Hundert schwarze Nähmaschinen - Roman
von: Elias Hirschl
Jung und Jung Verlag, 2017
ISBN: 9783990271575
Sprache: Deutsch
328 Seiten, Download: 626 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
5
Das Zimmer von Frau Brandner ist aufgrund ihrer Tendenz zur Selbstverletzung gänzlich frei von Glas und Keramik. In der gemeinschaftlichen Wohnküche im ersten Stock gibt es deshalb auch nur Plastikteller und -becher, und die Fenster sind überall so dick, dass es so gut wie unmöglich ist, sie einzuschlagen. Die ganze WG gleicht einer einzigen Gummizelle.
Jede Woche kommt eine Pflegerin, Vjenka, vorbei und schneidet Frau Brandners Fingernägel zurück, damit sie sich damit keine ernsthaften Verletzungen zufügen kann. Die Betreuer dürfen ihr die Nägel nicht schneiden, weil das strafrechtlich unter Körperverletzung fällt.
An einem guten Tag liegt Frau Brandner müde von ihren Beruhigungsmitteln von morgens bis abends friedlich auf ihrem Sofa, kichert vor sich hin und lauscht deutschen Schlagern aus ihrem CD-Player, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Sie singt die Texte mit und schaut sich die Fotos von Katzenbabys an, die sie von den Betreuern immer dann geschenkt bekommt, wenn sie brav gewesen ist. An einem guten Tag sind die Betreuer entspannt, alle haben ihre Ruhe und gehen gemütlich ihren Aufgaben nach. An einem guten Tag schenkt Michaela Frau Brandner einen Schokoriegel als positiven Verstärker, den diese mit plumpen, unkoordinierten Bewegungen in sich hineinstopft, bevor sie das Verpackungspapier mit klebrigen, verschmierten Händen an Michaela zurückreicht. Sobald eine CD ausgespielt ist, nimmt sie sie mit ihren dreckigen Händen aus dem Rekorder und tauscht sie gegen eine neue aus. Es gibt keinen Gegenstand in ihrem Zimmer, der nicht regelmäßig mit Schokolade oder anderem Essen beschmiert ist. Daher lässt sich Frau Brandners Zustand auch an dem Verschmiertheitsgrad der Einrichtung ablesen. Je besser ihre Stimmung, desto mehr positive Verstärker bekommt sie von den Betreuern, und desto mehr Flecken kann sie damit an die Wände malen. Sie sammelt die Flecken und Katzenbilder wie Abzeichen oder Pokale. Sie sitzt auf ihrem Bett, fährt sich mit der verklebten Hand durch die kurzen, rot gefärbten Haare und singt Marmor, Stein und Eisen bricht. Singt Theo, wir fahr’n nach Lodz. Singt Die Biene Maja, während sie stolz die Schmierereien betrachtet, die Wände und Decke überziehen. Und ihr Bettlaken. Und ihr Nachthemd. Und ihren Körper. Über die Jahre hat sie eine starke emotionale Bindung zu den Bildern und Süßigkeiten aufgebaut. Und wenn man die Flecken genauer betrachtet, dann kann man darin Bilder erkennen. In jeder ihrer Handlungen steckt zumindest ein Minimum an Kreativität. Für Frau Brandner geht von den Flecken um sie herum eine angenehme Wärme aus. Sie erinnern sie an früher. Der Dreck in ihrem Zimmer ist das Maß an Chaos, das man ihr zugesteht. Als Prophylaxe. Als Ersatzhandlung, damit sie sich nicht ernsthaft Schaden zufügt.
Wenn ihr Zimmer gereinigt werden soll, muss man sie vorwarnen, manchmal sogar eine Woche lang darauf vorbereiten, damit sie der Schock nicht ganz so schwer trifft. Auf gar keinen Fall darf die Reinigung plötzlich und unangekündigt geschehen. Das Verschwinden der Flecken empfindet sie als ungerechte Bestrafung. Und wenn Frau Brandner von niemandem vorab über die Reinigung ihres Zimmers in Kenntnis gesetzt wurde (beispielsweise weil es einem noch neuen und unerfahrenen Zivildiener an vitalen Informationen über die fundamentalsten Regeln und Gewohnheiten in der WG fehlt), kommt es in der Regel zu einer Anhäufung von Ereignissen, die man im Rückblick als »weniger guten Tag« bezeichnen würde.
An einem weniger guten Tag hört man bereits in aller Früh die schauderhafte Mädchenstimme der Frau Brandner in den unmöglichsten Frequenzbereichen durch die Gänge hallen. Und noch bevor einen das Geräusch wirklich erreicht, weiß man bereits: Heute wird ein weniger guter Tag.
Die Betreuer schauen sich gegenseitig an und seufzen.
»Jetzt kriselt die schon wieder«, sagen sie.
»Hol mal die Bedarfsmeds«, sagen sie.
An einem weniger guten Tag entkleidet sich Frau Brandner zunächst vollständig und verlässt taumelnd ihr Zimmer, um hinunter in die Wohnküche zu laufen und alles nach ihren Vorstellungen umzudekorieren, also sämtliche Einrichtungsgegenstände durch die Gegend zu werfen, bis niemand mehr sagen könnte, was ihre jeweiligen Funktionen gewesen sind. Würde man diesen Vorgang nicht selbst aus einem mehr oder weniger sicheren Abstand beobachten, würde es im Nachhinein schwerfallen, das Chaos einzig und allein auf Frau Brandner zurückzuführen, die ja gerade einmal eine Körpergröße von 150 Zentimetern erreicht. Doch wann immer sie in eine ihrer Phasen abtaucht, entwickelt sie ungeheure Kräfte.
An einem weniger guten Tag wird auch Frau Brandners Einfallsreichtum erkennbar. Trotz der angestrengten Bemühungen der Betreuer, alle gefährlichen Gegenstände von ihr fernzuhalten, ist Frau Brandner offenbar doch fündig geworden. Und als sie zum Schrecken des Zivildieners plötzlich vor ihm im Stiegenhaus steht, schaut dieser nicht schlecht, als er die Best-of-Schlager-Vol.27-CD erkennt: in zwei Teile zerbrochen, befindet sie sich zum einen in der festen Umklammerung der bereits blutig geschnittenen linken Hand und ragt zum anderen blutüberlaufen und beunruhigend wenig sichtbar aus ihrem Bauch. Schillernd blättern kleine Teile des Datenträgers ab, lösen sich von der CD und segeln in hauchdünnen, bunten Flocken zu Boden. Mit Schokolade und Blut beschmiert verteilen sich Reinhard Mey, Heino und Peter Alexander auf dem blauen Linoleum.
Vor Angst erstarrt steht der Zivi da und hat nur noch Augen für den nackten, blutenden Körper der Frau Brandner, die ihn auf eine Weise angrinst, dass er sich sofort wünscht, er wäre doch lieber zum Bundesheer gegangen, denn dort hätten sie ihm wenigstens eine Waffe gegeben. Wider seinen Willen kann er seinen Blick nicht abwenden: diese abwechselnd dunkelblauen und hellrosa Flecken, die tiefen Furchen, die ihren blassen Körper überziehen, als wäre sie in einem früheren Leben ein Testobjekt für Nähmuster gewesen. Im Grunde kann man auch nur an der faltigen Haut und den verschiedenen Verheilungsstadien der Narben sehen, dass diese Frau schon langsam auf die sechzig zugeht. Von der Stimme her würde man sie eher auf drei oder vier schätzen.
Wenn man sich in einer solchen Situation nicht richtig verhält, indem man sich zum Beispiel schnell genug im nächstbesten Raum verbarrikadiert, beutelt einen Frau Brandner sofort durch, wie einen von ihren Polstern. Wie es scheint, hat der Zivi diesmal aber unverschämtes Glück, denn als er vor Entsetzen wie gelähmt im Flur steht, kann ihn Frau Brandner dank seiner Bewegungslosigkeit gar nicht als Beutetier identifizieren und rauscht haarscharf an ihm vorbei in Richtung Waschküche. Und jetzt sehen wir auch, wieso die Betreuer den Zivis wirklich zehnmal sagen müssen, dass sie die Waschküche unbedingt zusperren sollen. Denn der Zivi hat es diesmal offenbar nur neunmal gehört, weshalb Frau Brandner sofort ungehindert hineinstürmt und damit anfängt, die Waschmittelsäcke in kleine Fetzen zu reißen und ihren Inhalt auf dem Boden zu verteilen.
Was nun folgt, lässt sich am besten durch einen Blick in die Akte der Frau Brandner erklären, denn jemand wie eine Frau Brandner wird man nicht einfach ohne Grund. Eine Frau Brandner hat immer eine lange Geschichte, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist. Eine Frau Brandner hat eine gewalttätige Mutter oder einen gewalttätigen Vater. Eine Frau Brandner hat gar keine Mutter gehabt. Oder keinen Vater. Oder ist zur Gänze verwaist. Eine Frau Brandner hat im Embryonalstadium zu wenig Sauerstoff bekommen. Oder zu viel Alkohol. Eine Frau Brandner ist jahrzehntelangem Missbrauch ausgesetzt gewesen. Einer Frau Brandner hat man gesagt, sie soll still sein. Sie soll nichts verraten. Und wenn sie doch mal den Mund aufgemacht hat, dann hat man ihn ihr mit Seife ausgewaschen. Wenn man das alles bedenkt, ist es gar nicht so verwunderlich, dass sich in der Mitte der Kammer nach und nach ein Berg aus Waschmittel bildet, auf dem Frau Brandner nackt und grinsend thront, während sie sich voller Begeisterung das Pulver mit der hohlen Hand in den Mund schaufelt.
Das ist, wie immer, der Höhepunkt des Tages.
Die Betreuer versuchen verzweifelt, die nackte Frau von ihrer Festung herunterzuholen. Doch sie wehrt sich beharrlich dagegen, gerettet zu werden, und sticht mit dem Holzende eines Besenstiels auf jeden ein, der sich ihr nähert. Ratlosigkeit macht sich breit und die Betreuer werden nervös, wenn sie daran denken, wer im Nachhinein eigentlich die Verantwortung für das ganze Waschmittel im Bauch von Frau Brandner zu tragen hat. Schließlich ist das Einzige, was sie noch tun können, Rettung und Polizei zu rufen und darauf zu hoffen, dass sie in der Zwischenzeit nicht den ganzen Berg auffrisst.
Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett, singt diese indes mit ihrer markerschütternden Fistelstimme und lässt sich das Waschmittel überglücklich grinsend in ihren Rachen rieseln. Sie singt Griechischer Wein, und bei jedem Wort schweben Seifenblasen aus...