Der Optiker von Lampedusa - Die Geschichte einer Rettung

Der Optiker von Lampedusa - Die Geschichte einer Rettung

von: Emma Jane Kirby

Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783827079329

Sprache: Englisch

160 Seiten, Download: 1183 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der Optiker von Lampedusa - Die Geschichte einer Rettung



1.


Der Optiker von Lampedusa joggt. Bei jedem Auftritt steigen von der rissigen Straße kleine Staubwölkchen hoch, und die winzigen Partikel wirbeln in einem feinen rostfarbenen Schleier um seine Knie. Heute geht nur ein leichter Wind, selbst auf der Küstenstraße; in trockenen, unregelmäßigen Stößen umweht er das Gesicht des Optikers, und dieser kann im salzigen Hauch des Windes den scharfen Geruch des Meers riechen. In der sengenden Herbstsonne ist es fast zu heiß, um zu joggen, aber er drängt voran, und der Staub, der sich mit seinem Schweiß vermischt, klebt ihm in Klumpen an den Beinen. Von irgendwoher, vielleicht vom Hafen am Ende der Stadt, hört er einen Hund jaulen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit, denkt er, kann man auf dieser Insel einen streunenden Hund kläffen hören.

Eigentlich ist die Insel eher Afrika als Italien. Hier beim Joggen, weit weg von den Gelato- und Cappuccino-Bars und den Souvenirläden der kleinen Stadt, kann man sich gut vorstellen, in Afrika zu sein, vor allem, wenn man an einem kleinen trockengemauerten Dammuso mit weiß getünchtem Dach vorbeikommt. Er kneift die Augen zusammen. Von hier aus kann man beinahe die afrikanische Küste erkennen. Tunesien, Lampedusas nächster Nachbar, ist zweimal so nah wie Sizilien.

Fünfundzwanzig Jahre lebt er nun schon in dieser trockenen, dürren Landschaft. Seit fünfundzwanzig Jahren läuft er, von Dornen zerkratzt und von Schmutz verkrustet, durch dieses zerklüftete, ausgedörrte Buschland. Wie ruhig es hier ist im Vergleich zu dem aufgeregten Chaos seiner Geburtsstadt Neapel, doch bereut hat der Optiker es noch nie, seine weitläufige Stadt gegen die Einsamkeit dieser kleinen Insel eingetauscht zu haben. Sie mag nur zehn Quadratkilometer groß sein, etwa halb so groß wie Neapel, aber auf Lampedusa ist er auf allen Seiten vom Meer umgeben. Der Optiker braucht das Meer.

Als er jetzt die Pfade der Südküste entlangjoggt, blickt er aufs Wasser. Zersplittertes Kobaltblau und Türkisgrün, glatt und glänzend wie billiger Schmuck, und er weiß, würde er jetzt hineinspringen, wäre es noch immer einladend warm, obwohl es bereits der erste Tag im Oktober ist. Wenn er sich mit seiner Frau Teresa draußen auf dem Boot aufhält, beobachtet er Delfine, mitunter sogar Pottwale, die in den ruhigen Gewässern schwimmen. Oft schwimmen auch sie selbst vor der paradiesischen Spiaggia dei Conigli, wo der ausgebleichte Sand Hitze ausstrahlt und gelegentlich Schwärme von Papageienfischen pfeilschnell durch das gebrochene Licht der Bucht schießen und Farbtupfer auf die weiße Leinwand spritzen. Im Sommer suchen sich die seltenen Unechten Karettschildkröten diese Strände aus, um ihre Eier abzulegen. Seine Frau meint, es liege daran, dass die Natur erkennt: Mit allem, was an Land gespült wird, wird Lampedusa stets behutsam umgehen.

Die Füße des Optikers hämmern weiter. Von der Hitze pulsiert eine verknotete Ader über seinem rechten Ohr, und er kann ihr Pochen über seine Glatze bis in seinen Schädel hinein verfolgen. Er geht gern an seine Grenzen, muss spüren, wie sein Körper sich verausgabt. Schlank und fit war er schon immer. Vor Jahren hatte er die körperliche Disziplin des Militärdiensts genossen, und obwohl er inzwischen Ende fünfzig sein dürfte, vernachlässigt er sich nicht.

Ein Halbwüchsiger rast auf einer alten Vespa an ihm vorbei, der laute Motorlärm durchbricht die Stille seines Laufs. Der Optiker sieht zu, wie der Junge mit kreischenden Reifen und aufheulendem Motor ganz sinnlos Spuren in den Staub zeichnet. Für Jugendliche gibt es hier abends nur wenig zu tun – eine Handvoll Bars und Cafés, ein kleiner Klub mit einer Karaokeanlage. Seine Eltern hatten nicht gewollt, dass er sich nach dem Schulabgang in Neapel herumtrieb, sich langweilte und Ärger bekam. Sie hatten ihn auf eine Berufsfachschule für Schneider geschickt, wo er lernte, Maßanzüge anzufertigen. Mit seiner Maßgenauigkeit und seinem präzisen Schnitt hatte er sich bald einen Namen gemacht. Er muss lächeln. Er hatte gewusst, dass es ihn auf lange Sicht nicht wirklich befriedigen würde, hatte er doch den heimlichen Wunsch gehegt, Optiker zu werden. Eine seltsame Leidenschaft für einen jungen Mann, möchte man meinen, aber das Sehvermögen hat ihn schon immer fasziniert: wie und was Menschen sehen. Also hatte er neben der Schneiderei Optiker gelernt.

Eine kleine Gruppe afrikanischer Männer, die in die Stadt wollen, schlurft ihm entgegen. Im Vorbeilaufen winkt er ihnen zu, und im Gegenzug murmeln sie einen schüchternen Gruß. Er fragt sich, ob sie wohl an diesem Morgen auf der Insel angekommen sind – inzwischen wird er fast jeden Tag Zeuge, wie die Busse den Hafen verlassen, überladen mit frisch eingetroffenen Migranten. Diese treiben sich vor dem Supermarkt gegenüber seinem Geschäft herum, und er sieht, wie sie sich in Scharen um die Kirche drängen. Vielleicht ist der Teil Afrikas, aus dem sie stammen, besonders christlich? Seine Nachbarn sammeln Lebensmittel und andere Dinge für sie; irgendwer klappert immer mit der Spendenbüchse. An diesem Morgen war eine Frau, vermutlich von der Gemeinde, vorbeigekommen und hatte gefragt, ob er nicht alte Kleider oder Schuhe spenden wolle, aber er war gerade in Papierkram vertieft und hatte keine Zeit. Offenbar platzt das Flüchtlingslager wieder einmal aus allen Nähten; vielleicht ziehen sie es deshalb vor, auf der Insel umherzuwandern.

Verrückt, denkt er, dass sie alle hier auftauchen, wo dieses Land ihnen doch herzlich wenig zu bieten hat. In den vergangenen paar Jahren hatte es viele Momente gegeben, da er glaubte, sein Geschäft werde pleitegehen; wie viele schlaflose Nächte hatten er und Teresa deswegen schon gehabt? Er schnauft geräuschvoll. Alles, was er sich so mühsam erarbeitet hat, ist bedroht! Er spürt, wie sein Herz schneller schlägt, um mit seiner aufsteigenden Wut mitzuhalten. Immer wieder hatte die Stadtverwaltung die Gewerbesteuern erhöht, bis ihm vor lauter Steuern und Gebühren und Abgaben und Gott weiß was fast die Luft ausging. Es fühlt sich an, als werde er ständig von dem einen oder anderen Beamten gepiesackt und angeschnorrt.

Er läuft jetzt geradewegs der niedrigen Sonne entgegen, und sie zwingt ihn zum Wegschauen. Wenn er zwinkert, sieht er kleine bunte Funken, rot und golden und grün, und er hebt die Hand, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. Er hätte eine Sonnenbrille tragen sollen. Das Licht blinkt und blitzt um seine Augen.

Natürlich macht er sich vor allem um seine beiden Söhne Gedanken. Er muss sicherstellen, dass sie versorgt sind, denn wie um alles in der Welt sie in dieser schrumpfenden Wirtschaft langfristige Arbeitsstellen finden sollen, ist ihm ein Rätsel. Beide sind aufgeweckte Jungen und tüchtige Arbeiter. Der ältere möchte seine eigene Firma gründen; er besitzt Unternehmergeist, aber natürlich birgt das ein Risiko. Sich selbstständig zu machen birgt immer ein Risiko, das weiß er nur allzu gut.

Aber er könnte sich nicht mehr vorstellen, für jemand anderen zu arbeiten; es wäre undenkbar. Sein Blick wandert von links nach rechts. Sein eigener Herr zu sein, sich seine Zeit selbst einzuteilen, seine eigene kleine Welt zu verwalten – das ist es, was ihm gefällt. Und keiner kann behaupten, dass er sich nicht anstrengt; unter der Woche arbeitet er hart, damit sein kleines Geschäft floriert, für seine Familie, und dann sein Lohn – er wirft einen weiteren Blick über die Schulter aufs Meer –, sein Lohn ist es, diese wunderschöne Natur seine Spielwiese nennen zu dürfen.

Die Möwen haben angefangen, aufgeregt zu kreischen, und als der Optiker aufblickt, sieht er, wie sie sich zu einem Schwarm vereinen und über der Küste kreisen. Er weiß, in der Hoffnung, ein paar Abfälle zu ergattern, warten sie darauf, dass der letzte Fischtrawler in den Hafen einfährt. Wenn er seinen Lauf zeitlich abstimmt, wird er rechtzeitig wieder im Hafen sein, um das Boot abzupassen und sich den besten Fang fürs Abendessen auszusuchen.

Er joggt an einigen jungen Afrikanern vorbei, die am Straßenrand kauern und an ihren Handys herumfummeln. Er nickt ihnen höflich zu, und sie sehen ihm neugierig nach, als er in seinem schweißgetränkten T-Shirt die Straße hinuntersprintet. Das Gestrüpp hinter ihnen ist mit bunten Plastikverpackungen und zerdrückten Getränkedosen übersät. Er kickt eine Dose an den Straßenrand. So viel Müll jetzt auf der Insel! In den Dornbüschen haben sich blaue Plastikfetzen verfangen, überall liegen alte Essenskartons herum.

Zwanzig Jahre zuvor, als er die Straßen der Insel noch ganz mühelos ablaufen konnte, entdeckte der Optiker von Lampedusa mitunter einen verängstigten Migranten, der die Felsen zu seinem Weg heraufkletterte. Fast immer war dieser...

Kategorien

Service

Info/Kontakt