Hochgradig unlogisches Verhalten

Hochgradig unlogisches Verhalten

von: John Corey Whaley

Carl Hanser Verlag München, 2017

ISBN: 9783446258907

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 1859 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hochgradig unlogisches Verhalten



Vier
Lisa Praytor


Lisa hatte von ihrer Mutter einige wichtige Dinge gelernt. Wie man sich beim Autofahren schminkt, wann man weiße Schuhe tragen kann und wann nicht – solche Sachen. Aber vor allem hatte Lisa gelernt, sich im Leben nicht alles gefallen zu lassen. Sie hatte keine Lust, zu enden wie ihre Mutter: überarbeitet, leicht depressiv und in dritter Ehe unglücklich.

Lisa wollte weg aus Upland. Gut, es gab bestimmt Schlimmeres als diese kleine Stadt in Kalifornien, aber sie wusste einfach, dass sie in Upland auf Dauer nicht glücklich werden würde. Jemand wie Clark konnte hier vielleicht still und zufrieden leben, ohne je etwas zu vermissen. Doch Lisa hatte größere Pläne. Sie wollte jemand Bedeutendes werden. Nur dazu würde es im Inland Empire nicht kommen. Mit dem Ende ihrer Schulzeit auf der Junior-High taten sich für Lisa immerhin neue Perspektiven auf. Und jetzt, wo sie einen zweiten Termin bei Solomon Reeds Mutter hatte, war sie ihrem Ziel, aus Upland wegzukommen, näher als je zuvor.

Sie war sich nur noch nicht sicher, was mit Clark werden sollte. Sie liebte ihn. Wie konnte man ihn auch nicht lieben. Aber jeden Versuch, mit ihm das nächste Level zu erreichen, blockte er ab. Übers College wollte er nicht reden, sagte, er sei noch nicht so weit. Und trotz seines Aussehens und seines Selbstbewusstseins zeigte sich, dass er auch in einem gewissen anderen Punkt noch nicht so weit war.

Clark wollte warten. Lisa war nicht ganz klar, worauf, aber immer wenn sie etwas anfangen wollte, das auch nur entfernt an Sex erinnerte, fand er, es sei noch nicht der richtige Moment. Natürlich kam sie nie auf den Gedanken, dass es etwas mit ihr zu tun haben könnte.

»Er ist gläubig«, erzählte sie ihrer Freundin Janis am Telefon, »das wird’s sein, oder?«

Schon seit der ersten Klasse waren Janis Plutko und Lisa beste Freundinnen. Doch vor einem Jahr war Janis auf einmal sehr christlich geworden, und Lisa fand, dass ihre alte Schulfreundin mehr und mehr von ihr abrückte. Sie hatte an sich kein Problem mit dem neu gefundenen Glauben ihrer Freundin, aber sie fragte sich manchmal, ob Janis wirklich so gläubig war, wie sie tat.

»Oh bitte«, sagte Janis. »Ich bin schon mit drei Typen aus der Sonntagsschule ausgegangen, und alle drei wollten mir an die Wäsche. Lass mal den lieben Gott aus dem Spiel, Lisa.«

»Ja, aber was ist es dann? Und sag nicht, dass es an mir liegt!«

»Lisa … er ist im Wasserball-Team und er hat drei ältere Brüder …«, sagte Janis.

»Och nee, Janis! Nicht schon wieder! Er ist nicht schwul.«

»Alle Statistiken und Klischees sprechen aber dafür.«

»Was soll dieser Mist?«

»Es heißt, je mehr ältere Brüder man hat, umso wahrscheinlicher ist man schwul. Und ich muss dir doch nicht wirklich erklären, was an Wasserball schwul ist?«

»Lauter halb nackte Jungs, die sich im Wasser um einen Ball balgen«, sagte Lisa. »Schon klar, aber er ist nicht schwul.«

»Ich kann ja verstehen, dass du es nicht wahrhaben willst. Aber schließ die Möglichkeit nicht aus. Ich hab eine Antenne für so was.«

»Ehrlich gesagt, so wichtig ist es jetzt auch nicht.«

»Lisa … ich finde, du solltest das schon ernst nehmen.«

»Vielleicht sollten nicht alle so ein großes Ding daraus machen. Und ich hab zurzeit eh so viel um die Ohren. Sex steht auf meiner Liste ganz weit unten.«

»Gratuliere, du wärst eine vorbildliche Christin. Geh doch einfach mal zur Kirche, vielleicht ist er dann ganz scharf auf dich.«

»Ich hätte Angst, dass mich auf der Schwelle der Blitz trifft.«

»Das fürchte ich auch«, sagte Janis leicht gehässig.

»Ich liebe ihn. Und ich bin ziemlich sicher, dass er mich liebt. Also, wo ist das Problem?«

»Darf ich dich erinnern, dass wir dieses Gespräch führen, weil du sexuell frustriert bist?«

»Und wenn schon. Wie gesagt: Sex lenkt nur ab. Ich muss mich auf die Schule konzentrieren und zusehen, dass ich hier wegkomme.«

»Dann erzähl doch endlich von deiner Zahnärztin«, sagte Janis.

»Sie war supernett. Und ich hatte recht. Er war schon seit Jahren nicht mehr draußen.«

»Wahnsinn«, sagte Janis. »Aber an seiner Stelle würde ich mich auch nicht mehr aus dem Haus trauen.«

»Er konnte doch nichts dafür«, hielt Lisa dagegen.

»Mal ehrlich, ich versteh nicht, warum du dir so einen Kopf um einen Typen machst, den du gar nicht richtig kennst.«

Lisas Plan war schon einige Zeit gereift, bevor sie Solomons Mom getroffen hatte, aber sie war noch nicht bereit, Janis einzuweihen. Das Letzte, was man gebrauchen kann, wenn man etwas tut, was man lieber bleiben lassen sollte, ist eine Moralpredigt von jemandem wie Janis. Lisa kannte das Risiko, und ihr Entschluss stand fest.

Später am selben Abend, zu Hause bei Clark, schnitt Lisa wieder das Thema College an, um rauszufinden, was in seinem Kopf vor sich ging.

»Hast du noch mal über Colleges an der Ostküste nachgedacht?«, fragte sie.

»Ich hab mir mal was angeguckt«, antwortete Clark, »aber dann hab ich mich viel zu erwachsen gefühlt und lieber Videospiele gespielt.«

»Also ich hab mich jetzt endgültig entschieden. Vielleicht findest du was in der Nähe?«

»Okay, und wo?«

»Woodlawn University. Woodlawn hat den Psychologie-Studiengang mit dem landesweit zweitbesten Ranking.«

»Warum nimmst du nicht den mit dem besten Ranking?«

»Weil ich mir sicher bin, dass ich in Woodlawn Jahrgangsbeste sein kann, aber vielleicht nicht an dem anderen College.«

»Du bist wie Lady Macbeth, nur ohne Mord.«

»Danke, ich nehme das als Kompliment.«

»Und ich soll also nach einem College da in der Nähe schauen? Wo liegt das, in Oregon?«

»Maryland«, verbesserte sie. »Baltimore.«

»Ich wollte immer schon mal das Grab von Edgar Allan Poe sehen.«

»Totaler Blödsinn«, sagte Lisa. »Ich kann mit dieser Faszination für Gräber und Friedhöfe nichts anfangen. Ich finde das … morbide und einfach nur traurig.«

»Ich gehe manchmal zum Grab von meinem Opa. Ich finde es schön da.«

»Tut mir leid.«

»Braucht dir nicht leidtun«, erwiderte Clark. »Ich mag, was ich mag, und du magst, was du magst.«

»Und was machst du dann da? Du guckst es dir an und bist traurig?«

»Nein. Meistens bete ich einfach oder rede mit meinem Opa, als wäre er noch da. Ehrlich gesagt, macht es mich eher fröhlich als traurig.«

»Wir Menschen sind schon komisch, oder?«

»Bist du deswegen so scharf darauf, uns alle zu therapieren?«, fragte Clark.

»Nicht dich«, sagte sie schnell, »du bist in Ordnung, so wie du bist.«

»Danke. Also … Woodlaw …«

»Woodlawn«, korrigierte Lisa.

»Ach ja, genau. Kommst du da rein?«

»Mit links.«

»Was musst du dafür machen? Einen Aufsatz schreiben oder so?«

»Genau. Meine persönliche Erfahrung mit psychischen Erkrankungen

»Das sollte nicht schwer sein.« Clark lachte. »Du kannst einfach was über deine Mom schreiben. Oder auch über meine Mom. Die hat manchmal echt nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»Nein, es muss etwas Einmaliges sein. Der beste Aufsatz des Jahres. Oder der beste in der Geschichte von Woodlawn. Sie vergeben nur ein Stipendium pro Jahr. Mit allem Drum und Dran.«

Lisa wusste genau, worüber sie schreiben würde. Als sie Valerie Reeds Anzeige in der Zeitung entdeckte, war es ihr schlagartig klar geworden. Sie musste Solomon finden, einen Draht zu ihm bekommen und ihn wieder gesund machen. Dann würde sie alles in ihrem College-Aufsatz verarbeiten und wäre auf dem besten Weg, bald zu den größten Psychologen des 21. Jahrhunderts zu zählen. Vielleicht würde man in Woodlawn eines Tages sogar ein Gebäude nach ihr benennen.

Aber um garantiert Erfolg zu haben, musste sie bald loslegen. Vor allem, weil es sich bei Solomon Reed anscheinend um einen schweren Fall von Agoraphobie handelte. Mit ein paar Wochen war es da nicht getan. Lisa würde Monate brauchen, damit er die gewünschten Fortschritte machte – und ihr vorletztes Jahr an der Junior-High neigte sich schon dem Ende zu. Sie konnte gerade noch die Deadline für eine vorgezogene Bewerbung schaffen, aber viel Spielraum blieb ihr nicht. Die Warteliste kam für sie nicht infrage, und lieber würde sie sterben, als sich mit dem drittbesten Angebot zufriedenzugeben. Sie gehörte nach Woodlawn, und sie würde es dorthin schaffen, egal um welchen Preis.

»Ich werde über meinen Cousin schreiben«, sagte Lisa.

»Den in der Klapse?«

»… in der Anstalt«, verbesserte sie. »Ich habe ihn erst ein Mal getroffen. Er darf an ein, zwei Wochenenden im Jahr nach Hause. Ganz schön krass irgendwie. Ich wollte immer schon mal mit ihm reden und ihn ein bisschen kennenlernen. Hab’s aber nie gemacht.«

»Sei vorsichtig«, riet Clark. »Wird schon seinen Grund haben, dass sie ihn wegsperren.«

»Bestimmt. Aber vielleicht werde ich trotzdem versuchen, mit ihm zu reden.«

Trotz ihres Interesses für Psychologie hatte Lisa nicht die geringste Absicht, mit ihrem Cousin oder sonst irgendjemandem aus ihrer Familie zu sprechen. Sie ertrug es ja schon kaum, mit ihrer Mutter im selben Zimmer zu sein, und die letzte...

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