Bindung im Kindesalter. - Diagnostik und Interventionen

Bindung im Kindesalter. - Diagnostik und Interventionen

von: Henri Julius, Barbara Gasteiger-Klicpera, Rüdiger Kissgen (Hrsg.)

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2008

ISBN: 9783840916137

Sprache: Deutsch

333 Seiten, Download: 1906 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Bindung im Kindesalter. - Diagnostik und Interventionen



5. Diagnostik der Bindungsqualität in der frühen Kindheit − Die Fremden Situation (S. 91-92)

Rüdiger Kißgen

1. Einleitung

Die Fremden Situation ist das zentrale Inventar der Bindungsforschung zur Bestimmung der Bindungsqualität eines Kindes an seine Bezugsperson zum Ende des ersten Lebensjahres. In dieser von Mary Ainsworth und ihrer Arbeitsgruppe (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978, Ainsworth & Wittig, 1969) konzipierten Laborsituation wird das Kind verschiedenen Stressoren ausgesetzt, die durch ihre kumulative Wirkung das Bindungsverhaltenssystem des Kindes aktivieren. Anhand von Videoaufzeichnungen wird nach der Untersuchung die Fähigkeit des Kindes beurteilt, seine anwesende Bezugsperson zur Regulation des aktivierten Bindungsverhaltenssystems zu nutzen. Diese über vier Verhaltensskalen vorgenommene Einschätzung bildet die Grundlage für die Klassifikation der Bindungsqualität des Kindes. Gelingt es dem Kind, durch den Kontakt zu seiner Bezugsperson sein Bindungsverhaltenssystem zu regulieren, so spricht man von einer sicheren Bindung. Gelingt dies dem Kind nicht oder bemüht es sich, sein Bindungsverhaltenssystem ohne die anwesende Bezugsperson zu regulieren, so hat sich im ersten Lebensjahr eine nicht sichere Bindung an die begleitende Bezugsperson entwickelt. Das Wissen um die Bindungsqualität von Kindern ist im Hinblick auf deren weitere Entwicklung von Bedeutung. Wie die Längsschnittstudien aus der Bindungsforschung zeigen, kommt eine sichere Bindung einem protektiven Faktor für die psychosoziale Entwicklung gleich. Unsichere Bindungsformen hingegen stellen diesbezüglich ein Handicap dar.

2. Theoretische Fundierung und Entwicklung

Psychoanalyse, Ethologie und Systemtheorie sind die drei Säulen, auf denen der englische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1907-1990) in einer Trilogie (Bowlby, 1969, 1973, 1980, 1982) die Bindungstheorie entwirft. Bei Betrachtung seines Lebensweges (Holmes, 2002) lässt sich mutmaßen, dass Bowlbys herausragendes Interesse für die Themen „Bindung“ und „Trennung“ dadurch ausgelöst wurde, dass er 1914 mit sieben Jahren wegen der drohenden Gefahr eines Luftangriffs auf London in ein Internat geschickt wurde. Bowlby litt unter der Trennung von seiner Familie derart, dass er später einmal gesagt haben soll, er selbst würde nicht einmal einen Hund ins Internat schicken (Dornes, 2000). Bowlby (1969) konzipierte Bindung als eines von mehreren angeborenen Verhaltenssystemen wie beispielsweise der Exploration, der Ernährung, der Reproduktion, der Sexualität und der Pflege. Die einzelnen Systeme haben sich im Verlauf der Evolution herausgebildet, da sie in ihrer Konsequenz substantiell zum Überleben der Spezies Mensch beigetragen haben. Dem Bindungsverhaltenssystem spricht er die Funktion zu, die Nähe des Kindes zu seiner Bezugsperson in Abhängigkeit vom inneren physiologisch-emotio nalen Zustand und von äußeren situativen Gegebenheiten zu regulieren. Wie Ainsworth et al. (1978) ausführen, ist speziell die Entwicklung menschlicher Säuglinge einerseits von einer langen Zeit der Hilflosigkeit in Koppelung mit einem relativen Defizit reflexbedingter Handlungsmuster geprägt. Diese lange Periode der Hilflosigkeit und Unreife impliziert eine lange Zeit der Vulnerabilität. Andererseits stellt diese Ausgangslage eine notwendige Bedingung für Flexibilität, Lernen und Anpassung an die Umwelt dar. In dieser Zeit ist der menschliche Säugling wie kein anderes Lebewesen abhängig vom Schutz durch andere. Bowlby (1969) führt aus, dass der Säugling folglich mit einem relativ stabilen Verhaltenssystem ausgestattet sein muss, welches eine ausreichende Nähe zu diesen anderen gewährleistet. Dieses zum Schutz führende Verhaltenssystem, das Bindungsverhaltenssystem, funktioniert in Abhängigkeit von den gegebenen Umweltbedingungen als Regelkreis. Aktiviert wird es durch emotional belastende Auslöser wie beispielsweise Müdigkeit, fremde Personen, neue Situationen, Angst, Krankheit, Trennung, Kummer. Im Zustand der Aktivation lassen sich die dem Bindungsverhaltenssystem Ausdruck gebenden Bindungsverhaltensweisen beobachten. Diese können unterteilt werden in Signalverhaltensweisen (Schreien, Weinen, Lächeln, Vokalisieren, Anblicken) und Annäherungsverhaltensweisen (Nähe herstellen, Nachfolgen, Suchen). Beide Verhaltensgruppen dienen der Herstellung von Nähe zwischen dem Kind und seiner Bindungsperson (räumliches Ziel) und gewährleisten somit Schutz (emotionales Ziel). Bowlby (1969) argumentiert, dass das Bindungsverhaltenssystem analog zu physiologischen Steuerungssystemen, die die Funktion physiologischer Prozesse gewährleisten, die Nähe oder Erreichbarkeit eines jeden Partners einer Bindungsbeziehung innerhalb gewisser Entfernungs- und Verfügbarkeitsgrenzen im Sinne eines dynamischen Gleichgewichts aufrecht erhält. Antithetisch zum Bindungsverhaltenssystem ist das Explorationsverhaltenssystem des Kindes ausgerichtet. Bei dessen Aktivierung ist die kindliche Motivlage von Wohlbefinden und dem Gefühl von Sicherheit bestimmt. Das Kind zeigt sich unternehmungslustig, explorativ, sozial neugierig sowie spiellustig. Es kann seine Umgebung mit diesen Verhaltensweisen allerdings nur dann explorieren, wenn das Bindungsverhaltenssystem deaktiviert ist.

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