Als Hitler das rosa Kaninchen stahl - Eine jüdische Familie auf der Flucht, Band 1-3

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl - Eine jüdische Familie auf der Flucht, Band 1-3

von: Judith Kerr

Ravensburger Buchverlag, 2017

ISBN: 9783473111111

Sprache: Deutsch

1313 Seiten, Download: 9327 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl - Eine jüdische Familie auf der Flucht, Band 1-3



1

Anna war mit Elsbeth, einem Mädchen aus ihrer Klasse, auf dem Heimweg von der Schule. In diesem Winter war in Berlin viel Schnee gefallen. Er schmolz nicht, darum hatten die Straßenkehrer ihn auf den Rand des Gehsteiges gefegt, und dort bildete er seit Wochen traurige, immer grauer werdende Haufen. Jetzt, im Februar, hatte sich der Schnee in Matsch verwandelt, und überall standen Pfützen. Anna und Elsbeth hüpften mit ihren Schnürstiefeln darüber weg.

Sie trugen beide dicke Mäntel und Wollmützen, die ihre Ohren warm hielten, und Anna hatte auch noch einen Schal umgebunden. Sie war neun, aber klein für ihr Alter, und die Enden des Schals hingen ihr beinahe bis auf die Knie. Der Schal bedeckte auch Mund und Nase, sodass nur die grünen Augen und ein Büschel dunkles Haar von ihr zu sehen waren. Sie hatte es eilig, denn sie wollte noch im Schreibwarenladen Buntstifte kaufen, und es war beinahe Zeit zum Mittagessen. Aber jetzt war sie so außer Atem, dass sie froh war, als Elsbeth stehen blieb und ein großes rotes Plakat betrachtete.

»Da ist wieder ein Bild von dem Mann«, sagte Elsbeth. »Meine kleine Schwester hat gestern auch eins gesehen und gedacht, es wäre Charlie Chaplin.«

Anna betrachtete die starren Augen, den grimmigen Ausdruck. Sie sagte: »Es ist überhaupt nichts wie Charlie Chaplin, außer dem Schnurrbart.«

Sie buchstabierten den Namen unter der Fotografie:

»Adolf Hitler.«

»Er will, dass alle bei den Wahlen für ihn stimmen, und dann wird er den Juden einen Riegel vorschieben«, sagte Elsbeth. »Glaubst du, er wird Rachel Löwenstein einen Riegel vorschieben?«

»Das kann keiner«, sagte Anna. »Sie ist Klassensprecherin. Vielleicht macht er es mit mir. Ich bin auch jüdisch.«

»Das stimmt nicht!«

»Doch. Mein Vater hat vorige Woche mit uns darüber gesprochen. Er sagte, wir seien Juden, und was auch immer geschähe, mein Bruder und ich dürften das niemals vergessen.«

»Aber ihr geht samstags nicht in eine besondere Kirche wie Rachel Löwenstein.«

»Weil wir nicht religiös sind.«

»Ich wünschte, mein Vater wäre auch nicht religiös«, sagte Elsbeth, »wir müssen jeden Sonntag gehen, und ich kriege einen Krampf in meinem Hinterteil.« Sie betrachtete Anna eindringlich. »Ich dachte, Juden hätten krumme Nasen, aber deine Nase ist ganz normal. Hat dein Bruder eine krumme Nase?«

»Nein«, sagte Anna, »der einzige Mensch in unserem Haus mit einer krummen Nase ist unser Mädchen Bertha, und deren Nase ist krumm, weil sie aus der Straßenbahn gestürzt ist und sie sich gebrochen hat.«

Elsbeth wurde ärgerlich. »Aber dann«, sagte sie, »wenn du wie alle anderen aussiehst und nicht in eine besondere Kirche gehst, wie kannst du dann wissen, dass du wirklich jüdisch bist? Wie kannst du sicher sein?«

Es entstand eine Pause.

»Ich vermute …«, sagte Anna, »ich vermute, weil mein Vater und meine Mutter Juden sind, und wahrscheinlich waren ihre Mütter und Väter es auch. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis mein Vater vorige Woche anfing, davon zu sprechen.«

»Also, ich finde es blöd!«, sagte Elsbeth. »Das mit Adolf Hitler ist blöd, und dass Leute Juden sind und alles!« Sie fing an zu laufen, und Anna lief hinter ihr her.

Sie hielten nicht eher an, bis sie den Schreibwarenladen erreicht hatten. Jemand sprach mit dem Mann hinter der Theke, und Annas Mut sank, als sie Fräulein Lambeck erkannte, die in ihrer Nähe wohnte. Das Fräulein machte ein Gesicht wie ein Schaf und sagte: »Schreckliche Zeiten! Schreckliche Zeiten!« Jedes Mal wenn sie sagte »Schreckliche Zeiten«, schüttelte sie den Kopf, und ihre Ohrringe wackelten.

Der Ladeninhaber sagte: »1931 war schlimm genug, 1932 war schlimmer, aber lassen Sie sich’s gesagt sein, 1933 wird am schlimmsten!« Dann bemerkte er Anna und Elsbeth und sagte: »Was kann ich für euch tun, Kinder?«

Anna wollte ihm gerade sagen, dass sie Buntstifte kaufen wollte, da hatte Fräulein Lambeck sie entdeckt.

»Das ist die kleine Anna!«, rief Fräulein Lambeck. »Wie geht es dir, kleine Anna? Und wie geht es deinem lieben Vater? Ein wunderbarer Mensch! Ich lese jedes Wort, das er schreibt. Ich habe alle seine Bücher, und ich höre ihn immer im Radio. Aber diese Woche hat er nichts in der Zeitung – hoffentlich ist er nicht krank. Vielleicht hält er irgendwo Vorträge. Oh, wir brauchen ihn so in diesen schrecklichen Zeiten!«

Anna wartete, bis Fräulein Lambeck fertig war. Dann sagte sie: »Er hat die Grippe.«

Diese Bemerkung rief wieder ein großes Wehklagen hervor. Man hätte glauben können, Fräulein Lambecks liebste Angehörigen lägen im Sterben. Sie schüttelte den Kopf, bis die Ohrringe klirrten. Sie schlug Heilmittel vor. Sie empfahl Ärzte. Sie hörte nicht auf zu reden, bis Anna ihr versprochen hatte, ihrem Vater Fräulein Lambecks beste Wünsche für eine schnelle Besserung zu überbringen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sag nicht, gute Wünsche von Fräulein Lambeck, kleine Anna – sag nur: von einer Verehrerin!« Dann fegte sie hinaus.

Anna kaufte eilig ihre Stifte. Dann standen sie und Elsbeth draußen im kalten Wind vor dem Schreibwarenladen. Hier trennten sich für gewöhnlich ihre Wege, aber Elsbeth zögerte. Sie hatte Anna schon lange etwas fragen wollen, und dies schien ein geeigneter Augenblick.

»Anna«, sagte Elsbeth, »ist es schön, einen berühmten Vater zu haben?«

»Nicht, wenn man jemandem wie Fräulein Lambeck begegnet«, sagte Anna und machte sich nachdenklich auf den Heimweg, während ihr Elsbeth ebenso nachdenklich folgte.

»Nein, aber abgesehen von Fräulein Lambeck?«

»Es ist eigentlich ganz nett. Zum Beispiel, weil Papa zu Hause arbeitet und wir ihn oft sehen. Und manchmal kriegen wir Freikarten fürs Theater. Und einmal wurden wir von einer Zeitung interviewt, und sie fragten uns, was für Bücher wir gern lesen. Mein Bruder sagte, Karl May, und am nächsten Tag schickte ihm jemand eine Gesamtausgabe als Geschenk.«

»Ich wünschte, mein Vater wäre auch berühmt«, sagte Elsbeth. »Aber das wird er sicher nie, denn er arbeitet bei der Post, und dafür wird man nicht berühmt.«

»Wenn dein Vater nicht berühmt wird, dann wirst du es vielleicht einmal. Wenn man einen berühmten Vater hat, dann wird man fast nie selber berühmt.«

»Warum nicht?«

»Das weiß ich nicht. Aber man hört fast nie von zwei berühmten Leuten aus einer Familie. Das macht mich manchmal ein bisschen traurig.« Anna seufzte.

Sie standen jetzt vor Annas weiß gestrichenem Gartentor. Elsbeth dachte fieberhaft darüber nach, wofür sie vielleicht berühmt werden könnte, als Heimpi, die sie vom Fenster aus gesehen hatte, die Haustür öffnete.

»Du meine Güte«, rief Elsbeth, »ich komme zu spät zum Essen!« – und schon rannte sie die Straße hinunter.

»Du und diese Elsbeth«, schimpfte Heimpi, während Anna ins Haus trat. »Ihr holt mit eurem Geschwätz noch die Affen von den Bäumen!«

Heimpis richtiger Name war Fräulein Heimpel, und sie hatte für Anna und ihren Bruder Max gesorgt, seit diese kleine Kinder waren. Jetzt, da sie größer geworden waren, versorgte sie, wenn die Kinder in der Schule waren, den Haushalt, aber wenn sie nach Hause kamen, musste sie sie immer noch bemuttern. »Wir wollen dich mal auspacken«, sagte sie und nahm ihr den Schal ab. »Du siehst aus wie ein Paket, an dem die Kordel sich gelöst hat.«

Während Heimpi Anna aus den Kleidern schälte, hörte diese, dass im Wohnzimmer Klavier gespielt wurde. Mama war also zu Hause.

»Sind deine Füße auch bestimmt nicht feucht?«, fragte Heimpi. »Dann geh schnell und wasch dir die Hände. Das Mittagessen ist gleich fertig.«

Anna stieg die mit einem dicken Läufer belegte Treppe hinauf. Die Sonne schien zum Fenster herein, und draußen im Garten konnte sie ein paar letzte Schneeflecken sehen. Von der Küche her stieg der Duft eines gebratenen Huhns herauf. Es war schön, aus der Schule nach Hause zu kommen.

Als sie die Badezimmertür öffnete, hörte sie drinnen eiliges Füßescharren, und gleich darauf fand sie sich ihrem Bruder Max gegenüber, der mit puterrotem Gesicht die Hände auf dem Rücken hielt.

»Was ist los?«, fragte sie, noch bevor sie seinen Freund Günther entdeckt hatte, der ebenso verlegen schien.

»Oh, du bist es!«, sagte Max, und Günther lachte. »Wir dachten, es wäre ein Erwachsener.«

»Was habt ihr da?«, fragte Anna.

»Das ist ein Abzeichen. In der Schule gab es heute eine Rauferei. Nazis gegen Sozis.«

»Was sind Nazis und Sozis?«

»Ich hätte doch gedacht, dass du in deinem Alter das wüsstest«, sagte Max, der gerade zwölf war. »Die Nazis sind die Leute, die bei den Wahlen für Hitler stimmen werden. Wir Sozis sind die Leute, die gegen ihn stimmen werden.«

»Aber ihr beiden dürft doch noch gar nicht wählen«, sagte Anna.

»Aber unsere Väter«, sagte Max ärgerlich. »Das ist dasselbe.«

»Jedenfalls werden wir sie schlagen«, sagte Günther. »Du hättest die Nazis laufen sehen sollen! Max und ich haben einen geschnappt und ihm sein Abzeichen abgenommen. Aber ich weiß nicht, was Mama zu meiner Hose sagen wird.« Er blickte traurig auf einen großen Riss in dem verschlissenen Stoff. Günthers Vater war arbeitslos, und sie hatten kein Geld zu Hause für neue Kleider.

»Mach dir keine Sorgen, Heimpi flickt das schon«, sagte Anna. »Kann ich das Abzeichen mal sehen?«

Es war eine kleine...

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