Lady Orakel - Roman
von: Margaret Atwood
Piper Verlag, 2017
ISBN: 9783492969888
Sprache: Deutsch
384 Seiten, Download: 1659 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
1
Ich plante meinen Tod mit Bedacht – anders als mein Leben, das, trotz meiner lahmen Versuche, es unter Kontrolle zu halten, dauernd auf Abwege geriet. Mein Leben hatte die Neigung zu zerfasern, wabbelig zu werden, es verschnörkelte sich girlandenartig wie der Rahmen eines Barockspiegels, was daher kam, dass ich immer den Weg des geringsten Widerstands ging. Meinen Tod wünschte ich mir im Gegensatz dazu schlicht und einfach, eher untertrieben, ja sogar mit einem kleinen Schuss Strenge, wie eine Quäker-Kirche oder wie das kleine Schwarze mit einer einzigen Perlenkette, das von allen Modemagazinen angepriesen wurde, als ich fünfzehn war. Diesmal sollte es keine Trompeten, kein großes Geschrei, keinen Flitter, keine Unklarheiten geben. Der Trick war, spurlos zu verschwinden, den Schatten einer Leiche zurückzulassen, einen Schatten, den jedermann fälschlich für handfeste Wirklichkeit hielte. Zuerst glaubte ich, ich hätte es geschafft.
Am Tag nach meiner Ankunft in Terremoto saß ich draußen auf dem Balkon. Ich hatte vorgehabt, ein Sonnenbad zu nehmen; ich sah mich selbst in mediterraner Pracht, goldbraun, lachend, mit blitzenden Zähnen ins blaugrüne Meer tauchen, endlich aller Sorgen und meiner Vergangenheit ledig. Aber dann fiel mir ein, dass ich keine Sonnencreme hatte (höchster Schutzfaktor: sonst würde ich Sonnenbrand und Sommersprossen bekommen), also legte ich mir ein paar der kümmerlichen Badetücher des Vermieters über Schultern und Schenkel. Einen Badeanzug hatte ich nicht dabei. Büstenhalter und Slip würden es auch tun, dachte ich, da der Balkon von der Straße aus nicht einzusehen war.
Ich hatte schon immer eine Schwäche für Balkone gehabt. Ich wusste, wenn ich es nur fertigbrächte, auf dem einen, dem richtigen, lange genug auszuharren, in einer langen, weißen, fließenden Robe, am besten, während der Mond im ersten Viertel stand, dann würde etwas geschehen: Musik würde erklingen, ein Schatten würde unter dem Balkon auftauchen, dunkel und geschmeidig, und würde mir entgegenklettern, während ich ängstlich, hoffnungsvoll, anmutig und zitternd an der schmiedeeisernen Balustrade lehnte. Das hier war allerdings kein sehr romantischer Balkon. Er hatte ein geometrisches Geländer, wie bei diesen Mietshäusern aus den Fünfzigerjahren, mit einem Zementboden, der schon abzubröckeln begann. Es war bestimmt nicht der Balkon, unter dem ein Mann sehnsuchtsvoll die Laute schlagen oder den er mit einer Rose zwischen den Zähnen oder einem Stilett im Ärmel erklettern würde. Ganz abgesehen davon, dass es bis zum Erdboden nur anderthalb Meter waren. Viel wahrscheinlicher würde irgendein für mich bestimmter geheimnisvoller Besucher den Schlackenpfad benutzen, der oben von der Straße zum Haus hinunterführte, mit knirschenden Schritten, Rosen oder Messer bestenfalls im Kopf.
Das jedenfalls wäre Arthurs Stil, dachte ich; er würde lieber knirschen als klettern. Wenn es nur wieder so sein könnte, wie es gewesen war, bevor er sich verändert hatte … Ich stellte ihn mir vor, wie er hierherkam, um mich zurückzugewinnen, wie er sich in einem gemieteten Fiat, an dem irgendetwas nicht in Ordnung war, den Hügel hinaufkurvte; von dem Defekt würde er mir später erzählen, nachdem wir einander in die Arme gestürzt waren. Parken würde er so dicht wie möglich an der Mauer. Vor dem Aussteigen würde er im Rückspiegel sein Gesicht kontrollieren und sich den richtigen Ausdruck zulegen: Er machte sich nicht gern lächerlich, und er würde sich vergewissern, ob er drauf und dran war, es zu tun oder nicht. Er würde sich aus dem Wagen herauswinden, abschließen, damit sein spärliches Gepäck nicht gestohlen werden konnte, würde die Schlüssel in eine Innentasche seiner Jacke stecken, nach rechts und links spähen, und dann, mit diesem komischen Kopfducken, als müsste er einem Steinwurf oder einer zu niedrigen Tür ausweichen, würde er um das rostige Tor herumschleichen und vorsichtig den Pfad hinuntergehen. Er wurde an Grenzübergängen oft durchsucht. Einfach, weil er so etwas Verstohlenes an sich hatte; verstohlen, aber korrekt, wie ein Spion.
Bei Arthurs Anblick, wie er lang und dünn zu mir herabstieg, unsicher, mit steinernem Gesicht, meine Errettung im Sinn, in seinen unbequemen Schuhen und mit seiner abgetragenen Baumwollunterwäsche, noch im Ungewissen, ob ich wirklich da war oder nicht, fing ich an zu weinen. Ich schloss die Augen: Vor mir, jenseits einer ungeheuren blauen Fläche, die ich als Atlantischen Ozean erkannte, waren alle, die ich auf der anderen Seite zurückgelassen hatte. Natürlich an einem Strand; ich hatte eine Menge Fellini-Filme gesehen. Der Wind zauste ihre Haare, sie lächelten und winkten und riefen mir etwas zu, was ich natürlich nicht verstehen konnte. Arthur war ganz vorn; hinter ihm das Königliche Stachelschwein, auch unter dem Namen Chuck Brewer bekannt, in seinem langen theatralischen Umhang; dann Sam und Marlene und die anderen. Leda Sprott flatterte wie ein Betttuch nach einer Seite weg, und dort, wo Fraser Buchanan hinter einem Busch auf der Lauer lag, konnte ich seinen lederfleckenbesetzten Ellbogen herausschauen sehen. Im Hintergrund meine Mutter in einem marineblauen Kostüm und mit weißem Hut, neben ihr, undeutlich und verschwommen, mein Vater und meine Tante Lou. Als Einzige schaute Tante Lou nicht zu mir. Sie marschierte am Strand lang, tief durchatmend und die Wellen bewundernd; ab und zu hielt sie an, um den Sand aus ihren Schuhen zu schütteln. Sie zog sie schließlich aus und ging weiter, Fuchspelz, Federhut und bestrumpfte Beine, auf eine entfernte Würstchen- und Limonadenbude zu, die, einer armseligen Fata Morgana gleich, vom Horizont her lockte.
Bei den anderen hatte ich mich allerdings getäuscht. Sie lächelten und winkten einander zu, nicht mir. Vielleicht irrten die Spiritisten, und die Toten hatten gar kein Interesse an den Lebenden? Obwohl einige von ihnen noch lebten und ich diejenige war, die für tot gehalten wurde. Sie hätten trauern müssen, doch stattdessen kamen sie mir ganz fröhlich vor. Es war einfach nicht fair. Ich versuchte, etwas düster Drohendes in ihre Strandidylle zu zwingen – einen gewaltigen, in Stein gehauenen Kopf, ein sterbendes Pferd –, doch ohne Erfolg. Tatsächlich ähnelte das Ganze weniger einem Fellini-Film als einem von Walt Disney, den ich mit acht Jahren gesehen hatte, über einen Walfisch, der an der Metropolitan Oper singen wollte. Er näherte sich einem Schiff und schmetterte seine Arien, aber die Matrosen harpunierten ihn, und jede seiner Stimmen verließ seinen Leib in einer anders gefärbten Seele und stieg immer noch singend der Sonne entgegen. Ich glaube, der Film hieß »Der Wal, der an der Met singen wollte«. Damals heulte ich wie ein Schlosshund.
Die Erinnerung daran brachte mich wirklich aus der Fassung. Ich habe nie gelernt, stilvoll zu weinen, lautlos, während aus großen leuchtenden Augen perlenförmige Tränen meine Wangen hinunterrollen, wie auf den Titelseiten der ›Wahre Liebe‹-Heftchen, ohne etwas zu verschmieren. Ich wollte, ich hätte es gelernt; dann könnte ich in aller Öffentlichkeit weinen statt in Badezimmern, dunklen Kinos, hinter Büschen und in leeren Schlafzimmern, zwischen den Mänteln der Partygäste auf dem Bett. Wenn man lautlos weinen kann, haben die Leute Mitleid mit einem. Aber es war so, dass ich schnaubte, meine Augen nahmen Form und Farbe von gekochten Tomaten an, meine Nase lief, ich ballte die Fäuste, ich stöhnte und keuchte, ich wirkte einfach störend, bis ich schließlich nur noch zur Erheiterung beitrug, eine komische Figur. Der Kummer war immer echt, aber sichtbar wurde nur ein Zerrbild des Kummers, eine übergroße Imitation wie die Neonrose der White-Rose-Tankstellen, die es auch schon längst nicht mehr gibt … Sittsames Weinen gehört zu jenen Künsten, die ich nie beherrscht habe, genauso wie das Anlegen falscher Wimpern. Ich hätte eine Gouvernante haben sollen, ich hätte die Schule beenden sollen, ein Brett zwischen die Schultern geschnallt wegen der Haltung, ich hätte den Umgang mit Wasserfarben und Selbstbeherrschung lernen sollen.
Die Vergangenheit kannst du nicht ändern, pflegte Tante Lou zu sagen. Oh, ich wollte es aber; das war das Einzige, was ich wirklich wollte. Tiefe Wehmut erfasste mich. Der Himmel war blau, die Sonne schien, links von mir schimmerte ein Scherbenhaufen wie Wasser; auf dem Geländer wärmte eine kleine, grüne Eidechse mit schillernd blauen Augen ihr kaltes Blut; aus dem Tal drang Glockengeläut, ein sanftes Muhen, der einschläfernde Ton fremder Stimmen. Ich war in Sicherheit, ich konnte von vorn beginnen, doch stattdessen saß ich auf dem Balkon, neben den Überbleibseln eines von meinen Vorgängern zerbrochenen Küchenfensters, in einem Sessel aus Aluminiumrohren und gelben Plastikstreifen, und gab erstickte Laute von mir.
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