Ostwind - Aris Ankunft

Ostwind - Aris Ankunft

von: Lea Schmidbauer

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2017

ISBN: 9783641218577

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 1429 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ostwind - Aris Ankunft



1. Kapitel


Ein kaum hörbares Knacken aus dem dürren Unterholz war das erste Warnzeichen. Dann ein leises, fauchendes Knistern, das mit jedem ihrer Pulsschläge lauter wurde. Irgendetwas da draußen versuchte in ihr Bewusstsein zu dringen, aber noch war nichts zu spüren außer kühler Nachtluft auf ihrer Haut. Dann kam der Geruch. Er kitzelte in ihrer Nase wie eine der vielen lästigen Fliegen dieses heißen Sommers. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, um ihn loszuwerden, und drehte sich mit einem leisen Seufzer auf die andere Seite. Hier war die Luft zwar kühler – aber der Geruch war immer noch da. Fremd und gleichzeitig vertraut. Es roch nach … Sommer. Und Sonne. Lagerfeuer am Baggersee. Sie lächelte halb im Schlaf und ihre Hand tastete nach der beruhigenden Wärme des Pferdes, das neben ihr schlief. Doch sie griff ins Leere. Leise Unruhe stieg in ihr auf. Wieder rollte sie sich herum – und diesmal schlug ihr die Hitze ins Gesicht wie ein Faustschlag. Beißender Gestank raubte ihr den Atem, sie hörte das Fauchen der viel zu nahen Flammen. Adrenalin schoss in ihren Körper und riss sie auf die Füße. Das war kein harmloses Lagerfeuer, das war … richtiges FEUER. Überall! Es hatte das vertrocknete Gras um sie entzündet, und nun fraßen sich die Flammen mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den hölzernen Unterstand am Rande der großen Koppel zu. Der flackernde Schein des Feuers erhellte die mondlose Dunkelheit und nur deshalb sah sie in diesem Augenblick ihr Pferd. Es hatte unter dem Dach Schutz gesucht. Nun hatten die Flammen ihm den Fluchtweg abgeschnitten und trieben es immer weiter in den Unterstand hinein. Nur noch wenige Meter waren sie von den Heuballen entfernt, die unter dem Vordach gestapelt waren. Sie musste zu ihm! Musste ihm helfen. Sie spürte seine Angst, die sie umschloss wie eine bleierne Klammer. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr bewegen. Ihre Füße gehorchten ihr nicht. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Hilflos musste sie zusehen, wie das schwarze Pferd sich aufbäumte, als seine Hufe an die hölzernere Rückwand schlugen. Sie konnte nicht mehr atmen, doch es war nicht das Feuer, sondern eine grauenhafte Gewissheit, die ihr die Luft nahm. Ostwind würde vor ihren Augen verbrennen und sie konnte ihn nicht retten!

NEIIIINNNN! Mit einem gellenden Schrei fuhr Mika aus dem Schlaf. Doch da war kein Feuer mehr um sie herum, sondern nur taufeuchtes Gras und ein paar Vögel, die aus der alten Eiche aufflatterten. Alles gut. Alles gut. Traum. Nur der Traum, versuchte sie sich zu beruhigen, doch ihr Puls raste immer noch und ihr Herz schlug schmerzhaft gegen ihre Rippen. Sie rollte sich auf den Bauch und sah sich suchend um. Und fand am Ende der Koppel die dunkle Silhouette, die sich gegen den fahlen Morgenhimmel abzeichnete. Das große schwarze Pferd stand dort und sah mit gespitzten Ohren alarmiert zu ihr herüber. Mika setzte sich auf und atmete tief durch, um den letzten Rest ihres Albtraums zu vertreiben.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken«, murmelte sie zerknirscht und spürte im selben Moment, wie die vertraute Beklommenheit sie beschlich, die seit gut drei Wochen ihr stetiger Begleiter war. Sie wusste, sie hatte Ostwind nicht geweckt. Als der Hengst sich in Bewegung setzte und mit gesenktem Kopf auf sie zutrottete, fragte sich Mika, ob er überhaupt noch schlief. Sam hatte ihr zwar immer wieder versichert, dass Pferde wunderbar im Stehen schlafen konnten und es schlicht unmöglich war, ohne Schlaf auszukommen, aber Mika war nicht wirklich davon überzeugt. Ostwind war bei ihr angekommen. Behutsam tastete seine weiche Pferdenase über ihren Nacken und die warme Luft kitzelte so, dass sie unwillkürlich lächeln musste. Sie drehte sich um, streichelte seine Stirn und das Lächeln verschwand wieder. Im milchigen Licht der ersten Sonnenstrahlen stand der Hengst vor ihr und ohne Vorwarnung füllten sich Mikas Augen mit Tränen, die sie ungehalten mit den Handrücken wegwischte. Nicht! Schon wieder! Heulen! Befahl sie sich zum hundertsten Mal – aber es half nichts. Sie würde sich an diesen Anblick nicht gewöhnen, egal was sie versuchte. Denn ihr Pferd war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein glattes lackschwarzes Fell war aschgrau und struppig, die zweifarbige Mähne hing ihm strähnig über die Augen, die Schulterblätter ragten knochig hervor und man sah jede einzelne Rippe seines mächtigen Brustkorbs. Die Brandwunden an den Fesseln und am Bauch waren gut verheilt und kaum noch sichtbar, aber die größte Veränderung, über die Mika nicht hinwegkam, betraf Ostwinds Augen. Äußerlich waren sie wie früher: goldbraun – aber etwas in ihnen schien seit dem Unfall unwiderruflich erloschen. Augen waren der Spiegel der Seele, das hatte Mika auf einem von Mariannes kitschigen Kalendern gelesen, die im Gutshaus auf der Toilette hingen. Über die schwülstigen Sprüche hatte sie sich mit Fanny immer lustig gemacht, aber jetzt saß sie hier, sah ihr Pferd an und lachte nicht mehr. Denn seit dem Feuer, das vor drei Wochen auf der Koppel ausgebrochen war und Ostwind schwer verletzt hatte, hatten seine Augen sich verdüstert. Und, wie Mika deutlich spüren konnte, seine Seele auch. Die äußerlichen Wunden waren seitdem verheilt, aber die Angst war geblieben. Egal was sie versuchten, der Hengst fand keine Ruhe mehr. Er schlief nicht, er fraß nicht – zumindest nicht, wenn Mika in der Nähe war. Und das war fast immer, denn sie wich ihm nur noch von der Seite, wenn es gar nicht anders ging.

»Boom-tschakka-lingling«, wummerte es plötzlich und ziemlich unpassend in die Morgenidylle. Mika fuhr zusammen und auch Ostwind, der gerade halbherzig interessiert an einem grünen Grasbüschel geschnuppert hatte, riss den Kopf hoch und galoppierte davon. Entnervt wühlte Mika das Handy hervor, das irgendwo unter ihrer zusammengeknüllten Sweatjacke im Gras lag. In diesem Moment hasste sie Fanny, die immer, wenn sie Mikas Handy in die Finger bekam, heimlich einen neuen, noch schrecklicheren Klingelton einstellte. Sie fand es lustig, dass Mika jedes Mal fast einen Herzinfarkt bekam und noch lustiger, dass ihre beste Freundin nicht wusste, wie sie den Ton selbst verändern konnte. Mika spürte, wie eine ungerechte Wut auf ihre Freundin in ihr hochstieg, die mit ihrem albernen Streich Ostwind gerade am Fressen gehindert hatte. Mit dem nächsten »Boom-tschakka-lingling« riss sie das Handy ans Ohr.

»WAS

»Was was?«, echote Fanny am anderen Ende etwas ratlos.

»WAS soll das mit den Klingeltönen, zum Beispiel? Sind wir nicht langsam zu alt für so einen Quatsch?«

»Du vielleicht«, erwiderte Fanny. »Ich niemals. Boom-tschakka!« Mika konnte das schiefe Grinsen in ihrem Gesicht förmlich sehen. »Aber apropos erwachsen und reif sein: Wieso schreibt DEIN Freund MIR mitten in der Nacht und fragt, ob DU zu ihm nach Amerika kommst?«

»Weil ich …« Mika biss sich auf die Unterlippe. Es zum ersten Mal auszusprechen, fiel ihr schwerer als sie gedacht hatte. »Weil ich nicht fahre.« Sie spürte einen heftigen Stich in der Herzgegend, den sie tapfer ignorierte. »Weil ich hierbleibe«, setzte sie unnötigerweise hinzu, als würde das ihre Entscheidung überzeugender machen. Dann kniff sie die Augen zusammen und wartete auf das unvermeidliche Donnerwetter.

Doch Fanny schwieg. Überrascht machte Mika die Augen wieder auf. »Hallo? Bist du noch da?«

»Ja, ich bin da«, kam es von Fanny zurück, doch es klang eher nachdenklich als empört.

»Und … was sagst du dazu?«, fragte sie vorsichtig nach einer vollen weiteren Schweigeminute.

Fanny seufzte. »Ach Mika. Was soll ich dazu sagen? Ich hab schon so viel mit dir erlebt in den letzten Jahren, ich habe irgendwie aufgehört, mich aufzuregen. Wenn du nicht nach Amerika zu Milan und Ora willst, um Wildpferde zu kuscheln oder was auch immer ihr da macht, sondern lieber den ganzen Tag neben Ostwind auf der Koppel hockst und ihn traurig anstarrst, dann musst du das wohl machen. Aber es wäre doch schön, wenn du Milan das wenigstens selber sagen würdest. Der arme Kerl rechnet nämlich damit, dass du überübermorgen in Phoenix, Arizona, aus dem Flugzeug steigst und wundert sich nur ein klitzekleines bisschen, wieso du seit drei Tagen nicht mehr auf seine Nachrichten antwortest!«

Unwillkürlich hielt Mika das Telefon ein Stück von ihrem Ohr weg, denn Fannys Stimme war immer lauter geworden und hatte sich zum Ende hin fast überschlagen.

»Schön, dass wenigstens du dich nicht aufregst«, bemerkte sie trocken und riss frustriert ein paar Grashalme aus.

»Ja. Das ist eine meiner großen Stärken: Selbstbeherrschung im Angesicht absoluter Hirnrissigkeit«, brummte Fanny und fügte dann versöhnlicher hinzu. »Also, willst du’s mir erklären, oder kann ich dann weiterschlafen? Der gute Milan hat das mit der Zeitverschiebung nämlich offensichtlich nicht begriffen und mich mit seiner Message aufgeweckt.«

Mika sah schuldbewusst auf ihr Handy, auf dem eine kleine rote »17« die Anzahl der ungelesenen Nachrichten anzeigte, die Milan ihr in den vergangenen Tagen geschickt hatte.

Und plötzlich brach es aus ihr heraus.

»Ich kann nicht wegfahren, wenn es Ostwind so schlecht geht. Ich kann ihn nicht einfach hierlassen. Und ja! Ich vermisse Milan, ich vermisse ihn ganz schrecklich. Und ich vermisse Ora! Ich will mir gar nicht...

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