Mao und seine verlorenen Kinder - Chinas Kulturrevolution

Mao und seine verlorenen Kinder - Chinas Kulturrevolution

von: Frank Dikötter

wbg Theiss, 2017

ISBN: 9783806235463

Sprache: Deutsch

416 Seiten, Download: 3442 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mao und seine verlorenen Kinder - Chinas Kulturrevolution



Vorwort


Im August 1963 empfing der Vorsitzende Mao eine Gruppe afrikanischer Guerillakämpfer in der Versammlungshalle des Staatsrats, einem eleganten holzgetäfelten Saal im Herzen des Regierungsviertels in Beijing. Einer der jungen Besucher, ein kräftiger, breitschultriger Mann aus Südrhodesien, hatte eine Frage. Er glaubte, der rote Stern, der über dem Kreml geleuchtet hatte, sei verschwunden. Die Sowjets, die früher die Revolutionäre unterstützt hatten, verkauften jetzt Waffen an ihre Feinde. „Worüber ich mir Sorgen mache, ist Folgendes:“, sagte er, „Wird der rote Stern über dem Tiananmen-Platz in China ebenfalls erlöschen? Werdet ihr uns ebenfalls im Stich lassen und Waffen an unsere Unterdrücker verkaufen?“ Mao nahm nachdenklich ein paar Züge aus seiner Zigarette. „Ich verstehe deine Frage“, sagte er. „Es ist so: Die UdSSR hat sich dem Revisionismus zugewandt und die Revolution verraten. Kann ich dir garantieren, dass China die Revolution nicht verraten wird? Eine solche Garantie kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben. Aber wir versuchen mit allen Mitteln, China davor zu bewahren, korrupt, bürokratisch und revisionistisch zu werden.“1

Drei Jahre später, am 1. Juni 1966, rief ein agitatorischer Leitartikel in der Renmin Ribao, der Volks-Tageszeitung, die Leser auf: „Alle Monster und Dämonen wegfegen!“. Das war der Startschuss für die Kulturrevolution, die Bevölkerung wurde aufgefordert, Repräsentanten der Bourgeoisie zu denunzieren, die es darauf abgesehen hätten, „die Werktätigen zu täuschen, zu betrügen und zu betäuben, um ihre reaktionäre staatliche Macht zu festigen“. Als wäre das noch nicht genug, kam bald ans Licht, dass vier der obersten Parteiführer unter Arrest gestellt worden waren, angeklagt, ein Komplott gegen den Vorsitzenden geschmiedet zu haben. Unter ihnen der Bürgermeister von Beijing. Er hatte vor den Augen des Volkes versucht, die Hauptstadt in eine Hochburg des Revisionismus zu verwandeln. Konterrevolutionäre hatten sich in die Partei, in die Regierung und die Armee eingeschlichen und versuchten, das Land auf den kapitalistischen Weg zu führen. Jetzt begann eine neue Revolution in China. Das Volk wurde ermutigt, sich zu erheben und diejenigen aufzuspüren, die versuchten, die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur der Bourgeoisie zu verwandeln.

Wer genau diese Konterrevolutionäre waren und wie sie es geschafft hatten, ins Innere der Partei einzudringen, war unklar. Der Hauptvertreter des modernen Revisionismus war jedoch Nikita Chruschtschow, der sowjetische Staats- und Parteichef. In einer Geheimrede, die 1956 das sozialistische Lager bis ins Innerste erschütterte, hatte Chruschtschow die Reputation seines Vorgängers Josef Stalin zerstört, indem er Details seiner Schreckensherrschaft aufzählte und den Personenkult attackierte. Zwei Jahre später schlug Chruschtschow eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Westen vor. Dieses Konzept verstanden die wahren Gläubigen auf der ganzen Welt, einschließlich des jungen Guerillakämpfers aus Südrhodesien, als Verrat an den Prinzipien des revolutionären Kommunismus.

Mao, der sich an Stalin orientiert hatte, fühlte sich durch die Entstalinisierung persönlich bedroht. Er musste sich fragen, wie Chruschtschow in der mächtigen Sowjetunion, dem ersten sozialistischen Land der Welt, im Alleingang eine solch völlige Umkehr der Politik hatte bewirken können. Immerhin hatte Wladimir Lenin, ihr Gründer, nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 konzertierte Angriffe fremder Mächte erfolgreich abgewehrt und Stalin ein Vierteljahrhundert später den Überfall durch Nazideutschland überlebt. Die Antwort auf diese Frage war, dass zu wenig unternommen worden war, um das Denken der Menschen zu verändern. Die Bourgeoisie war verschwunden, doch die bourgeoise Ideologie war immer noch vorherrschend und ermöglichte es einigen wenigen ganz oben, das gesamte System zu untergraben und schließlich zu stürzen.

Nach kommunistischer Diktion war mit Vollendung der sozialistischen Transformation des Eigentums an Produktionsmitteln eine neue Revolution nötig, um sämtliche Überbleibsel der bourgeoisen Kultur endgültig auszulöschen, angefangen von privaten Gedanken bis hin zu privaten Märkten. Genauso wie der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus einer Revolution bedurfte, so bedurfte der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus ebenfalls einer Revolution: Mao gab ihr den Namen Kulturrevolution.

Es war ein gewagtes Projekt, das darauf zielte, sämtliche Spuren der Vergangenheit zu tilgen. Doch hinter all diesen theoretischen Rechtfertigungen stand die Entschlossenheit eines alternden Diktators, seinen Rang in der Weltgeschichte sicherzustellen. Mao war von seiner eigenen Größe, über die er ständig sprach, überzeugt und sah sich als führenden Kopf des Kommunismus. Das war nicht nur Hybris. Der Vorsitzende hatte ein Viertel der Menschheit zur Befreiung geführt, und im Koreakrieg gelang es ihm, im Kampf gegen das imperialistische Lager einen Stillstand des Bewegungskrieges zu erreichen.

Der erste Versuch des Vorsitzenden, die Sowjetunion zu übertrumpfen, war der „Große Sprung nach vorn“ im Jahr 1958, als die Menschen auf dem Land in riesigen Kollektiven, Volkskommunen genannt, zusammengetrieben wurden. Dadurch, dass er Kapital durch Arbeit ersetzte und das gewaltige Potenzial der Massen nutzte, glaubte er, sein Land an seinen Konkurrenten vorbeikatapultieren zu können. Mao war überzeugt, er habe die goldene Brücke zum Kommunismus gefunden, über die er als eine Art Messias die Menschheit in ein Schlaraffenland führen würde. Der „Große Sprung nach vorn“ war jedoch ein verheerendes Experiment, das viele Millionen Menschen das Leben kostete.

Die Kulturrevolution war Maos zweiter Versuch, zum historischen Fixstern zu werden, um den das sozialistische Universum kreiste. Lenin hatte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ durchgeführt und so einen Präzedenzfall für das Proletariat der ganzen Welt geschaffen. Moderne Revisionisten wie Chruschtschow hatten jedoch die Führung der Partei usurpiert und die Sowjetunion auf den Weg der kapitalistischen Restauration zurückgeführt. Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ war die zweite Etappe in der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung, welche die Diktatur des Proletariats vor dem Revisionismus bewahren sollte. Die Grundpfeiler der kommunistischen Zukunft wurden in China eingeschlagen, der Vorsitzende würde die unterdrückten und geknechteten Völker der Welt in die Freiheit führen. Mao war der Erbe, der den Marxismus-Leninismus verteidigte und auf eine neue Stufe hob, die der Marxismus-Leninismus-Mao-Zedong-Ideen.

Wie viele Diktatoren verquickte Mao grandiose Vorstellungen über seine eigene historische Bestimmung mit einer außerordentlichen Fähigkeit zur Boshaftigkeit. Er war schnell beleidigt und nachtragend, hatte dabei ein gutes Gedächtnis für Kränkungen. Gefühllos gegenüber menschlichem Verlust, gab er in den vielen Kampagnen zur Einschüchterung der Bevölkerung beiläufig Tötungsquoten aus. Mit zunehmendem Alter griff er seine Kollegen und Untergebenen, einige davon langjährige Kampfgenossen, immer häufiger an, unterwarf sie öffentlicher Demütigung, Folter und Inhaftierung. Daher ging es bei der Kulturrevolution auch um einen alten Mann, der am Ende seines Lebens persönliche Rechnungen beglich. Diese beiden Aspekte der Kulturrevolution – die Vision einer sozialistischen Welt ohne Revisionismus sowie das schmutzige, rachsüchtige Komplott gegen echte und imaginäre Feinde – schlossen einander nicht aus. Mao unterschied nicht zwischen seiner Person und der Revolution. Er war die Revolution. Der geringste Zweifel an seiner Autorität war eine unmittelbare Bedrohung der Diktatur des Proletariats.

Und seine Position wurde häufig infrage gestellt. 1956 hatten einige der engsten Verbündeten des Vorsitzenden die Geheimrede von Chruschtschow genutzt, um jegliche Bezugnahme auf die Mao-Zedong-Ideen aus den Parteistatuten zu entfernen und den Personenkult zu kritisieren. Mao kochte vor Wut, hatte aber kaum eine andere Wahl, als dies hinzunehmen. Doch der größte Rückschlag ereignete sich im Anschluss an den „Großen Sprung nach vorn“, eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes, die direkt durch seine starrköpfigen politischen Entscheidungen verursacht wurde. Mao war nicht paranoid, wenn er vermutete, dass viele seiner Kollegen seinen Rücktritt wünschten und ihn für den massenhaften Hungertod einfacher Menschen verantwortlich machten. Viele Gerüchte über ihn machten die Runde, ihm wurde vorgeworfen, er sei verblendet, nicht fähig zu rechnen und gefährlich. Sein gesamtes Vermächtnis war in Gefahr. Der Vorsitzende befürchtete, ihn könne dasselbe Schicksal treffen wie Stalin, der nach seinem Tod verurteilt wurde. Wer würde Chinas Chruschtschow werden?

Mehrere Kandidaten standen zur Wahl, angefangen mit Peng Dehuai, einem Marschall, der im Sommer 1959 in einem Brief den „Großen Sprung nach vorn“ kritisiert hatte. Doch Liu Shaoqi, die Nummer zwei der Partei,...

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