Körpertreffer - Zur Ästhetik der nachpopulären Künste

Körpertreffer - Zur Ästhetik der nachpopulären Künste

von: Diedrich Diederichsen

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518748244

Sprache: Deutsch

150 Seiten, Download: 4803 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Körpertreffer - Zur Ästhetik der nachpopulären Künste



II.
Case Study New York um 1960: Sex und Gewalt statt Lust und Unlust


Vor fünfundfünfzig Jahren


Als die Entwicklungen, die ich im Folgenden herausstellen möchte, ihren Anfang nahmen, wurde die Frage nach den Wirkungen der Künste noch unter ganz anderen Voraussetzungen gestellt. Nicht nur, weil damals die Literatur das zentrale Paradigma war, sondern auch, weil es im Wesentlichen um die jeweilige Positionierung auf einer (allseits geteilten) Skala ging, die von engagierter Literatur einerseits bis zur reinen Poesie andererseits reichte. Ob und wie Kunst überhaupt an gesellschaftliche Entwicklungen angeschlossen sei, musste dabei offenbar nicht eigens problematisiert werden, da es mit der Entscheidung des autonomen Künstlersubjekts zu mehr oder weniger Engagement gleich mitentschieden schien: Wirken-Wollen und Wirken fielen (ebenso wie Nicht-wirken-Wollen und Nicht-Wirken) vermeintlich zusammen. Allerdings zeigte dieser voluntaristische Diskurs, der bald von Formaten wie ›Provokation‹ und anderen, meist strategisch[1] gedachten Genres aus bildender Kunst und Theater nachhaltig erschüttert werden sollte, schon damals erste Risse – vor allem, wenn es um andere Künste als die Literatur ging. Der aufgeklärte Modernismus in E-Musik und Malerei hatte sich mit den Kriterien Komplexität und Anti-Illusionismus verknüpft. Auch wenn das Engagement dazu zuweilen etwas quer stand (etwa bei Luigi Nono), galten engagierte, komplexe und anti-illusionistische Kunstwerke sowohl als (politisch) fortschrittlich wie als anti-kulturindustriell. Und auch wenn Adorno zuweilen einräumt, das Werk könne, ja müsse klüger sein als sein Schöpfer, regiert doch weitgehend unangefochten die Intention.

Vor diesem Hintergrund veröffentlicht der Mathematiker, Komponist und Theoretiker Henry Flynt 1963 in dem von La Monte Young und Jackson Mac Low herausgegebenen Künstlerbuch An Anthology of Chance Operations einen Aufsatz mit dem Titel »Concept Art«. Darin kritisiert er ein Phänomen, das er – hier exemplarisch an der westlichen Kunstmusiktradition im Ganzen und speziell an deren damals neuester Ausprägung, dem Serialismus der Darmstädter Schule, aufgezeigt – als »Structure Art« bezeichnet.[2] Flynts Vorwurf an diese ›Strukturkunst‹ lautet, dass sie Komplexität bloß noch aus Legitimationsgründen pflege und steigere, nicht mehr dagegen mit Blick auf hörbare Erfahrung. Den daraus erwachsenden Aporien und Fehlentwicklungen setzt Flynt vier Alternativmodelle entgegen, die sich jeweils aus der Negation einer fundamentalen Eigenschaft der europäischen Kunstmusik (und zumindest in Andeutungen: westlicher Kunst überhaupt) ergeben und – für unseren Zusammenhang entscheidend – in jedem Fall auch auf bestimmte Wirkungstypen zielen.

Konkret führt Flynt als Gegenbeispiele erstens die rituelle Musik zu den Goli-Tänzen der Baoulé aus der heutigen Elfenbeinküste ins Feld, zweitens den R&B-Hit Sweets For My Sweet von Doc Pomus und Mort Shuman (bekannt u. ‌a. durch die Drifters und die Platters), drittens die asiatisch inspirierten Drones von La Monte Youngs Theatre-of-Eternal-Music-Ensemble sowie viertens eine noch zu entwickelnde »Concept Art«, die den Genuss an formalen und strukturalen Gebilden zwar von der europäischen seriellen Musik übernehmen, jedoch endgültig vom sinnlichen Hören abkoppeln will und deren Komplexität weit über das Konzept des Seriellen hinausgehen soll. Denn ein zur bloßen Dechiffriermaschine degradiertes Hören beschränke ohnehin nur unnötig die Strukturphantasie. Mit diesen ästhetischen Gegenentwürfen zur Avantgarde Darmstädter Prägung verbindet Flynt zudem – im Jahr der Gründung der OAU, der Organisation für Afrikanische Einheit (und drei Jahre nach der Unabhängigkeit von achtzehn afrikanischen Staaten) – eine generelle Kritik an der eurozentrischen Kulturhegemonie, die sich anhand seiner Beispiele wie folgt entfalten lässt:

(1) Die Baoulé-Musik steht exemplarisch für eine musikalische und künstlerische Praxis, die im Gegensatz zur europäischen nicht von der Subjektivität eines Komponisten ausgeht, der das musikalische Geschehen architektonisch-sinnbildlich für die Organisation von Lebenszeit und individueller Entwicklung formt, sondern die vielmehr ein fließendes, immer schon laufendes Geschehen darstellt, dem der Einzelne sich einfügt, um eine gemeinschaftliche Transformation zu erleben. Alle Beteiligten sind dabei zugleich Produzenten wie Rezipienten, Gegenstand wie Schöpfer. Dass dies trotzdem nicht in lauter parallele Solipsismen mündet, liegt daran, dass jeder Beteiligte statt eines Innenspiegels mehrere Gegenüber hat, die sich, wie er, nur neben Anderen auf sich selbst beziehen. Denn die Intersubjektivität ästhetischer Erfahrung – in Kants Ästhetik nur ex post über das Kunstgespräch erreichbar – ist hier schon die Bedingung der Erfahrung selbst: Ich beobachte mich unter Beobachtung. Und dieses Unter-Beobachtung-Stehen verursacht erst die Tiefe der primären (Selbst-)Beobachtung. Nur als Objekt der Anderen werde ich Subjekt. In solchem Über-Bande-Spielen zeigt sich nicht zufällig eine markante Parallele zu den Erfahrungen, die man in Andy Warhols Factory zeitgleich mit Posen macht: Auch hier werden die Index-Effekte nie genuin aus dem Subjekt, sondern immer indirekt erzeugt, als gemeinschaftliche Feedback-Konstellation.

(2) Die elektrisch verstärkte Soul- und R&B-Musik Afroamerikas (Sweets For My Sweet) steht bei Flynt für eine (im Gegensatz zu den Werken der Darmstädter Avantgardisten) massenhaft und anti-elitär zirkulierende Musik, die dennoch nicht nur durch den Markt, sondern auch durch das politische Selbstverständnis einer Community bestimmt ist, über sie jedoch (wiederum im Gegensatz zur Avantgarde) massiv hinauswirkt. Im selben Tenor erklärt Flynt zwei Jahre später in einem gemeinsam mit dem Fluxus-Anführer George Maciunas herausgegebenen Pamphlet des Titels Communists Must Give Revolutionary Leadership in Culture[3] den Parteikommunisten der USA, dass sie ohne Kenntnis und Einsatz von (seinerzeit so genannter) »Street Negro Music« jeden nennenswerten Einfluss auf die amerikanische Arbeiterklasse vergessen könnten. Überhaupt könne eine ökonomische Analyse zur Lage der Arbeiterklasse nirgendwo hinführen, solange sie nicht die kulturellen Techniken eines Gebrauchs jenseits von Konsum miteinbeziehe, die diese Arbeiterklasse selbst entwickelt oder kulturell habitualisiert habe. Zum konkreten Nachvollzug empfiehlt Flynt den Genossen neben Soul-Platten auch Tools wie den Citroën 2CV oder die Hammond-Orgel. Und als Referenz-Song dient ihm folgerichtig Dancing In The Streets von Martha And The Vandellas, worin der utopische Aufbruch der Community nicht zufällig als Wirkung aufgezeichneter Musik zelebriert wird: »Everywhere there is records playing and dancing in the streets.«

(3) Dagegen stehen die Drones – also die so lang wie möglich gehaltenen Töne von La Monte Young und anderen – für eine Kunst, die sich gerade nicht als Ding von ihren Produzenten abtrennen und somit auch weder vermarkten noch sonst irgendwie verdinglichen lässt. Als gleichsam kurzgeschlossene Innen/Außen-Resonanz spielt sie – analog zur Gruppe/Individuum-Dialektik in der Baoulé-Musik – zugleich innerhalb wie außerhalb des sie erzeugenden Körpers. Allerdings geschieht die Symbiose von Produktion und Rezeption hier eher strukturell bzw. materialästhetisch, nämlich indem man die Kontinuität der Verursachung so radikal perpetuiert, bis diese selbst thematisch und eben dadurch – als (abermals gemeinschaftliches) Eingeschwungensein – real wird. Dadurch werden minimalistische Drones auch zum Beispiel einer Kunst, die über Verursachung nachdenkt, ohne mit medialer Indexikalität direkt zu tun zu haben. Indes geht es auch hier primär darum, den (a-subjektiven) Körper diesseits von Plan, Verantwortung und Konstruktion zur Ursache werden zu lassen – und dies wiederum selbst sinnlich zu erfahren.

(4) Die Concept Art schließlich macht das Entziffern und Rekonstruieren von Komplexität endgültig zum zentralen künstlerischen Paradigma. Konsequenterweise kappt sie dafür die konventionelle Verknüpfung mit Sinnesdaten, genauer: die Synchronie von Sinnesdatenzufuhr und Erschließungstempo. War dieser Konnex in der Literatur (zumal vor Lessings Lakoon) schon seit jeher etwas lockerer, sieht Flynt nun die Zeit gekommen, ihn auch in den anderen Künsten – vor allem in den (wie die Musik) traditionell zeitgebundenen – hinter sich zu lassen. Schließlich brauchten die Zeitkünste im Zeitalter von Recording und technischen Bildern keine mimetische Simulation von Welterfahrung mehr zu liefern, sondern könnten sich stattdessen als variables Nebeneinander verschiedener, je nach Konzeption auf kognitive oder affektive Rezeptoren gerichteter Zeichentypen organisieren. Oder klassisch ausgedrückt: Die Form ist nun nicht mehr durch die Notwendigkeit zur Vermittlung des jeweiligen sinnlichen Substrats oder Gehalts determiniert, sondern kann und soll ganz der Idee dienen – bei der man es denn auch bewenden lassen kann.

Flynts Kritik an der europäischen Hochkulturtradition im Allgemeinen und deren musikalischen High-Modernism-Ausläufern im Speziellen richtet sich aber auch gegen die maßgebliche Position in der Theorie der bildenden Kunst. Denn Clement Greenbergs vorderhand aufklärerisch-antiillusionistisches Dogma funktioniert ja ganz...

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