Autonomie - Ein Versuch über das gelungene Leben

Autonomie - Ein Versuch über das gelungene Leben

von: Beate Rössler

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518751121

Sprache: Deutsch

350 Seiten, Download: 5209 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Autonomie - Ein Versuch über das gelungene Leben



Einführung: Autonomie im täglichen Leben


Dass wir autonom sind, davon gehen wir in westlichen, liberalen Gesellschaften im Allgemeinen aus. Wir halten es für eine Selbstverständlichkeit, dass wir das Recht haben, autonome Entscheidungen zu treffen und ein selbstbestimmtes Leben zu leben; und wir glauben, dass wir die Fähigkeiten haben, ein solches Leben zu leben, darüber nachzudenken, was wir tun und wie wir leben wollen, und dies dann auch in die Tat umzusetzen. Das schätzen wir auch: Denn ein Leben, in dem ich existentiell wichtige Dinge gegen meinen Willen, gegen meine eigenen Entscheidungen tun und leben müsste, ein heteronomes Leben in diesem Sinn könnte niemals ein gelungenes, ein gutes Leben sein.

Autonomie ist – insbesondere seit der Philosophie Kants – ein Grundthema der Philosophie: So gibt es in der gegenwärtigen Theorienlandschaft auf der einen Seite normative Theorien, die detaillierte – häufig idealisierte – Bedingungen beschreiben, unter denen ein autonomes Leben möglich ist; und natürlich auch Theorien, die die Problemlosigkeit eines autonomen Lebens behaupten. Doch auf der anderen Seite finden sich fundamentale Zweifel an der Möglichkeit und dem Sinn von Autonomie, etwa in Positionen, die die Undurchführbarkeit des autonomen Lebens zu beweisen suchen, indem sie uns vor Augen führen, wie sehr jeder und jede von uns in nicht gewählten Abhängigkeiten lebt. So ist Autonomie zwar moralisch und rechtlich grundlegend für unsere Gesellschaften; doch was dies genau für unser autonomes Leben bedeutet, bleibt häufig unklar. Das wirft die Frage auf, wie sich ein plausibler Begriff von Autonomie zwischen den detaillierten normativen Theorien und Verteidigern einerseits und den fundamentalen Zweiflern andererseits entwickeln und begründen lässt. Interessant ist dabei nämlich, dass sich beides, der normative Begriff ebenso wie der grundlegende Zweifel, aus der Perspektive der autonomen Person selbst beschreiben lässt – und dann geht es nicht mehr nur um zwei sich gegenüberstehende Theorien, sondern um die Spannung zwischen unserem normativen Selbstverständnis und unseren alltäglichen Erfahrungen.

Obgleich wir also zumeist einfach von der Möglichkeit ausgehen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, gibt es zahllose Aspekte unseres Lebens und Situationen, die wir gerade nicht gewählt haben, bei denen wir uns fragen, wie es so kommen konnte, bei denen wir das Schicksal oder auch, simpler, unsere Unvorsichtigkeit beschuldigen. Die Möglichkeit, das Gelingen ebenso wie die Unmöglichkeit, das Misslingen von Selbstbestimmung gehört zu unseren alltäglichen Erfahrungen. Die Gründe dafür, warum mit der Idee von Autonomie jene Spannung verbunden ist, sind indes ganz unterschiedlich. Auf der einen Seite lässt sie sich beschreiben als eine zwischen dem individuellen Streben nach Selbstbestimmung und dem Geschehen, das immer schon stattfindet, das einfach passiert und uns vor vollendete Tatsachen zu stellen scheint. Auf der anderen Seite ist diese Spannung spezifischer eine, die unsere Verankerung in soziale Beziehungen betrifft und die daraus erwachsenen Verpflichtungen und Ansprüche anderer, von denen wir uns nicht freimachen können, nicht freimachen wollen, aber die doch häufig subjektiv als ein Misslingen von Autonomie begriffen werden können.[1]

Diesen so skizzierten unterschiedlichen Formen des Widerstreits zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit von Selbstbestimmung, zwischen der Idee und dem täglichen Leben will ich in diesem Buch aus verschiedenen Perspektiven nachgehen. Individuelle Selbstbestimmung oder Autonomie ist als normatives Ideal konstitutiv für unser Selbstverständnis ebenso wie für unsere Idee von Recht und Politik; individuelle Selbstbestimmung jedenfalls in dem Sinn, dass wir darüber nachdenken können, was wir wirklich wollen im Leben, dass wir uns reflektierend zu unseren Wünschen und Überzeugungen verhalten können. Dass diese Autonomie häufig im Alltag nicht erreicht werden kann, aus welchen Gründen nicht und in welchen Kontexten nicht, und warum diese Schwierigkeit trotzdem nichts an der Notwendigkeit und Überzeugungskraft von Autonomie ändert, dies sind die Grundthemen dieses Buches.

Man kann diese Spannung zwischen unserem Streben nach Autonomie und unseren alltäglichen Erfahrungen mittels der Literatur verdeutlichen: Denn gerade hier, bei der Phänomenologie unserer Alltagsverstrickungen, können uns literarische Texte bei der Deutung häufig besser helfen als die Philosophie. Die Autorin, die ich hier zunächst zu Rate ziehen will, ist Iris Murdoch, zugleich Schriftstellerin und Philosophin.[2]

 

So ist es nicht. Man schaut nicht einfach hin und wählt etwas und schaut, wo man hingehen könnte, man steckt immer schon bis zum Hals in seinem Leben, oder ich zumindest. Man kann nicht schwimmen in einem Sumpf oder im Treibsand. Erst wenn mir die Dinge passieren, weiß ich, was ich offenbar wollte, nicht davor! Ich begreife es erst, wenn es keinen Weg zurück gibt. Es ist ein Durcheinander, ich verstehe es nicht einmal selbst.[3]

 

Dieser Hilferuf aus dem Chaos des Lebens, dieses Ringen mit der Idee der Bestimmbarkeit des eigenen Lebens ist ein zentrales Thema der Romane Murdochs. Die Wirklichkeit, in der wir immer schon bis zum Halse stecken, ist, so schreibt sie, »grundsätzlich unverständlich«; und an anderer Stelle heißt es: »Die Botschaft lautet: Alles ist zufällig. Es gibt keine tiefen Fundamente. Unser Leben stützt sich auf Chaos und Geröll und alles, was wir versuchen können, ist, gut zu sein.«[4]

Chaos und Geröll bilden den Gegensatz zu Selbstbestimmung und Begründbarkeit: Dies ist zunächst ein Verweis auf die schicksalhaften Zufälle des Lebens, die Murdochs Protagonisten häufig so unheilvoll und verzweifelt in die Unordnung des Lebens stürzen und verwickeln. Diese Zufälligkeiten bringen den Mangel an Planbarkeit des eigenen Lebens zum Ausdruck, werden als überwältigende Macht erfahren, als Umstände, mit denen wir im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden oder die wir immer schon einfach hinnehmen müssen. Es ist diese Spannung, die ich oben als erste beschrieben habe, zwischen der Idee der Selbstbestimmung und dem Gefühl, immer schon vor vollendete Tatsachen gestellt zu sein. Dabei hat Murdoch nicht so sehr die Zufälligkeiten von Geburt und Herkunft vor Augen, sondern diejenige sozialer Verstrickungen, mit denen wir im Laufe unseres erwachsenen Lebens konfrontiert werden, in der Form unvorhergesehener, unseliger Ereignisse oder auch in der Form der Konsequenzen unseres eigenen Handelns, die wir so nicht absehen konnten und jedenfalls so nicht wollten und die wir (deshalb) häufig als schicksalhaft erleben.

Betrachten wir, zum Beispiel, Hilary Burde, den Protagonisten in Murdochs Roman A Word Child. Hilary Burde stammt aus sehr kleinen, geradezu armseligen Verhältnissen und hat sich durch seine besondere Sprachbegabung hocharbeiten können: Er wird Student in Oxford, gewinnt jeden nur möglichen Preis, macht ein glänzendes Abschlussexamen und wird Fellow an einem der Colleges. Dann verliebt er sich in die Frau seines Gönners und Doktorvaters, Anne Jopling, die beiden haben eine leidenschaftliche Affäre. Sie endet mit einem Autounfall, an dem Hilary schuld ist und bei dem Anne stirbt. Hilary muss, selbstverständlich, seine Stelle am College aufgeben. Zwanzig Jahre später – Jahre, die er als kleiner Beamter in einer unbedeutenden Londoner Behörde, in einem tristen Leben verbracht hat – trifft er auf seinen damaligen Doktorvater Jopling, der mittlerweile wieder geheiratet hat. Wieder verliebt er sich, vollständig gegen seine eigenen Absichten, in dessen Frau, Kitty. Wieder kommt es zu intimen Begegnungen, wieder endet es mit einem Unglück und mit dem Tod der Frau.

Warum dies für den Kontext des Zweifels an der Planbarkeit des eigenen Lebens interessant ist, beschreibt Murdoch mit den Worten von Hilary Burde in einer Passage:

 

Und doch geschehen Menschen solche Dinge, werden Leben so ruiniert, verdorben und düster und unwiderruflich zerstört, werden falsche Abzweigungen genommen und beharrlich verfolgt, und die, die nur einen Fehler machen, richten auch den Rest zugrunde, aus Wahn oder vielleicht aus Groll.[5]

 

Die Ereignisse, mit denen Burde konfrontiert wird, sind geradezu übertrieben schicksalhaft, scheinen nicht in seiner Hand zu liegen, zeigen Zufälle, die ein bestimmbares, ein selbstbestimmtes Leben deshalb verunmöglichen, weil gänzlich unklar wird, was eigentlich noch autonome, authentische Entscheidungen unter solch katastrophalen Bedingungen sein sollen, was eigentlich Handeln, mit Zielen und Plänen, heißen sollte. »Und doch geschehen Menschen solche Dinge« – Dinge, die uns passieren, bilden gerade das Gegenteil der Aspekte des Lebens, die wir selbst bestimmen.

Doch die Sache mit dem Schicksal, auch das suggeriert Murdoch, ist nicht so einfach. Der Philosoph und Psychoanalytiker Jonathan Lear schreibt: »Das Eigenartige am Schicksal ist, dass es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig passt.«[6] Inwieweit diese Ereignisse nicht also auch unserem eigenen Handeln, unseren eigenen schwierigen und komplexen Identitäten geschuldet sind, bleibt auf beunruhigende Weise offen. Der Zwang zur Wiederholung beispielsweise, kann vielleicht doch in höherem Maße, als Hilary Burde dies sieht und gerne sehen würde, seinen eigenen Obsessionen zugeschrieben werden. Nun sind ohnehin diese außergewöhnlichen Zufälle – leidenschaftliche Affären,...

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