Falke - Biographie eines Räubers

Falke - Biographie eines Räubers

von: Helen Macdonald

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406705755

Sprache: Deutsch

241 Seiten, Download: 6641 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Falke - Biographie eines Räubers



VORWORT


Sie müssen H wie Habicht nicht kennen, um dieses Buch zu lesen: Falke ist ein eigenständiges Werk. Aber wenn Sie es kennen, werden Sie auf diesen Seiten einige Dinge daraus wiederfinden. Der Mann mit dem weißen Gerfalken auf dem Foto in der Einleitung ist mein guter Freund Erin, der mit mir im Winter nach dem Tod meines Vaters auf einem verschneiten Rasen in Maine einen Weihnachtsbaum verbrannt hat. Auch an andere Personen und Phänomene werden Sie sich erinnern, mit denen ich mich hier allerdings zum Teil ausführlicher befasse, wie zum Beispiel J.A. Baker, T.H. White, die Raubvögel der Nazis oder die Anfangsszene des Films A Canterbury Tale. Falke steigt sehr viel tiefer in die jahrtausendelange Kulturgeschichte der Falknerei und der Greifvögel ein und beschäftigt sich daneben mit der Anatomie dieser Tiere, ihrer Physiologie, den Jagdstrategien, der Flugmechanik sowie der Philosophie und Praxis der Arterhaltung. Im Grunde aber handelt dieses Buch genau wie H wie Habicht davon, dass wir Menschen die Natur als Spiegel benutzen. Dass jede Begegnung mit einem Tier immer auch eine Begegnung mit uns selbst ist und mit der Art, wie wir uns wahrnehmen. Das ist die Falle, in die ich unbewusst beim Abrichten meines Habichts getappt bin, obwohl ich dieses Buch damals bereits geschrieben hatte. Daran sieht man, wie schwer es ist, ihr zu entgehen.

Pisanello, Falke von hinten mit blauem Hut, auf der Faust des Falkners, ca. 1435, Stift und Wasserfarbe auf weißem Papier

Wie kam es zu diesem Buch? Es begann Anfang der 2000er Jahre, als ich gerade an der Universität Cambridge an meiner Doktorarbeit schrieb. Ich habe sie bis heute nicht abgeschlossen, sondern stattdessen dieses Buch geschrieben – was mich selbst überraschte, da ich mich für die Akademikerin schlechthin gehalten hatte. Ich fühlte mich sehr wohl an meinem Institut und in meiner Stadt; freute mich jeden Morgen darauf, durch von Bäumen gesäumte Straßen zu einer der tollsten Bibliotheken der Welt zu spazieren, wo ich den Tag im staubigen Duft alten Papiers verbrachte, das nach Mandeln und Vanille roch, und wo ich umgeben von Zeitschriften- und Bücherstapeln fröhlich Literaturhinweise prüfte oder Notizen zu Artikeln und Büchern machte, während auf den Dachziegeln über meinem Arbeitstisch im Nordflügel die Tauben scharrten.

In meiner Doktorarbeit ging es um die Geschichte der Wissenschaft. Genauer gesagt: um die Geschichte der Naturgeschichte und unseres Verhältnisses zur Natur. Es ging auch um die Frage, wie wir die Grenze ziehen zwischen dem, was wir für Wissenschaft halten, und dem, was wir nicht mehr dafür halten. Diese Grenze ist durchlässiger, als man meinen könnte. Die Art und Weise, wie sie gezogen und verteidigt wird, sagt viel aus über das Wesen der Wissenschaft, unseren Begriff von Wissen und über uns selbst. Da ich seit Kindesbeinen von Greifvögeln besessen bin, wollte ich diesen Fragen im Kontext jener kulturellen Aktivitäten nachgehen, die sich im 20. Jahrhundert mit diesen Vögeln befasst haben: Falknerei, Arterhaltung, Naturkunde von Laien und Vogelbeobachtung. Ich hielt das für ein ideales Thema einer Doktorarbeit. Was es auch war. Nur war ich, wie sich herausstellte, nicht die ideale Doktorandin.

Im Rahmen meiner Promotion verbrachte ich auch einige Monate zu Recherchezwecken in den Archives of Falconry im World Center for Birds of Prey in Idaho. In diesem Archiv gibt es alles vom mittelalterlichen handgeschriebenen Brief bis hin zu modernen Erstausgaben; vom Anorak aus Seehundsfell bis hin zu einem ausgestopften Habicht, der einmal Hermann Göring gehörte. Während ich mich durch diese Sammlung pflügte – mit bereitwilliger Unterstützung des Archivdirektors, Colonel Kent Carnie –, begannen mich meine Funde mehr und mehr zu fesseln. All diese Mythen und Manien, Bruchstücke ferner Kulturen und Boten längst vergangener Lebensweisen; Werke von Menschen, die ihr Leben im Bann von Tieren verbracht hatten, die sie nahezu religiös verehrten. In mir begann sich eine Stimme zu regen, die nicht der akademischen Historikerin gehörte und die mir sagte, hier lägen außergewöhnliche Geschichten verborgen, die ich in meiner Doktorarbeit nicht unterbringen konnte, und das betrübte mich. Und noch etwas anderes kam hinzu: Ich bedauerte zunehmend, dass viele der fantastischen, inspirierenden Theorien und Konzepte, denen ich in der akademischen Welt begegnete und die mir zu verstehen halfen, weshalb wir die Natur so sehen, wie wir sie sehen, nicht weiter verbreitet waren. Es nicht sein konnten, weil den meisten von uns der Zugang zu den Orten und Foren verwehrt bleibt, an denen diese Dinge verfasst und diskutiert werden. Das empfand ich als ungerecht und empfinde es nach wie vor so.

Während ich nach meiner Rückkehr weiter über diese Frage sinnierte, traf ich in der Teestube der Universitätsbibliothek zufällig Jonathan Burt, den Herausgeber der Reihe Animal bei Reaktion Books. Er schlug mir vor, dieses Buch zu schreiben. Und bei einem Kaffee und einem Sandwich wurde die Sache besiegelt: Ich schrieb dieses Buch. Es sollte nicht nur für Historiker oder Kulturwissenschaftler sein, sondern für jedermann. Geschrieben habe ich es bei mir zu Hause, in Bibliotheken, Cafés und Zügen. Ja, sogar während eines Familienurlaubs in Italien, wo ich an einem wackligen, von Tomatensauce verkrusteten Tisch in einem Hotel am See vor mich hin tippte. All die Anekdoten und Geschichten, die ich freudigen Herzens in dieses Buch aufnahm – wie die Mafia einem Falkner drohte, ihn aus New York zu vertreiben, weil sein Falke ihre Renntauben störte, Storys von Fächertänzerinnen, Flugzeugpiloten, Astronauten und den diplomatischen Winkelzügen frühneuzeitlicher Könige –, sie hätten in meiner Doktorarbeit keinen Platz gehabt. In dieses Buch aber passten sie wunderbar. Und mich faszinierte die Idee, Fakten und Anekdoten und Bilder auf eine Weise zu verweben, dass sich, durch die Brille unserer Beziehung zu den Falken betrachtet, auch unsere Stellung in der Welt ein Stück weit erschließt.

Ich wollte über Falken und nicht über Habichte schreiben, weil sie meine Lieblingsvögel waren, die ich am besten kannte, wie ich auch in H wie Habicht schreibe. Diese gelassenen, betörend schönen Räuber der Lüfte haben wenig gemein mit den kraftstrotzenden, nervösen Habichten, obwohl sich ihre Kulturgeschichte in weiten Teilen überschneidet. Seltsamerweise aber führte mich ausgerechnet ein Habicht, dem ich nach dem Erscheinen dieses Buches begegnete, über einige komplizierte Verwicklungen zu Mabel, meinem eigenen Habicht-Weibchen.

Es war im Herbst 2006, in Usbekistan, nur wenige Monate bevor mein Vater starb. Ich war mit einer Gruppe von Feldforschern in einem russischen Jeep an den Fluss Syrdarja gefahren, der in der Provinz Andijon eine gemächliche Schleife durch Pappelwälder und fedrige graue Tamarisken zieht. Nachdem wir unsere Zelte aufgestellt hatten, unternahm ich einen Streifzug im hellen warmen Sonnenlicht, das in den Wald einfiel. Alles war still; nur das beständig herabrieselnde trockene Laub war zu hören. Meine Schuhe knirschten auf dem salzverkrusteten Schlamm und dem Laubstreu, in dem Heuschrecken und flinke silberne Eidechsen funkelten. Nach einem guten Kilometer stand ich plötzlich auf einer Lichtung und schaute in die Höhe. Und meinte, in einem Baum einen Mann stehen zu sehen. Zumindest war dies das Bild, das mir mein Gehirn für einen Moment eingab: ein leicht zur Seite geneigter Mann in einem langen Mantel. Dann erst sah ich, dass es kein Mensch war, sondern ein Habicht. Ein solcher Moment kann wie eine Erleuchtung sein. Ich hatte mir bis dahin im Grunde nie Gedanken über die phänomenologische Ähnlichkeit von Mensch und Habicht gemacht, aus der heraus das komplexe mythologische Beziehungsgeflecht zwischen Mensch und Greif entstanden sein muss, mit dem ich mich so lange beschäftigt habe und um das es auch in diesem Buch geht. Plötzlich erschien mir alles, was ich über diese seltsame symbolische Verbindung zwischen Greifvögeln und menschlichen Seelen geschrieben hatte, in einem anderen Licht, im Licht einer Wahrheit, die nicht aus Büchern stammt. Ich sah einen Habicht in einem Baum sitzen, und sah einen Menschen. Merkwürdig. Der Vogel war etwa fünfundzwanzig Meter von mir entfernt und im hellen Gegenlicht so dunkel, dass ich nicht erkennen konnte, ob er zu mir oder in Richtung Fluss schaute. Da reckte er seinen schlangenhaften Hals: Sein kleiner Kopf war mir zugewandt. Ganz langsam hob ich mein Fernglas und schloss halb die Augen, damit die Wimpern sie vor der Sonne abschirmten. Da. Da war er. So grell war das...

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