Die Geschichte einer kurzen Ehe - Roman

Die Geschichte einer kurzen Ehe - Roman

von: Anuk Arudpragasam

Hanser Berlin, 2017

ISBN: 9783446257849

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1829 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Geschichte einer kurzen Ehe - Roman



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Als Dinesh durch die Vegetation zurück zum Lager ging, fühlte er sich innerlich angenehm leicht, unbelastet, eine Empfindung, die er sich dadurch erhalten wollte, dass er seine Schritte langsam und gezielt und möglichst ohne ruckartige Bewegungen setzte. Zum ersten Mal seit der Begegnung mit Herrn Somasundaram dachte er wieder an dessen Tochter, als würde ihm erst jetzt klar, dass verheiratet sein bedeutete, dass man den Rest seines Lebens mit einem anderen Menschen verbrachte und dass eine Ehe je nach der Natur dieses Menschen gut oder schlecht sein konnte. Sie hatten zwar noch nicht miteinander gesprochen, aber er hatte Ganga, die hager war und still und den Blick immer auf den Boden gerichtet hielt, schon ein paar Mal bei der Klinik gesehen. Beim ersten Mal, und nur aufgrund dieser Begegnung hatte er sie später überhaupt wiedererkannt, war er nach einem kurzen, aber heftigen Bombardement durchs Lager gegangen. Er war an einem Grüppchen vorbeigekommen, das etwas beobachtete, und um herauszufinden, was los war, hatte er sich auf die Zehenspitzen gestellt und in der Mitte des Kreises ein Mädchen gesehen, das auf dem Boden neben zwei Leichen hockte. Es bekam kaum Luft und keuchte, sein Oberkörper wippte vor und zurück, die langen Zöpfe tanzten schwerelos auf den Schultern. Ein Stück hinter dem Mädchen stand ein Mann, Herr Somasundaram, der ohne zu blinzeln mit großen Augen die beiden Leichen anstarrte, als wären sie nichts Besonderes. Die Umstehenden schauten ihn genauso an wie das Mädchen, eigentlich hauptsächlich ihn, und erst nach einer Weile verstand Dinesh, dass das daran lag, dass die Leichen auf dem Boden seine Frau und sein Sohn waren und das Mädchen seine Tochter. Während Dinesh Ganga beobachtete, wie sie die schlaffe Hand ihrer Mutter anhob und sich an die Wange hielt und mit leiser, zitternder Stimme vor sich hin murmelte, dass diese Hand sie gefüttert, geohrfeigt und gewaschen habe, versuchte Dinesh sich vorzustellen, wie es wohl war, gleichzeitig Mutter und Bruder zu verlieren. Es fiel ihm schwer, denn auch wenn ihm selbst vor einiger Zeit etwas Vergleichbares zugestoßen war, hatte er schon sehr lange keinen Zugang mehr zu diesem Gefühl. Es musste natürlich irgendwie schlimm sein. Sicher litt das Mädchen, denn die Granaten, die ihre Mutter und ihren Bruder getötet hatten, waren gerade mal zwei, zweieinhalb Stunden vorher explodiert. Aber zusätzlich zu dem Leid, vielleicht sogar im Kontrast dazu, nahm Dinesh in ihren verzerrten Zügen etwas seltsam Würdevolles wahr, etwas Ehrwürdiges, fast schon Strenges. In ihren feuchten Augen und darin, wie sie zwischen den Klagelauten die Lippen schürzte, meinte er ein Begreifen der Situation zu erkennen, eine fundamentale, wenn auch schmerzerfüllte Hinnahme. Ihre Mutter und ihr Bruder waren gestorben, aber sie schien zu verstehen, dass die Erde sich trotzdem weiterdrehen würde. Der Nachmittag würde zum Abend werden, die Granaten würden weiter fallen, und je eher sie hinnahm, was passiert war, und ihr Leben weiterlebte, desto besser. Wenn sie für den Augenblick zuließ, dass ihr Körper sich um die Leichen ihrer Mutter und ihres Bruders krümmte, wenn sie sich zittern, weinen und beben ließ, dann nicht etwa, weil ihr das nicht klar wäre, sondern vielmehr, weil sie wusste, dass ihr Körper auf seine Weise auf das Geschehene reagieren musste, ob sie wollte oder nicht, und dass es keinen Sinn hätte, ihn daran hindern zu wollen.

Ein paar Tage darauf sah Dinesh Ganga zum ersten Mal in der Klinik arbeiten, ihr Gesicht glatt wie ein weicher Stein, ausdruckslos und dabei, obwohl es so ausgemergelt war, irgendwie sanft. Sie hatte weder vergessen noch überwunden, was passiert war, noch immer überkamen sie die Nachbeben der Geschehnisse, und dann unterbrach sie, was sie gerade tat, und schien einen Augenblick lang zu zittern, fast zu zucken, doch diese Momente gingen schnell vorüber, und die meiste Zeit wirkte sie seltsam ruhig und entschlossen. Sie arbeitete härter als die meisten anderen Freiwilligen, wenn sie erschöpft war, spornte sie das nur noch mehr an, und im Gegensatz zu den anderen, ob männlich oder weiblich, wurde ihr nie schwummrig, egal was sie sah oder welche Arbeit sie verrichtete. Wenn gerade nichts Dringendes zu tun war, ging sie durch die Klinik und schaute, wie sie den Verwundeten helfen konnte, reinigte ihre Wunden, wechselte ihre Verbände, versuchte den Kontakt zu ihren Verwandten herzustellen, und da sie sich zusätzlich noch um ihren Vater kümmerte, kam es Dinesh vor, als hätte sie kaum je einen Moment Ruhe. Nur ab und zu spät am Abend, wenn die Verwundeten, die es schafften, ihre Schmerzen eine Weile verdrängt hatten und vor dem nächsten Bombardement ein wenig schliefen, hatte er sie im Lager allein sitzen sehen, und selbst in diesen Momenten wirkte sie ruhelos. Sie öffnete ihre Haare, ließ sie auf die Rundung ihres Rückens fallen, zog sie gleich wieder eng über den Schädel und kämmte sie zurück, sodass nicht eine Strähne ihr lose über die Stirn oder die Ohren hing. Sie hielt sie mit voller Entschlossenheit fest und band sie, ohne mit der Spannung nachzulassen, sodass die Haare schließlich fast perfekt am Kopf anlagen. Dann saß sie etwas verloren da, ihre großen Augen in der nackten Schönheit ihres Gesichts, strich sich immer wieder über die Haare, als würde sie ihrem festen Zug an Schläfen und Kopfhaut nachspüren, bis sie plötzlich, als hätte sich etwas gelockert, alles öffnete und die Harre erneut festzurrte, noch strenger und fester als zuvor, sofern das denn möglich war.

Anders als seine Tochter wirkte Herr Somasundaram aus irgendeinem Grund zunächst nicht weiter vom Verlust seiner Frau und seines Sohnes berührt. Mehrere Tage lang setzte er die Arbeit fort, der er in den Wochen zuvor nachgegangen war. Er stellte Zelte für die Neuankömmlinge auf, beschaffte Reis für die, die sich keinen leisten konnten, und leitete den Bau neuer Unterstände und Bunker an. Er war früher Direktor einer großen Mädchenschule gewesen, hatte Dinesh gehört, und da er außerdem recht groß war, hörten andere im Lager in praktischen Dingen oft auf ihn. Diese Ehrfurcht wurde wohl auch davon verstärkt, dass er einer der wenigen Männer im Lager war, die bis dahin ihre Familie am Leben und beisammenhalten konnten, was rückwirkend betrachtet natürlich eher am Zufall gelegen hatte als an seiner Weisheit oder an göttlicher Gnade. Vielleicht hatte er selbst daran geglaubt, dass seine Aura andere schütze, und deshalb anfangs nicht reagiert, als seine Frau und sein Sohn gestorben waren. Vielleicht hatte er sich einfach nicht genug auf diese Möglichkeit vorbereitet. Er hatte sicher nicht erwartet, dass die Bombardements seine Familie verschonen würden – vor dem Tod der beiden hatte er zweifellos oft genug das Schicksal anderer Familien erlebt und wissen müssen, dass auch ihnen irgendwann das Gleiche widerfahren würde –, aber vielleicht war es für ihn so wie beim Sport, wenn jemand eine Niederlage erst dann akzeptieren kann, wenn das Spiel wirklich vorbei ist. Selbst wenn man weiß, dass man verloren hat, selbst wenn man sich schon lange keine Mühe mehr gegeben hat, erreicht einen doch immer erst mit dem Abpfiff oder wenn das letzte Wicket fällt, die beinahe unglaubliche Gewissheit der Niederlage, überkommt einen der warme Schauer der Erkenntnis des eigenen Versagens erst nach dem Spiel, wenn alles vorbei ist, manchmal erst Stunden später, und vielleicht war es Herrn Somasundaram so gegangen. Das ließ sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber auf jeden Fall machte Herr Somasundaram tagelang so weiter, als wäre nichts gewesen. Erst später zeigte er Anzeichen von Trauer, als hätte die Gewissheit des Todes seiner Angehörigen erst allmählich von seinen Nervenenden durch die Haut absorbiert werden müssen. Er arbeitete weniger. Er ruhte sich mehr aus und sprach weniger. Mit jedem neuen Tag schränkte er seine Aktivitäten weiter ein, bis er nach mehr als zwei Wochen überhaupt nichts mehr tat, sondern nur noch allein vor seinem Zelt saß, sich kaum bewegte und bloß den Kopf schüttelte oder die Schultern zuckte, wenn jemand aus dem Lager zu ihm kam und auf Rat oder Unterstützung hoffte.

Jeden Nachmittag und Abend zu leicht abweichenden Uhrzeiten, je nach dem Muster des Bombardements des Tages, füllte Ganga einen der von zu Hause mitgebrachten Teller mit dem Reis und Dhal, die sie gekocht hatte, und stellte ihn vor ihrem Vater auf den Boden. Dann nickte Herr Somasundaram mit geschlossenen Augen, ohne auch nur den Kopf zu heben, und bedeutete ihr, ihn allein zu lassen. Manchmal aß er unaufgefordert ein bisschen, aber meistens ließ er den Teller einfach stehen. Manchmal sagte er mit langsamer und so leiser Stimme, dass sie ihn verstehen, aber keine Gemütsregung erkennen konnte, der Reis sei zu trocken oder zu feucht, als würde er allein aus diesem Grund nicht essen. Dann schob Ganga ihm den Teller näher heran, warf ihm einen finsteren Blick zu, als würde er seine Pflichten vernachlässigen, und bestand darauf, dass er wenigstens ein bisschen zu sich nehme, denn was würden die Leute sagen, wenn sie erführen, dass er nicht esse? Weigerte er sich dann immer noch, versuchte sie es anders, dann setzte sie sich zu ihm, den Teller zwischen ihnen, und erklärte, dass sie erst wieder gehe, wenn der Teller leer sei, denn sie wusste, dass ihr Vater lieber allein war, und hoffte, dass er essen würde, um sie loszuwerden. Selbst wenn sie merkte, dass ihrem Vater die Vorstellung zu essen wirklich zuwider war, blieb Ganga sitzen und versuchte, ihm die Mahlzeit aufzuzwingen, als würde sie nun nicht mehr seinen Wünschen gehorchen, sondern einem höheren Gesetz, und erst wenn sie vollends überzeugt war, dass er nicht nachgeben werde, ließ sie schließlich von ihm ab. Dann schaute sie sich unsicher um, und in...

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