Die Schiffbrüchige

Die Schiffbrüchige

von: Ali Zamir

Eichborn AG, 2017

ISBN: 9783838725437

Sprache: Deutsch

254 Seiten, Download: 833 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Schiffbrüchige



Das Land, ja, das Land hat mich ausgespuckt, das Meer verschlingt mich, der Himmel wartet, und kaum komme ich wieder zu mir, sehe ich nichts, höre ich nichts, spüre ich nichts, aber das fällt nicht ins Gewicht, denn ich bin nichts wert, warum sollte ich den Kopf hängen lassen, wo alles hier endet, »ein Toter darf keine Angst haben vorm Verrotten«, sagte mein Vater Connaît-Tout immer, und der hatte die Weisheit mit Löffeln gefressen, trotzdem wusste er nicht, auch wenn er mir den Namen Anguille gegeben hatte, ja, genau, einen Aal hat er mich genannt, trotzdem wusste er nicht, dass alle ihre eigene Aalstatt haben, dass jede Höhle einen Aal reifen lässt, jede Stille eine Überraschung, aber dass die Überraschungen je nach Tiefe der Stille schwanken, und wenn ich sagte, »mein Vater Connaît-Tout«, dann weil ich noch einen anderen habe, und wie hieß es doch gleich, das ist jemand, der durch die Natur zieht, das sollte niemanden wundern, denn wenn es Leute gibt, die nur einen Vater haben, gibt es auch welche, die haben mehr als zwei, ich jedenfalls habe bisher zwei, aber das ist eine andere Geschichte,

alles hier ist wie ein Spuk und zugleich eine Wüste, mir kommt es vor, als wäre ich in einem großen finsteren Schlund, ein Grab ist dieser Ort, etwa nicht, nun sagt doch was, die ihr mich hört, dann wäre ich also an meiner letzten Ruhestätte, denn da ist weder dieser erbärmliche Haufen, zu dem ich gehörte, noch die entsetzliche Angst, die um mich war, ohne mich auch nur zu streifen, sind keine jämmerlichen Schreie, nicht mal die Schluchzer und herzzerreißenden Tränen, die immer wieder hervorbrachen, Himmel, von nichts mehr eine Spur, kein Wesen könnte hier behaupten, in irgendeiner Form zu existieren, aber was rede ich, nicht mal für das, was man existieren nennt, gibt es in einem solchen Zustand einen echten Beweis, schlimm ist das, aber noch mal, wer sagt mir, dass ich lebe, einem Aal zuliebe, bitte, kann mir vielleicht jemand antworten und mir meine Zweifel nehmen, wenigstens das, nur das Halluzinieren hat hier noch einen Sinn, alles ist eigenartig nichtig und leer, angefangen bei dieser Finsternis, die nichts mehr fasst und nichts mehr wiegt und nur noch blutleere Dunkelheit ist, bloß Dunkelheit, und dann diese unangenehmen Geräusche, die sich in meinem Kopf sammelten und die ich für den Lärm der gespenstischen Wellen hielt, ja, denn die Wellen, die über uns herfielen wie wütende Ungeheuer, verbanden sich mit den gellenden Schreien der verängstigten Frauen und Kinder, den Stimmen der Männer, die um Hilfe riefen, bis ihre Rufe erstarben, als hätten die Menschen begriffen, dass sie sich diesem tragischen Schicksal ergeben mussten, als wären sie Ausgestoßene, besiegt und lautlos umgekommen in den Grauen eines Schlachtfelds, aber am merkwürdigsten ist, dass ich jetzt, wo ich mit mir spreche, nicht die geringste körperliche oder seelische Empfindung verspüre, alles ist ein einziges Chaos, oder bin ich in der Welt der Manen, verdammt noch mal, was genau ist passiert, ich spüre weder die Fluten, die mich ein für alle Mal begraben wollen, noch die Wellentürme, die sich an meinem Körper brechen und mir ins Gesicht schlagen, noch die schneidende Kälte,

dafür ist eines ganz sicher, denn zumindest kann ich in diesem leeren Labyrinth, trotz der Dunkelheit, der eigenartigen Stille und meiner Empfindungslosigkeit, auf einmal alles wieder sehen, aber nicht mit den Augen, nein, das nicht, nur wie dann, ich habe nicht die geringste Ahnung, ich spiele also, wie ich es in diesem Theater namens Welt gelernt habe, den Papagei, sehe Bilder, die in meinem Kopf umgehen, eins nach dem anderen, ungestüme Bilder, purzelnde Bilder, die sich vordrängeln, aufeinanderprallen, ich weiß gar nicht, welches ich auswählen soll aus diesem Schwarm aufdringlicher Gespenster, zuerst sehe ich meine Stadt, Mutsamudu, und in ihrem Herzen die Medina, die für mich auch eine schützende Höhle war, während ich hier verwundbarer bin als die Ferse dieses angeblichen Helden Achill, während ich an dieser Sterbestatt dahindämmere, weil ich gezwungen war, meine Höhle zu verlassen, nur ihre Seele hatte ich bewahrt, die Stille, und jetzt durchbreche ich auch sie mit einem Schlag, habt ihr schon mal einen Aal gesehen, der die Stille durchbricht, nun, ich tue es, weil ich jetzt nichts bin, denn wer seine Höhle verliert, verliert auch seine Stille, sein Schweigen, sein wahres Leben also, mit all seinen Geheimnissen, das ist doch klar, da muss ich euch nicht belehren, und wenn ich zu einer armseligen Heimatlosen geworden bin, dann weil ich ein schnödes, unbedeutendes Etwas war, lasst mich also freiheraus erzählen, bis in den Taumel der ewigen Ruhe,

schon habe ich ein erstes flüchtiges Bild eingefangen, so flüchtig wie ein wildes Tier, immerhin weiß ich jetzt, woher ich komme, aber mühsam ist das, meine Güte, und da wieder eins, ich sehe unsere Gegend, Mjihari, das älteste Viertel von Mutsamudu, wie schön es doch ist, sich inmitten der Katastrophe zu erinnern, fern aller saturnischen Visionen, denn ich bereue nichts, und wie angenehm, sich zu spüren, und sei es beim Hinübergang, fürs Erste begnüge ich mich mit diesen beiden Beutestücken, bei der Jagd darf man nämlich nie vergessen, dass man schon eine Beute in der Hand hat, wenn man eine weitere erlegen will, sonst verliert man alles und hat am Ende nur einen leeren Magen, tatsächlich habe ich meine liebe Not mit dem Erinnern, die Erinnerung ist mein Hunger, sie frisst den Verstand, und in meiner Not habe ich zwei Säugetiere gejagt, ich weiß nicht, zu welcher Gattung sie gehören, fragt mich das bitte nicht, Hauptsache, ich habe sie, da, Mutsamudu und Mjihari, mit den Namen kommt mir so vieles wieder in den Sinn, die Freuden meiner jungen Jahre, die wunderbarsten Abenteuer, ein so aufregendes wie übersprudelndes Leben, und ausgehend von diesen beiden Namen kann ich alles wieder sehen, denn andere Namen gesellen sich hinzu, die brauche ich gar nicht zu rufen, Gott sei Dank, wenn man im Begriff ist, diese Welt zu verlassen, ist es wirklich besser, man erinnert sich, tastet sich voran, stochert in der Vergangenheit, als dass man sich hängenlässt, jammert und mit den Zähnen klappert wie irgendeine Knalltüte, die ihre Rolle vermasselt hat,

jetzt ist das Viertel ganz nah, ich sehe es, spüre es, es schaut mich an wie ein strahlendes Kindergesicht, so munter ist es, rege, voll pulsierendem Leben, ich sehe das Ufer, die Pirogen, aufgereiht nicht nur hintereinander, sondern auch parallel zueinander, von links nach rechts und umgekehrt, am Strand beim Felsvorsprung, genau wie die Autos, die immer auf den Bürgersteigen parkten, wenn es unterm Seemandelbaum ein Hochzeitsfest gab, und auch die Fischer sind noch da, ja, diese Helden des Meeres, geben an mit ihren Pirogen wie die Reichen mit ihren Autos, sind nur neidisch aufeinander, zanken sich, schnauzen sich an und raufen wie die Vorschulkinder auf dem Pausenhof, wenn sie sich um ein Spielzeug balgen, das war schon immer so, seit dem Anbeginn der Welt, aber was rede ich, als hätte es jemals keine Welt gegeben, ich fange schon an zu spinnen, dabei habe ich bisher kaum etwas erzählt, und was ich rede, was ist das überhaupt, ah, klar, wie mein Vater Connaît-Tout immer sagte, »wenn man nicht weiß, was für ein Exkrement man ausscheiden soll, sagt man einfach irgendwas«,

aber zurück zu unseren Schäfchen, und da seht ihr, was aus meinem Clownsmaul herauskommt, um welche Schäfchen soll es schon gehen, he, ich bin doch kein Hirte, der Mussa Mudu war einer, und der war noch mal wer, fragt ihr, dieser Mussa Mudu, das sehen wir später, der spielt keine Rolle für das, was ich euch erzählen will, der ist eher was für Historiker, und ich bin für die Tiefen an Land, was der Aal für den Bauch des Meeres ist, also, wenn ihr mein Leben verstehen wollt, versteht erst mal das Leben eines Aals im Meer, denn selbst die Leute, die einen Aal eigentlich kennen sollten, kennen ihn nicht, das ist das Problem, und für die Fischer gilt das zuallererst, es gibt also einen großen Unterschied zwischen meinem Leben und der Geschichte dieses Hirten, ich wollte damit nur sagen, dass ich diese Redeweise hasse, das sind Floskeln, die irgendwelche Komödianten durchgesetzt haben, schaffen wir uns unsere eigenen und zeigen wir, dass wir gute Schauspieler sind, du musst nur die richtigen Worte finden, Anguille, kehren wir lieber zurück nach Mjihari, um zu verstehen, was mir passiert ist,

ich sprach von den Fischern, die Männer kamen aus verschiedenen Vierteln, aber in Mjihari kamen sie alle zusammen, dort, wo sich das Leben wirklich Leben nennt, und was für eins, schließlich gibt es Orte auf der Welt, wo das Leben praktisch nichts ist, so wie hier, und trotzdem ist es ein guter Ort für einen Aal, der bei einer Aalerei umkommt, das heißt, während er mit dem Körper Schläge austeilt, nichts anderes tue ich jetzt, auch wenn ich ganz allein bin, aber das ist ja immer so, wenn ein Aalleben an sein Ende kommt, die Fischer jedenfalls, wollte ich sagen, stritten sich dauernd, entweder weil sie nicht wussten, wie sie die Kunden unter sich aufteilen sollten, wenn sie mal Fische zuhauf hatten, oder weil niemand den Verkauf in die Hand nehmen wollte, wenn sie es mit einer Unmenge von Kunden zu tun hatten und der Fisch vorn und hinten nicht reichte, jeder stahl sich aus der Verantwortung, nicht dass ein böser Blick ihn traf, Augen gab es nämlich immer viele, sobald der Fisch knapp war, es bedurfte eines Nichts, und der Streit fiel vom Zaun,

so ruppig die Fischer miteinander umgingen, verstanden sie doch, dass sie zur selben Sippe gehörten, und betrachteten sich als Brüder vom selben Blut, und wenn ein Kunde sich mal mit einem von ihnen anlegte, hatte er es gleich mit allen zu tun, ausnahmslos allen, denn sobald eine äußere Macht...

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