Erstickt an euren Lügen

Erstickt an euren Lügen

von: Inci Y.

Piper Verlag, 2017

ISBN: 9783492974400

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 843 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Erstickt an euren Lügen



Nach Gefühlen fragt keiner


Gewalt


 

»Nehmt sie mir nicht weg«, fleht Oma inständig, schlägt sich auf die Knie, kauert schließlich am Boden, tieftraurig, leer. Papa ist nach Ankara gekommen und holt mich ab. Es ist Zeit zu gehen. Noch einmal drehe ich mich um. Nie zuvor hat Oma so deutlich gezeigt, wie viel ihr an mir liegt. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie mich jemals umarmt oder geküßt hat. Es ist herzzerreißend. Sie stirbt ohne mich, denke ich. Wir gehen. Ich habe das Gefühl, mein halber Körper bleibt da.

 

Meine Eltern waren in der Zwischenzeit innerhalb Deutschlands umgezogen. Wir wohnen jetzt am Rand einer mittelgroßen Stadt, in einem »sozialen Brennpunkt«, wie es so schön heißt. Graugrüne vierstöckige Häuser aus dem gemeinnützigen Wohnungsbau-Programm der frühen fünfziger Jahre stehen zwischen Bäumen, Büschen und Grasflächen. Das viele Grün fällt mir als erstes auf – wie jedem, der aus dem Süden nach Deutschland kommt.

Papa parkt das Auto, wir gehen zu einem dieser Häuser. Es mutet hier wie in einem kleinen türkischen Dorf an. Überall sehe ich nur Landsleute – sie leben in einer eigenen Welt. Mit den Gesetzen der Türkei, die mit denen in Deutschland wenig gemein haben.

Je länger der Weg wird, desto weicher werden meine Knie. Da ist niemand, den ich kenne, keiner, hinter den ich mich hätte flüchten können. Ich sehe plötzlich Eda – sie ist gerade acht geworden. Sie spielt vor einem dieser tristen Mietshäuser. Bei ihr ist ein kleines Mädchen, das muß Songül sein, meine kleine zweijährige Schwester. Mit ihr war Mutter im neunten Monat schwanger, als ich so krank war und Oma wollte, daß Mutter zu uns nach Ankara reist.

»Songül ist auch deine Schwester«, erklärt Papa, was ich ja schon ahnte. Wir gehen durch eine Haustür, deren schmutziggraue Farbe abblättert, in den zweiten oder dritten Stock. Mein Vater klingelt.

Die Tür öffnet sich – Ali steht vor uns, dreht sich wortlos um, geht ins Zimmer. Ich höre einen Säugling weinen, erfahre da erst, daß ich einen kleinen Bruder habe, nur wenige Wochen alt.

Ich liebe Babys. Tufan ist taub auf die Welt gekommen, kann aber seit einer Operation wieder normal hören. Er ist oft krank, ständig muß er ins Krankenhaus gebracht werden. Ich liebe ihn vom ersten Moment an, schwöre mir, daß ich immer alles für ihn tun werde.

Mutter umarmt mich zur Begrüßung. Dann bleiben uns gerade mal zwei Stunden Zeit, bis unsere Wohnung voller Besuch ist. Es kommen viele türkische Familien vorbei, die mich sehen wollen. Im ganzen Haus wohnt nur ein einziges deutsches Ehepaar. Beide hören nicht mehr gut, wie ich später erfahre, und fühlen sich deshalb vom lauten Durcheinander, das hier Tag und Nacht herrscht, nicht sonderlich gestört.

 

Unsere Wohnung quillt geradezu über vor Menschen. Die Männer halten sich im Wohnzimmer auf, die Frauen in der Küche.

»Koch Tee«, fordert Mutter mich auf.

Die folgende Szene werde ich nie vergessen, sie läuft noch nach Jahren wieder und wieder wie ein Film vor meinen Augen ab: Ich stehe vor dem Herd und fühle mich völlig verloren. Fragend schaue ich auf Mutter, die mit den Gästen am Küchentisch sitzt.

»Da stehen Teegläser.« Sie zeigt auf den Schrank. Prompt öffne ich die falsche Tür. Dahinter liegen stapelweise Handtücher.

»Warum bist du nur so blöd?« herrscht sie mich an.

»Sie ist doch gerade erst angekommen. Woher soll sie das wissen?« nimmt mich eine Besucherin in Schutz.

Jetzt lerne ich Mutter kennen: Sie steht auf, tritt auf mich zu, ohrfeigt mich rechts und links mit voller Wucht. Zum ersten Mal im Leben werde ich geschlagen. In dieser Sekunde stirbt sie für mich. Schlagartig ist mir klar, daß ich sie als Mutter niemals akzeptieren werde.

Oma hatte Gewalt nicht nötig. Sie gewährte mir endlose Freiheit. Wenn ich einmal etwas falsch gemacht habe, hat sie es mir mit zwei, drei Worten erklärt. Ruhig und sachlich, ohne jeden Vorwurf. Dann habe ich nachgedacht und selbst rausgefunden, was richtig ist. Oma hat immer gesagt: »Erst denken, dann handeln.« Es war eine Erziehung mit Geduld und Überlegung.

Mutter ist Oma nur in einem ähnlich. Beide sind Frauen, die unmißverständlich werden können: »Was ich sage, wird gemacht.« Nur – Oma setzt sich mit Autorität durch, Mutter mit brutaler Gewalt.

Ich will fliehen, aber wohin? Ich versuche, nicht zu weinen, aber die Tränen schießen mir in die Augen, ohne daß ich mich dagegen wehren kann. Ich fühle mich erniedrigt vor so vielen Leuten. Ich fühle mich allein – wie in einer fremden Wohnung, in einem fremden Land. Ich weiß nicht ein noch aus. Mein Gott, wo bin ich gelandet? denke ich da zum ersten Mal. Ein Satz, den ich noch oft in meinem Leben wiederholen werde.

 

Mutter


 

Ich verteidige sie nicht gerne, muß aber zugeben, auch sie hat es nicht einfach gehabt: Mutter kommt aus einer kurdischen Familie, hat nie eine Schule besucht, nie die Möglichkeit gehabt, kulturelle Erfahrungen zu sammeln.

Mit dreizehn wurde auch sie in eine Zwangsehe getrieben. Wie üblich. Mädchen müssen heiraten, wenn die Brüste wachsen und sie ihre Tage bekommen. Mit sechzehn ist sie ein bildhübsches Mädchen, großgewachsen, schlank, blond, dunkle Augen – und schon Mutter zweier Söhne, von Ali und Ahmed.

Mit dreiundzwanzig brennt sie mit meinem Vater durch. Ali und Ahmed läßt sie bei ihrem Exmann sitzen. Für mich ist das unvorstellbar, schon damals, als ich noch ein Kind war. Eine Mutter hat bis zum Letzten um ihre Kinder zu kämpfen.

1968 – mit fünfundzwanzig – heiratet sie Papa.

 

Papa


 

In unserer Familie spielt Papa eine untergeordnete Rolle. Er macht alles, was Mutter sagt. In Ankara gab er eine gute Existenz als Taxifahrer auf, sein Chef schickte ihn nach Deutschland. Mutter wollte es auch. Sie ging als erste in das fremde Land, um die Möglichkeiten auszuloten. Er ist ihr gefolgt. Noch heute bereut er diesen Schritt. Seit fünfunddreißig Jahren will er in seine Heimat zurück – immer noch ist er hier, jetzt als Arbeiter im Schichtdienst.

Papa ist der älteste von sieben Brüdern. Drei von ihnen überredete er, nach Deutschland zu kommen – mit Frauen, aber ohne Kinder. Auch sie sind bei Verwandten in der Türkei untergebracht. Mein Lieblingsonkel Cem ist der jüngste Bruder von Papa. Ihm bezahlt er in Ankara das Studium.

Überhaupt unterstützt er finanziell die ganze Familie. Jedesmal, wenn er im Sommer mit Mutter in die Türkei fährt, nimmt er einen hohen Kredit auf, bringt teuere Geschenke mit, finanziert Anschaffungen, verbringt in seiner Heimat einen Luxusurlaub. Mit dem, was er dann im Winter verdient, kann gerade mal der Kredit zurückbezahlt werden. Im nächsten Sommer geht das gleiche Spiel von neuem los: wieder Schulden für teuere Geschenke, Anschaffungen, Luxusurlaub. Sie haben immer so gelebt, werden immer so leben. Wie fast alle Türken, die ich in Deutschland kenne.

 

Die Tradition


 

So sieht unsere deutsche Sozialwohnung aus: achtzig Quadratmeter für sechs Personen. Rechts vom Flur befindet sich das Schlafzimmer der Eltern. Tufans Bett steht bei ihnen. Daneben ist das Wohnzimmer. Dort schläft Ali. Sein jüngerer Bruder Ahmed, also mein Halbbruder, lebt ja in Izmir. Das winzige Kinderzimmer teilen sich Eda, Songül und ich. Im Grunde ist die Enge vergleichbar mit dem Haus in Ankara, in dem ich zuerst gelebt habe. Nur konnten wir dort in den eigenen Garten ausweichen. Hier gibt es einen winzigen Balkon. Dafür haben wir fließendes Wasser und Strom zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Jeder Türke in der Siedlung kennt Mutter. »Sari«, die Blonde, nennt man sie. Mit ihren hellen Haaren fällt sie auf, denn es gibt nur wenige echt blonde Türkinnen – oder Türken. Tag und Nacht ist die Wohnung mit Besuchern überfüllt. Bis drei, vier Uhr in der Frühe sitzen sie im Wohnzimmer herum. Eda und ich haben zu bedienen. Morgens, wenn Mutter ausschläft und sich von den Strapazen der Nacht erholt, müssen wir Tufan die Windeln wechseln, Milupa ansetzen, ihn füttern und das Geschirr spülen. Anschließend gehen wir mit unseren Geschwistern spazieren. Eda nimmt Songül, ich Tufan. Draußen ist es immer noch schöner als in der Wohnung. Die erinnere ich nur als häßlich und grau.

Kaum zurück, kommt meist schon wieder Besuch, der kaum vor Mitternacht geht. Ist er endlich fort, fängt Mutter oft noch an zu putzen – wir haben ihr dabei zu helfen. An Schlaf ist nicht zu denken.

Mutter ist immer nervös. Kaum einmal redet...

Kategorien

Service

Info/Kontakt