondern Rom zuzuschreiben. Man könnte es gut kanadisch nennen, es ist aber armselig indianisch. Sie waren einst ein mächtiger Stamm. In der Politik sind sie gerade ein heißes Thema. Ich dachte sogar, eine Reihe Wigwams mit Powwow-Tanz und einem Gefangenen, der am Marterpfahl gefoltert wird, wäre achtbarer.
Wir landeten in Milford und fuhren am Ostufer des Penobscot entlang, wobei wir mehr oder weniger ununterbrochen den Fluss und die Indianerinseln im Blick hatten, denn alle Inseln bis weit hinauf nach Nickatow an der Mündung des East Branch haben die Indianer behalten. Sie sind im Allgemeinen dicht bewaldet und haben angeblich besseren Boden als die benachbarten Ufer. Der Fluss wirkte seicht und felsig und war immer wieder von Stromschnellen unterbrochen, die sich kräuselten und in der Sonne glitzerten. Wir hielten einen Augenblick, um einen Fischadler zu beobachten, der aus großer Höhe gerade wie ein Pfeil nach einem Fisch tauchte, aber er verfehlte seine Beute diesmal. Nun fuhren wir auf der Houlton Road, auf der einst einige Truppen Richtung Mars’ Hill marschierten, nicht aber zum Feld des Mars, wie sich zeigte.5 In dieser Gegend ist es die wichtigste, fast die einzige...