Menschenwerk - Roman

Menschenwerk - Roman

von: Han Kang

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841213877

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 4335 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Menschenwerk - Roman



Das Vögelchen


Dong-Ho, 1980

Sieht nach Regen aus«, murmelst du.

Was machen wir, wenn es tatsächlich anfängt zu regnen?

Die Augen zu Schlitzen verengt, starrst du auf die Ginkgobäume, die vor dem Regierungsgebäude der Provinzhauptstadt Gwangju stehen. Als ob zwischen den leicht bewegten Ästen der Wind plötzlich Gestalt annähme. Als ob jeden Augenblick die in der Luft versteckten Regentropfen hervorperlen und aufblitzen würden wie Diamanten.

Du reißt die Augen auf. Die Umrisse der Bäume, gerade noch klar und deutlich, sind nun leicht verschwommen. Brauchst du vielleicht eine Brille? Sofort musst du an deinen zweitältesten Bruder denken und an die braune rechteckige Plastikbrille in seinem schwammigen Gesicht. Vom Brunnen hallt lautes Rufen und Klatschen herüber und du wirst kurz aus deinen Gedanken gerissen. Dein Bruder sagte einmal, dass ihm im Sommer die Brille immer von der Nase rutscht und er im Winter beim Betreten eines Raumes nichts mehr sieht, weil die Gläser beschlagen. Du hoffst also, dass sich deine Sehkraft nicht weiter verschlechtert und du um die lästige Brille herumkommst.

Hör auf mich und geh heim!

Du schüttelst den Kopf, um die wütende Stimme deines Bruders aus deinem Gedächtnis zu vertreiben. Der Lautsprecher vor dem Brunnen verzerrt die hohe, durchdringende Stimme der jungen Frau am Mikrofon. Den Brunnen selbst kannst du von deinem Sitzplatz auf den Stufen der Turnhalle aus nicht sehen. Du müsstest rechts ums Gebäude gehen, um einen besseren Blick auf die Gedenkfeier zu haben. Aber du rührst dich nicht von der Stelle und spitzt die Ohren, um die Worte der Frau zu verstehen.

»Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, die sterblichen Überreste unserer lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger sind heute vom Rotkreuzkrankenhaus hierher gebracht worden.«

Jetzt stimmt sie die Nationalhymne an. Abertausend Stimmen fallen ein, überlagern sich, wachsen empor zu einem riesigen Turm und übertönen die junge Frau. Der Gesang schwillt an und erreicht einen Höhepunkt, bevor er wieder abebbt. Auch du summst mit.

Am Morgen hast du Jin-Su gefragt: »Wie viele Tote bringen sie heute vom Krankenhaus herüber?«

Worauf dieser geantwortet hat: »Dreißig bestimmt.«

Während die Strophen des feierlichen Gesangs erklingen, sich in den Himmel schrauben und schließlich verstummen, werden der Reihe nach über dreißig Särge von einem Lastwagen abgeladen. Sie werden neben die achtundzwanzig anderen gestellt, die du und die übrigen Helfer heute Morgen von der Turnhalle zum Brunnen gebracht habt.

Von den dreiundachtzig Toten in der Turnhalle hat es für sechsundzwanzig noch keine öffentliche Gedenkfeier gegeben. Dazu kommen die beiden Leichname, die erst gestern Abend von ihren Familien identifiziert und hastig in Särge gelegt wurden. Du hast ihre Namen und die Nummern der Särge in ein Heft eingetragen, die Liste mit einer geschweiften Klammer versehen und ›Gedenkfeier 3‹ dahintergeschrieben. Jin-Su hat dir erklärt, dass man genau Buch führen muss, damit nicht die gleichen Särge zweimal zu einer Zeremonie hinausgebracht werden. Eigentlich wolltest du diesmal der Gedenkfeier beiwohnen, aber er hat dir befohlen, dich nicht vom Fleck zu rühren. »Kann sein, dass man dich hier braucht. Bleib, wo du bist.«

Die Älteren, die mit dir zusammenarbeiten, sind alle hingegangen. Wie mit Sand oder Stoff ausgestopfte Vogelscheuchen sind die Familienangehörigen der Toten unbeholfen den Särgen gefolgt, an denen sie schon mehrere Tage gewacht hatten. Auf der linken Brust trugen sie an Sicherheitsnadeln befestigte schwarze Schleifen. Eun-Suk blieb bis zum letzten Moment bei dir. Als du ihr sagtest, sie solle ruhig gehen, du kämst schon zurecht, lächelte sie dich um Verzeihung bittend an. Dabei entblößte sie ihre schiefen Schneidezähne, was sie trotz ihrer Verlegenheit schelmisch aussehen ließ.

»Ich bleibe nicht lange und komme wieder, so schnell es geht.«

Du bist allein und setzt dich auf die Stufen, die zur Turnhalle hinaufführen. Auf deinen Knien das schwarze Heft mit den Namen der Toten. Durch deinen hellblauen Trainingsanzug spürst du die Kälte des Betonbodens. Die Militärjacke, die du darüber trägst, hast du bis oben hin zugeknöpft und deine Arme vor der Brust verschränkt.

Dort, wo der Hibiskus blüht,

Dreimal tausend Meilen lang,

Prachtvoll über Berg und Tal.

Du singst mit den anderen die Nationalhymne, bis du plötzlich verstummst. »Prachtvoll über Berg und Tal«, wiederholst du und erinnerst dich an das chinesische Zeichen für ryo, prachtvoll, das du in der Schule gelernt hast. Du bist nicht sicher, ob du diese komplizierte Strichkombination noch zeichnen könntest. Berg und Tal, voller prächtiger Blüten? Oder Berg und Tal, prachtvoll wie Blüten? Die Schriftzeichen werden jetzt in deinem Kopf von Stockrosen überwuchert. Stockrosen, die in einer Ecke des Hofes stehen und im Sommer über dich hinauswachsen. Lange, gerade gewachsene Stängel, deren Blüten sich zum Himmel recken und an Teller aus weißem Stoff erinnern. Du schließt die Augen, um dir alles besser ins Gedächtnis rufen zu können. Als du sie einen Spalt weit öffnest, wiegen sich die Ginkgobäume vor dem Regierungsgebäude immer noch leicht im Wind. Aber bisher ist kein einziger Regentropfen gefallen.

*

Die Nationalhymne ist verklungen, aber die Särge scheinen noch nicht an ihren Plätzen angekommen zu sein. Zwischen den Geräuschen, die zwangsläufig von einer vieltausendköpfigen Menschenmenge ausgehen, sind gelegentlich laute Schluchzer zu hören. Um etwas Zeit zu gewinnen, schlägt die Frau am Mikrofon vor, das Volkslied Arirang zu singen.

Du trennst dein Herz von meinem Herzen,

Doch schon am vierten Kilometerstein

Holt dich die bitt’re Reue ein,

Weil deine müden Füße schmerzen.

Die Klagen verstummen und die Frau fährt fort: »Legen wir zu Ehren der Verstorbenen eine Schweigeminute ein.«

Du bist erstaunt über die Ruhe, die mit einem Mal herrscht, als sich das Murmeln der Anwesenden gelegt hat. Statt die Schweigeminute einzuhalten, stehst du auf und gehst mit dem Heft unter dem Arm die Treppe hinauf. Der eine Flügel der Eingangstür zur Turnhalle steht offen. Du ziehst einen Mundschutz aus der Hosentasche und legst ihn an.

Kerzen anzünden hilft gar nichts.

Trotz des strengen Geruchs betrittst du den Turnsaal. Der Himmel draußen ist bedeckt, sodass man in der Halle meinen könnte, es dämmere bereits. Die Särge der Toten, für die schon eine Gedenkfeier abgehalten worden ist, stehen direkt am Eingang. Die zweiunddreißig anderen Leichen, die zwar identifiziert sind, aber noch nicht die Sterberituale erfahren haben, liegen in weiße Leinentücher eingewickelt entlang der großen Fensterreihe aufgebahrt. Neben den Köpfen brennen Kerzen still vor sich hin. Sie stecken in leeren Getränkeflaschen.

Du gehst zum anderen Ende der Halle und betrachtest die Umrisse der sieben toten Körper, die dort in einer Ecke liegen. Sie sind von Kopf bis Fuß mit großen weißen Baumwolltüchern bedeckt. Ihr Anblick ist dermaßen grauenvoll, dass das Tuch nur kurz angehoben wird, wenn jemand nach einer jungen Frau oder nach einem Kind sucht.

Die Leiche am äußersten Ende der Reihe ist am stärksten entstellt. Einem ersten Blick nach zu urteilen, handelt es sich um den Körper einer ziemlich kleinen, ungefähr zwanzig Jahre alten Frau. Die Gase, die durch die Verwesung entstanden sind, haben sie jedoch aufgeblasen, sodass ihre Maße denen eines erwachsenen Mannes entsprechen. Jedes Mal, wenn du das Laken anhebst, um den Leichnam jemandem zu zeigen, der seine Tochter oder seine jüngere Schwester sucht, überrascht dich der Fortschritt der Verwesung von Neuem. Die junge Frau hat mehrere Schnittwunden auf der Stirn, die eindeutig von einem Säbel stammen. Das linke Auge, die Wangen, das Kinn sowie die linke Brust und ihre Taille sind ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Auf der rechten Schädelseite liegt das Gehirn frei, vermutlich durch Schläge mit einem Gewehrkolben. An diesen sichtbaren Verletzungen schreitet die Fäulnis am schnellsten voran. Danach kommen die Prellungen am Oberkörper. Die Zehen, deren Nägel ein durchsichtiger Lack überzieht, sind unversehrt, aber im Laufe der Zeit schwarz geworden. Außerdem sind sie groß wie Ingwerwurzeln. Der gepunktete Faltenrock, der einen Großteil ihrer Beine bedeckt hatte, kann nun nicht einmal die geschwollenen Knie verstecken.

Du gehst zur Eingangstür, nimmst eine Kerze aus einer Schachtel unter dem Tisch und kehrst zurück. Dann entzündest du sie an dem fast heruntergebrannten Rest der alten, die neben dem Kopf der armen Frau steht. Sobald die neue Kerze brennt, pustest du den Stummel aus, entfernst ihn aus dem Flaschenhals und ersetzt ihn. Dabei gibst du Acht, dich nicht zu verbrennen.

Mit dem noch warmen Kerzenrest in der Hand bleibst du einen Augenblick stehen und verbeugst dich. Der intensive Gestank ist so beißend, dass du fürchtest, Nasenbluten zu bekommen. Du starrst in die Flamme, die den schlechten Geruch verbrennen soll und deren durchsichtiger, äußerer Rand hin und her züngelt. Der Kern glimmt besonders intensiv orange und zieht dich in seinen Bann. Nun fokussierst du den blauen Bereich, der den Docht umgibt. Er pulsiert wie ein kleines Herz von der Größe eines Apfelkerns.

Du erträgst den Gestank nicht mehr und richtest dich auf....

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