Das metrische Wir - Über die Quantifizierung des Sozialen

Das metrische Wir - Über die Quantifizierung des Sozialen

von: Steffen Mau

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518751725

Sprache: Deutsch

300 Seiten, Download: 5093 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das metrische Wir - Über die Quantifizierung des Sozialen



Einleitung


Im Frühjahr 2015 hat die chinesische Regierung ein spektakuläres, ja geradezu revolutionäres Vorhaben angekündigt: Sie plant, bis zum Jahr 2020 ein sogenanntes Social Credit System zu entwickeln. Dafür sollen aus allen gesellschaftlichen Bereichen Daten über individuelles Verhalten eingesammelt, ausgewertet und schließlich zu einem einheitlichen Score zusammengeführt werden. Aktivitäten im Internet, Konsum, Verkehrsdelikte, Arbeitsverträge, Bewertungen von Lehrern oder Vorgesetzten, Konflikte mit dem Vermieter oder das Verhalten der eigenen Kinder – all das kann in dieses System einbezogen werden und Auswirkungen auf den individuellen Social Score haben. Das System soll jeden erfassen, ob er oder sie das will oder nicht. Es geht darum, ein Gesamtbild des Wertes einer Person zu erstellen, auf dessen Grundlage ihr dann wiederum bestimmte Möglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt, im Arbeitsleben oder beim Zugang zu Krediten eingeräumt werden. Behörden sollen auf diese Informationen zurückgreifen können, wenn sie mit Bürgern interagieren; Unternehmen sollen die Möglichkeit haben, sich auf diesem Weg ein Bild ihrer Geschäftspartner zu machen. Damit möchte die chinesische Regierung die Aufrichtigkeit ihrer Bürger belohnen und Unaufrichtigkeit sanktionieren. Das Vorhaben zielt erklärtermaßen auf die Herstellung von gesellschaftlichem Vertrauen, einer »Mentalität der Ehrlichkeit« – und zwar mit dem Mittel der totalen sozialen Kontrolle.

Ein extremes und düsteres Beispiel, fürwahr. Allerdings steht es für einen allgemeinen Trend hin zu quantifizierenden Formen sozialer Rangbildung, die zunehmend ein eigenständiges System der Hierarchisierung und Klassifikation darstellen. Dieses Buch beschäftigt sich mit der Herausbildung einer Gesellschaft der Scores, Rankings, Likes, Sternchen und Noten. Es handelt von daten- und indikatorenbasierten Formen der Bewertung und Kontrolle, die einer umfassenden Quantifizierung des Sozialen Vorschub leisten. Es geht um die Gesellschaft der allgegenwärtigen Soziometrie[1] oder kurz: um das metrische Wir. Soziologisch betrachtet, haben wir es bei solchen quantifizierten Selbstbeschreibungen nicht mit der bloßen Widerspiegelung einer vorgelagerten Realität zu tun, sie können vielmehr als generativer Modus der Herstellung von Differenz angesehen werden. Quantitative Repräsentationen kreieren die soziale Welt nicht, aber sie re-kreieren sie (Espeland & Sauder 2007). Sie sind demzufolge als Realität sui generis anzusehen.

Der neue Quantifizierungskult – der »Zahlenrausch«, wie es Jürgen Kaube einmal genannt hat (nach Hornbostel et al. 2009: 65) – ist in engem Zusammenhang mit der Digitalisierung zu sehen, die sich in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen manifestiert und diese radikal restrukturiert. Die vielfältigen Daten, die wir produzieren und die fortwährend gespeichert werden, erzeugen einen immer größeren digitalen Schatten, manchmal mit unserem Einverständnis, oft auch ohne dieses. In der Welt von Big Data sind Informationen über Nutzer, Bürger oder einfach nur Menschen der Rohstoff, aus dem sich Gewinn schlagen lässt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Informationsökonomie zu einer Krake entwickelt hat, die nicht nur massenhaft Daten einzieht, sondern diese mithilfe von Algorithmen auswertet und für vielfältige Zwecke bereitstellt. Dabei geht es stets darum, Unterscheidungen zu treffen – zu codieren – mit einschneidenden Folgen für Prozesse der Klassifikation und der Statuszuweisung. Digitale Statusdaten werden zu »Unterscheidungszeichen« (Bourdieu 1985: 21) par excellence. Dass sich Praktiken des Messens, Bewertens und Vergleichens nicht nur schleichend, sondern rasant verbreiten, mag angesichts der exponentiell wachsenden Möglichkeiten der Datenerzeugung und -verarbeitung nicht weiter verwundern. Aber es wäre zu einfach, diese allgemeine Kultur der Quantifizierung einseitig als technologische zu interpretieren, denn es kommt zugleich auf die aktive Mitmachbereitschaft zahlreicher gesellschaftlicher Akteure an: Zum einen müssen sie solche Verfahren und Maßstäbe akzeptieren, zum anderen müssen sie ihre Daten zur Verfügung stellen und sich bewerten lassen.

Angetrieben wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Popularisierung von Konzepten wie Transparenz, Accountability und Evidenzbasierung, bei denen Ratings, Rankings und quantifizierende Bewertungsformen eine zentrale Rolle spielen. Es geht hierbei darum, durch die Verfügung über Daten das Steuerungswissen zu erhöhen, um effektiver in das soziale Geschehen eingreifen zu können (Power 1994, Strathern 2000). Man verlässt sich oftmals auf Indikatoren, mit deren Hilfe sich komplexe soziale Phänomene anhand weniger Daten erfassen und mittels derer sich Vergleiche durchführen lassen. Kennziffern, Indikatoren und Zahlen sind daher von fundamentaler Bedeutung für oft unter dem ungenauen Stichwort »Neoliberalismus« verhandelte Governance-Ansätze, die Effizienz und Leistungsfähigkeit zu leitenden Bewertungsmaßstäben machen (Crouch 2015). Die überall etablierten Leistungs- oder Zielvereinbarungen setzen Überprüfbarkeit voraus, und um diese durchzusetzen, benötigt man entsprechende Indikatoriken: So führt das New Public Management, also die Übernahme privatwirtschaftlicher Managementtechniken in der öffentlichen Verwaltung, mehr oder weniger automatisch zu einer Ausdehnung des Monitorings und der Berichterstattungspflichten. Öffentliche Einrichtungen sowie private Unternehmen erweitern zudem beständig ihren Datenbestand über Bürger, Kunden oder Mitarbeiter, um Kontrolle auszuüben und um Zielgruppen genauer adressieren zu können. Komplementär dazu gibt es Veränderungen in der individuellen Selbststeuerung, etwa durch die Verbreitung der Rolle des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007), durch Self-Enhancement oder neue Formen der Selbstoptimierung. Auch hier wird verstärkt auf Verfahren der Vermessung und Quantifizierung zurückgegriffen, weil diese geeignet scheinen, die eigene Leistungskurve exakt abzubilden und sich mit anderen »messen« zu können. Die Gesellschaft macht sich auf den Weg zur datengestützten Dauerinventur.

Daten zeigen an, wo eine Person, ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Organisation steht, sie leiten Bewertungen und Vergleiche an – kurz: produzieren Status und bilden diesen ab. Permanente Vermessung und Bewertung führen dazu, dass sich sowohl die Fremd- als auch die Selbststeuerungsleistungen intensivieren. Wenn jede Aktivität und jeder Schritt im Leben aufgezeichnet, registriert und in Bewertungssysteme eingeschrieben wird, verlieren wir die Freiheit, unabhängig von den darin eingelassenen Verhaltens- und Performanzerwartungen zu handeln. Ratings und Rankings, Scorings und Screenings trainieren uns Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsschemata an, die sich zunehmend an Daten und Indikatoriken ausrichten. »Statusarbeit« (Groh-Samberg et al. 2014) wird dann zum Reputationsmanagement, bei dem es vor allem darum geht, gute Noten, Plätze und Scores zu erhalten. Das gilt umso mehr, als unter den Bedingungen von Statusunsicherheit das Interesse daran wächst, sich seines Standings zu versichern – am besten mit objektiven Daten. So gesehen lässt sich die neue Verunsicherung in wichtigen Fraktionen der Mittelschichten durchaus als treibende Kraft hinter dem auf Quantifizierung setzenden Statusdrang verstehen, wobei hier Fluch und Segen einmal mehr eng beieinander liegen. Der Halt, den objektivierte Statusinformationen geben mögen, wird mit einer Dynamisierung des Statuswettbewerbs erkauft.

Die Möglichkeiten der Protokollierung von Lebens- und Aktivitätsspuren wachsen gegenwärtig rasant: Konsumgewohnheiten, finanzielle Transaktionen, Mobilitätsprofile, Freundschaftsnetzwerke, Gesundheitszustände, Bildungsaktivitäten, Arbeitsergebnisse etc. – all dies wird statistisch erfassbar gemacht. Gewiss, es gibt nach wie vor Möglichkeiten, in der digitalen Welt Außen- oder zumindest Randseiter zu bleiben und Datenspuren zu vermeiden, allerdings um den Preis der Selbstexklusion aus relevanten Kontexten der Kommunikation und Vernetzung. Nach allem, was man bislang weiß, sind Menschen überaus freizügig, wenn es darum geht, persönliche Daten zu veröffentlichen oder weiterzugeben. Dieser Datenvoluntarismus speist sich aus einer Mischung aus Mitteilungsbedürfnis, Unachtsamkeit und schließlich dem Interesse an den neuen Möglichkeiten des Konsums, der Information und der Kommunikation. Es gibt zudem eine wachsende Nachfrage nach Selbstquantifizierung, welche die Individuen zu bereitwilligen Datenlieferanten werden lässt. Die Technologien der Selbstvermessung und des Self-Tracking sind eine Goldader für die Data-Miner, die unser Verhalten so umfassend wie möglich beschreiben und vorhersagen wollen. Durch die Verbindung von wachsenden Datenbeständen und immer ausgefeilteren Analyseverfahren lassen sich diese individuellen Informationen mit kollektiven Aggregaten verbinden. Wir werden mannigfaltig vergleichbar: mit Normwerten, mit anderen, mit Leistungszielen, die man erreichen sollte oder möchte.

Der als Rationalisierung maskierte Kult der Zahlen hat weitreichende Folgen: Er verändert auch die Art und Weise, wie das Wertvolle oder Erstrebenswerte konstruiert und verstanden wird. Indikatoren und metrische Vermessungsformen stehen jeweils für spezifische Konzepte sozialer Wertigkeit sowohl im Hinblick auf das, was als relevant gelten kann, als auch auf das, was gesellschaftlich als erstrebenswert und wertvoll angesehen wird bzw. werden soll. Im Regime der Quantifizierung erfahren...

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