Jeder ist beziehungsfähig - Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe

Jeder ist beziehungsfähig - Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe

von: Stefanie Stahl

Kailash, 2017

ISBN: 9783641207410

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 1454 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Jeder ist beziehungsfähig - Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe



Urvertrauen und das gespiegelte Selbstwertempfinden

Menschen kommen mit körperlichen und psychischen Grundbedürfnissen auf die Welt. Das Neugeborene ist zunächst dominiert von seinen körperlichen Empfindungen: Hunger, Durst, Kälte, Säugen, Füttern, Waschen, Windeln, Streicheln – die ersten Interaktionen mit seinen Bindungspersonen sind ganz körpernah. Das Bindungsbedürfnis des Säuglings wird durch körperbezogene Handlungen seiner Pflegepersonen erfüllt oder im ungünstigen Fall nicht bzw. nur unzulänglich erfüllt. Im ersten Lebensjahr entsteht das sogenannte Urvertrauen oder eben auch Urmisstrauen. Erlebt der Säugling bzw. das Kleinkind, dass jemand kommt, wenn es schreit, dass es gehalten, gestreichelt und gefüttert wird, dann entsteht in ihm auf einer tiefen körperlichen Ebene ein Vertrauen in diese Welt und andere Menschen, das sich in dem Gefühl manifestiert, willkommen zu sein. Aber nicht nur durch die körperbezogenen Pflegehandlungen erfährt das Kind etwas über seinen Wert, sondern auch durch die Mimik seiner nächsten Bezugspersonen. Wenn die Eltern häufig lächeln und strahlen, wenn sie ihr Kind betrachten, dann spiegelt dies dem Kind, dass seine Eltern froh und glücklich mit ihm sind. In der Psychologie spricht man deshalb vom gespiegelten Selbstwertempfinden. Es ist eine tiefe Konditionierung, die uns ein Leben lang erhalten bleibt: Wir streben nach Anerkennung durch unsere Mitmenschen und schämen uns, wenn wir Ablehnung erfahren. Der Wunsch nach Anerkennung und die Angst vor Ablehnung sind zutiefst menschliche Motive, die im Dienste unseres Bindungsbedürfnisses stehen. Wäre uns nämlich alles egal und nichts peinlich, dann wären wir nicht anpassungsfähig. Wir wären im wahrsten Sinne des Wortes a-sozial. Unser tiefes Bedürfnis nach Selbstwert und das emotionale Druckmittel Schamgefühl regulieren unser Verhalten in der Gemeinschaft.

Ob unsere psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung und Selbstwert von unseren Eltern erfüllt werden, hängt in hohem Maße davon ab, wie bindungsfähig und einfühlsam diese sind. Das elterliche Einfühlungsvermögen gilt als das Königskriterium für Erziehungskompetenz. Wie ich bereits an anderer Stelle geschrieben habe, ist die Empathie die Brücke vom Ich zum Du und somit ein wesentliches Merkmal unserer Bindungsfähigkeit. Gerade in den ersten Lebensjahren, in denen der Säugling seine Bedürfnisse nicht formulieren kann, ist er darauf angewiesen, dass seine Pflegepersonen sich in seine Bedürfnislage einfühlen können. Aber auch in späteren Entwicklungsjahren ist es von großer Bedeutung, dass die Eltern, oder wenigstens ein Elternteil, sich in die Wünsche, Freuden und Nöte des Kindes einfühlen können. Durch die Einfühlung erfährt das Kind, dass es richtig ist, so wie es ist und dass seine Gefühle berechtigt sind, was natürlich gleichsam auch bedeutet, dass es lernt, seine Gefühle und sein Verhalten zu regulieren. Kommt das Kind beispielsweise ganz traurig aus dem Kindergarten nach Hause, weil sein bester Freund nicht mit ihm spielen wollte, dann wird der einfühlsame Elternteil ihm seine Trauer spiegeln, indem er möglicherweise sagt: »Oje, ich kann verstehen, dass du traurig bist, weil der Philipp nicht mit dir spielen wollte.« Nachdem das Gefühl des Kindes benannt und anerkannt wurde, wird der einfühlsame Elternteil dann vielleicht auch eine Lösung vorschlagen: »Warte doch mal ab – vielleicht ist der Philipp morgen ja ganz anders drauf. Und wenn nicht, spielst du halt mit einem anderen Kind.« Hierdurch lernt das Kind gleichzeitig mehrere Dinge: 1. Das, was ich da fühle, heißt »traurig«. 2. Dieses Gefühl ist berechtigt, und 3. Es gibt eine Lösung für dieses Gefühl. Und so verhält es sich auch mit anderen Gefühlen wie Freude, Zuneigung, Wut, Scham oder Eifersucht. Das Kind lernt über das einfühlsame Formulieren und Kommentieren seiner Bezugspersonen, diese Gefühle zu benennen und sie in sich zu integrieren. Das bedeutet, dass es grundsätzlich alle Gefühle haben darf und lernt, mit ihnen umzugehen.

Haben die Eltern hingegen Schwierigkeiten, sich in ihr Kind einzufühlen, dann signalisieren sie ihm (ungewollt) immer wieder, dass seine Gefühle und Bedürfnisse nicht okay sind. Dies muss nicht unbedingt für das gesamte Gefühlsspektrum gelten; manche Eltern können nur mit bestimmten Gefühlen schlecht umgehen. Wut ist zum Beispiel so eine Emotion, mit der viele Menschen ein Problem haben – entweder, weil sie sie schlecht regulieren können und zu aggressiv sind, oder, weil sie sie chronisch unterdrücken, also aggressionsgehemmt sind. Letztere haben bei ihren Eltern erfahren, dass Wut unerwünscht, schlecht oder gar gefährlich ist, und entsprechend gelernt, dieses Gefühl zu ersticken. Wenn sie diese Prägung später nicht reflektieren, dann werden sie sie an ihre eigenen Kinder weitervermitteln. Das Kind dieser Eltern muss dann also, so wie einst Mama und Papa, sich den Wünschen seiner Eltern unterordnen und seine Wut unterdrücken. Es gibt also um der Anpassung willen einen Teil seiner Authentizität auf. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, dass ein Kind ungebremst seine Wut ausagieren soll – natürlich muss es lernen, seine Wutgefühle zu regulieren, und auch die Anlässe für seine Wut werden sich durch eine gelungene Erziehung im Zuge seiner Entwicklung verändern –, aber es sollte so sein, dass Wut eine Emotion ist, die grundsätzlich erlaubt ist. Sie ist ein vitaler Ausdruck der Selbstbehauptung, und wir benötigen sie für unsere Abgrenzungsfähigkeit.

Um mit den Wutgefühlen ihrer Kinder umzugehen, sollten Eltern die Wut ihres Kindes am besten nicht allzu persönlich nehmen. Manche Mütter und Väter haben jedoch ein Problem damit, wenn ihr Kind sich von ihnen abgrenzt, wie es beispielsweise im sogenannten Trotzalter ganz heftig der Fall ist. Um sich erfolgreich gegen die Eltern zu behaupten, benötigt das Kind Trennungsaggression und brüllt der Mutter dann beispielsweise wütend entgegen: »Geh weg!« Diese Formulierung ist natürlich nicht besonders höflich, aber dem Entwicklungsstadium eines Dreijährigen, der sich noch nicht in die Befindlichkeit seiner Eltern einfühlen kann, durchaus angemessen. Manche Eltern jedoch, deren Selbstwertgefühl labil ist, nehmen solche Wutausbrüche ihrer Kinder zu persönlich und reagieren darauf entweder mit unangemessen starker eigener Wut oder mit Trauer und Enttäuschung. Reagieren die Eltern (wiederholt) mit starker Wut, dann wird das Kind sich ängstigen und lernen, dass Selbstbehauptung gefährlich ist. Reagieren die Eltern (wiederholt) mit Enttäuschung und Trauer, dann lernt das Kind, dass es andere verletzt, wenn es sich selbst behauptet, und dass es für die Gefühle seiner Eltern verantwortlich ist. Diese Erfahrungen spuren sich im Gehirn des Kindes als übergeordnete Schemata und Verhaltensprogramme ein.

Gute Eltern erfüllen also nicht nur die Bindungswünsche ihres Kindes, sondern bringen auch Verständnis für seine autonomen Bedürfnisse auf. Die kindliche Autonomieentwicklung ist verwoben mit dem angeborenen Erkundungsdrang, der das Kind neugierig und wissbegierig seine Umwelt erforschen lässt. Kinder haben einen starken Antrieb, die Dinge um sie herum zu verstehen und in den Griff zu bekommen. Deswegen lieben sie auch bestimmte Spiele, wie beispielsweise, ihr Spielzeug immer wieder auf den Boden zu werfen in der Hoffnung, dass ein Erwachsener es wieder aufhebt. Auf diese Weise trainieren sie ihre sogenannte Selbstwirksamkeit, das heißt, sie lernen, dass sie einen gewissen Einfluss auf ihre Umgebung nehmen können. Das Gefühl, Einfluss nehmen zu können und zwischenmenschlichen Beziehungen nicht einfach nur ausgeliefert zu sein, ist auch ein Kernmerkmal des autonomen Erlebens. Deswegen ist es wichtig, dass Kinder auch mal ihren Willen durchsetzen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten argumentieren dürfen. Dadurch lernen sie, dass es okay ist, einen eigenen Willen zu haben und dass sich Kämpfen durchaus lohnen kann. Gleichzeitig darf natürlich der Wille des Kindes nicht der alleinige Maßstab für das Handeln seiner Eltern sein; es muss sich schließlich auch anpassen lernen. Unsere Bindungswünsche und unser Autonomiestreben interagieren und konkurrieren beständig miteinander. Die Anpassung, die im Dienste der Bindung steht, will genauso gelernt sein wie die Selbstbehauptung, die im Dienste der Autonomie steht. Für die Bindung muss man immer ein Stück Autonomie aufgeben und für die Autonomie immer ein Stück Bindung. Es ist ein beständiges Ausbalancieren zwischen beiden Bedürfnissen erforderlich, und im günstigsten Fall haben wir das, bis wir erwachsen sind, gelernt. Oft ist dies jedoch nicht der Fall: Viele Menschen sind zu angepasst, andere zu rebellisch, wieder andere pendeln zwischen beiden Extremen.

Letztlich sei noch erwähnt, dass die Eltern natürlich nicht nur durch ihr Erziehungshandeln tiefe Spuren in ihren Kindern hinterlassen, sondern auch durch ihre Vorbildfunktion. Schließlich identifizieren sich Kinder mit ihren Eltern, vor allem mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil als Rollenvorbild. So leben einige Mütter ihren Töchtern beispielsweise eine geringe Selbstständigkeit vor, indem sie sich ängstlich ihrem Ehemann zu stark anpassen und sich von ihm emotional und finanziell abhängig machen. Oder Väter leben ihren Söhnen ein schwach ausgeprägtes Bindungsverhalten vor, indem sie häuslich sowohl körperlich als auch emotional häufig abwesend sind. Natürlich hinterlässt der abwesende Vater auch in seiner Tochter Spuren, so wie die wenig autonome Mutter in ihrem Sohn. Wenn man also verstehen möchte, welche Prägungen man in seinem Elternhaus erfahren hat, dann...

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