Der Schatz im Himmel - Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs
von: Peter Brown
Klett-Cotta, 2017
ISBN: 9783608109979
Sprache: Deutsch
928 Seiten, Download: 12744 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Mehr zum Inhalt
Der Schatz im Himmel - Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs
Kapitel 1
AUREA AETAS
Reichtum in einem Goldenen Zeitalter
Vom RUSTICULUS (Bäuerlein) zum CENSOR (städtischen Amtsträger)
Reichtum, Privilegien und Macht
In diesem Kapitel werden wir mit allgemeinen Überlegungen beginnen. Wir werden uns zuerst mit der charakteristischen Art und Weise befassen, in der Reichtum und sozialer Status in der römischen Gesellschaft einander bedingten. Dann werden wir betrachten, wie der Reichtum aus dem Land erwuchs. Danach werden wir uns auf ein einzelnes Jahrhundert konzentrieren. Wir werden versuchen, in notgedrungen kurzen Strichen die Struktur der Oberschichtgesellschaft des lateinischen Westens im 4. Jahrhundert n. Chr. nachzuzeichnen. Wir werden eine in vielerlei Hinsicht neue Gesellschaft betrachten, in der als Folge einer tiefgreifenden Neuordnung des Römischen Reiches ab 300 n. Chr. neue Statusformen und neue Wege, seinen Reichtum zu zeigen, entstanden.
Unsere erste Frage lautet: Was war eigentlich »Reichtum« in der spätrömischen Gesellschaft? Diejenigen, die die Reichen in jener Zeit betrachteten, gaben darauf gewöhnlich eine einfache Antwort. In der überwiegenden Zahl der Fälle war Reichtum Land, das durch Arbeit in Nahrungsmittel umgewandelt wurde, die sich im Fall der Reichen zu Geld verwandelten, welches diesen Privilegien und Macht verschaffte.
Wir können diesen Prozess auf vielen gesellschaftlichen Ebenen verfolgen. Er lässt sich zum Beispiel anhand einer Erfolgsgeschichte illustrieren, die sich im 4. Jahrhundert im Hinterland der Provinz Africa ereignete. Eine lange Inschrift aus Mactaris (heute Maktar), einer Stadt am Rand der tunesischen Hochebene, erzählt uns, wie ein »Mann aus armem Hause« zu Macht und Ehren gelangte. Sein Name fehlt auf dem Grabstein, den er sich errichten ließ, aber in der Altertumswissenschaft ist er als der »Schnitter von Mactaris« bekannt. Er war zwar nie vollkommen landlos, konnte jedoch mit der Bestellung seines eigenen Bodens zunächst kaum seinen Lebensunterhalt verdienen. Über die Jahre stieg er als Vormann eines großen »Schnittertrupps« (der aus landlosen Männern bestand, die weit ärmer waren als er) immer weiter auf. Der Trupp zog durch das Hochplateau des östlichen Numidien (zwischen dem heutigen Tunesien und Algerien), um sich dort als Erntehelfer zu verdingen. Nachdem der Schnitter zwölf lange Jahre »unter der sengenden Sonne gemäht« hatte, gelang es ihm schließlich, »Eigentümer eines Hauses« und Besitzer eines Gutshofes zu werden. Dessen Erträge waren so hoch, dass er in den Stadtrat von Mactaris aufgenommen wurde.
Im Tempel des Rates [der »heiligen« Ratshalle von Mactaris] habe ich gesessen und bin sogar vom Bäuerlein [rusticulus] zum censor [hohes städtisches Amt] aufgestiegen.
Für seine lebenslange harte Arbeit wurde er »durch Ehrenstellen belohnt«.1 Indem er in den Stadtrat aufgenommen wurde, überschritt unser »Schnitter« die wichtigste soziale Schwelle der römischen Welt. Es war die entscheidende römische Schwelle zwischen Gesichtslosigkeit und »Ehren«. Die Mitgliedschaft im Regierungsgremium einer römischen Stadt wie Mactaris verschaffte dem »Schnitter« Privilegien und Macht. Er war nicht länger ein einfacher rusticulus, ein »Bäuerlein«. Als Stadtrat (curialis – Mitglied der curia, der Ratsversammlung – oder decurio, was dieselbe Bedeutung hatte) wurde er ein honestior, ein »Ehrenwerter«. So durfte er zum Beispiel nicht mehr ausgepeitscht oder gefoltert werden. Dies war ein keinesfalls unwichtiges Privileg, da es ihn vom gewöhnlichen Untertanen eines berüchtigt grausamen Reiches unterschied. Sein Sitz im Stadtrat und die »Ehren«, die mit seinen Ämtern in der Stadtverwaltung verbunden waren, machten ihn in seiner eigenen Region zu einem Klein- oder Munizipaladligen.2
Allein in der Provinz Africa gab es 500 Städte wie Mactaris. Im heutigen nordöstlichen Tunesien überzogen sie das Land mit einem dichten Netz. Die beiden Nachbarstädte von Mactaris lagen auf beiden Seiten nur etwa 15 Kilometer entfernt. Die Bevölkerungszahl der meisten betrug kaum mehr als 2000 bis 5000. Ein moderner Betrachter hätte sie als »Agrarstädte« bezeichnet. Sie selbst sahen sich jedoch keinesfalls so. Technisch gesehen war jede von ihnen eine autonome Republik, die unter dem riesigen Schutzschirm des Römischen Reiches stand.3
Einem modernen Menschen könnte das als irgendwie bizarre Situation erscheinen. Es wäre so, als ob die Infrastruktur Frankreichs und Italiens aus winzigen Fürstentümern wie Monaco und Republiken wie San Marino bestünde. Aber während diese skurrilen letzten Überlebenden aus der Welt der Duodezfürstentümer und Stadtstaaten in der Moderne zu Steueroasen wurden, die dafür berüchtigt sind, das auf ihr Territorium verbrachte Geld den französischen und italienischen Steuerbeamten vorzuenthalten, war es im Römischen Reich genau umgekehrt: Die Kooperation mit den kaiserlichen Behörden bei der Steuereintreibung machte die Städte wichtig und band ihre Eliten an das Reich.
Wir sollten uns immer daran erinnern, dass das Römische Reich nach heutigen Maßstäben ein »echter Minimalstaat« war.4 Fast jede Regierungsaufgabe delegierte es an lokale Gruppen, mit Ausnahme der Hochgerichtsbarkeit und der Armee. Die Polizei, die Instandhaltung der Straßen, der Befestigungsbau und am allerwichtigsten die Steuereintreibung waren Aufgaben, die man den Stadträten von etwa 2500 Städten übertragen hatte, die wie Feenstaub über die Fläche eines riesigen Reiches verstreut waren. Das Imperium lastete schwer auf den Mitgliedern dieser Stadträte. Im Gegenzug gab es ihnen jedoch freie Hand, alle anderen so sehr zu unterdrücken, wie sie nur wollten. Ein Stadtrat betrat die Welt der Honoratioren, um sofort danach zu einem kleinen Tyrannen zu werden. Seine wichtigste Pflicht bestand darin, im Namen des Reiches als erpresserischer Steuereintreiber tätig zu werden.
Mactaris bezeichnete (wie so viele andere römische Städte) seinen Stadtrat als splendidissimus ordo, als »allerglanzvollste Ratsversammlung«.5 Er regierte ein Territorium, das sich (im Fall von Mactaris) in einem Umkreis von acht Kilometern um die Stadt erstreckte. Es war jedoch Aufgabe der Stadträte – und (außer in Zeiten des Ausnahmezustands) nicht der Repräsentanten des römischen Staates –, jedes Jahr von den Bewohnern jeder ökologischen Nische dieses kleinen Territoriums die Steuern einzufordern, die sie dem Staat in Form von Geld, Arbeit, Vieh und anderen nützlichen Materialien schuldeten.
Steuern und Arbeitsverpflichtungen wurden den Städten von der kaiserlichen Bürokratie als Pauschalforderung präsentiert. Es oblag dann den Stadträten, diese Summen unter sich aufzuteilen und sie von allen Bewohnern ihres Zwergstaats einzutreiben. Als Ergebnis bestimmten im Fall von Mactaris und unzähliger kleiner Städte in jeder Provinz des Reiches die Entscheidungen von Gruppen, die aus dreißig bis hundert Personen bestanden, auf direkte Weise das Schicksal von tausenden, indem sie die Steuerlast aufteilten und Jahr für Jahr einzogen.
Das römische System, diese Aufgabe an die Städte zu delegieren, stellte sicher, dass in diesem Reich die Macht niemals auf die Spitze beschränkt war, sondern bis zur kleinsten Stadt hinabsickerte. Die curiales (Mitglieder des Stadtrats) hielten die städtische plebs unter Kontrolle. Außerhalb der Stadt wachten die curiales über ein Gebiet, das von rusticuli bewohnt wurde, den »Bäuerlein«, deren Schicksal der »Schnitter von Mactaris« entkommen konnte. Von diesen Kleinbauern bezogen sie ihr eigenes Einkommen (in Form von Pachtzahlungen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen), während sie gleichzeitig dem römischen Staat auf deren Kosten die notwendigen Mittel verschafften, indem sie von ihnen die Steuern einsammelten, die sie dem Kaiser schuldeten.
Auf diese Weise blieben die Reichen im spätrömischen Imperium reich, weil ihre eigene Person in eine Aura öffentlicher Autorität gehüllt war. Selbst ein eher bescheidener Bauer wie unser Schnitter erwartete, dass...