Europadämmerung - Ein Essay

Europadämmerung - Ein Essay

von: Ivan Krastev

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518752180

Sprache: Deutsch

143 Seiten, Download: 4228 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Europadämmerung - Ein Essay



Einleitung
Ein Déjà-vu


An einem der letzten Tage im Juni 1914 traf in einer abgelegenen Garnisonsstadt des Habsburgerreiches ein Telegramm ein. Es bestand aus einem einzigen, in übergroßen Buchstaben geschriebenen Satz: »Thronfolger gerüchtweise in Sarajevo ermordet.« Zunächst noch ungläubig, begann einer der Offiziere des Kaisers, Graf Battyanyi, sich in seiner ungarischen Muttersprache mit seinen Landsleuten über den Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand zu unterhalten, der als einseitiger Förderer der Slawen galt. Rittmeister Jelacich, ein Slowene, der die Ungarn wegen ihrer angeblich mangelnden Kaisertreue nicht mochte, forderte die Herren auf, ihre Unterhaltung im gebräuchlicheren Deutsch zu führen. Darauf erwiderte der ungarische Graf Benkyö, der gerade gesprochen hatte: »Ich will es auf deutsch sagen: Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, daß wir froh sein können, wann das Schwein hin is!«

Das war das Ende des habsburgischen Vielvölkerstaates – zumindest wie Joseph Roth ihn in seinem meisterhaften Roman Radetzkymarsch beschrieben hat.1 Der Untergang des Reichs war teils Schicksal, teils Mord, teils Selbstmord und teils einfach nur Pech. Während die Historiker sich uneins sind, ob das Reich eines natürlichen Todes aufgrund institutioneller Erschöpfung oder eines gewaltsamen Todes aufgrund des Ersten Weltkriegs starb, spukt der Geist des gescheiterten Habsburger-Experiments auch weiterhin in den Köpfen der Europäer. Oszkár Jászi – ein Historiker, der das Ende der Monarchie selbst miterlebt hatte – traf 1929 es auf den Punkt, als er schrieb:

 

»Wäre das österreichisch-ungarische Staatsexperiment tatsächlich erfolgreich gewesen, hätte die Habsburgermonarchie auf ihrem Territorium das fundamentalste Problem des heutigen Europa gelöst. […] Wie ist es möglich, Nationen mit unterschiedlichen Idealen und Traditionen trotz ihrer Individualität so zu einen, dass jede ihr besonderes Leben bewahren kann, zugleich aber die nationale Souveränität ausreichend zu beschränken, um eine friedliche und erfolgreiche internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen?«2

 

Das Experiment gelangte bekanntlich nie zu einem endgültigen Abschluss, da es Europa misslang, sein dornigstes Problem zu lösen. Roths Geschichte ist ein überzeugender Beleg dafür, dass vom Menschen geschaffene politische und kulturelle Artefakte, wenn sie denn verschwinden, dies abrupt tun. Das Ende ist eine natürliche Folge struktureller Mängel und hat zugleich Ähnlichkeit mit einem Verkehrsunfall – nach Art einer unbeabsichtigten Folge etwa oder eines schlafwandlerischen Vorgangs, eines besonderen Augenblicks mit ganz eigener Dynamik. Das Ende ist sowohl unvermeidlich als auch unbeabsichtigt. Erleben wir heute in Europa einen ähnlichen »Zerfallsaugenblick«? Signalisiert die demokratische Entscheidung der Briten, die Union zu verlassen (die in ökonomischer Hinsicht dem Austritt der zwanzig kleineren EU-Staaten gleichkäme), im Verein mit dem Aufstieg euroskeptischer Parteien auf dem Kontinent das Ende unseres jüngsten Experiments zur Lösung des fundamentalsten Problems Europas? Ist die Europäische Union dazu verdammt, in ähnlicher Weise zu zerfallen wie einst das Habsburgerreich?

Jan Zielonka hat einmal treffend bemerkt: »Wir haben viele Theorien der europäischen Integration, aber praktisch keine Theorie der europäischen Desintegration.«3 Das ist kein Zufall. Die Architekten des europäischen Projekts haben sich selbst vorgemacht, wenn sie nicht darüber sprächen, könnten sie vermeiden, dass es zu einer Desintegration käme. In ihren Augen glich die Integration einem Schnellzug – niemals anhalten und niemals zurückblicken. Statt die Integration der Europäischen Union irreversibel zu machen, begnügte man sich lieber mit der Strategie, einen Zerfall undenkbar erscheinen zu lassen. Es gibt indessen noch zwei weitere Gründe für das Fehlen von Theorien zur Desintegration. Der erste ist das Problem der Definition: Wie kann man Desintegration von einer Reform oder einem Umbau der Union unterscheiden? Wäre der Austritt einiger Länder aus der Eurozone oder aus der Union als Desintegration zu verstehen? Oder wären der Rückgang des globalen Einflusses der EU und die Rücknahme einiger großer Errungenschaften der europäischen Integration (etwa die Abschaffung der Personenfreizügigkeit oder einer Institution wie des Europäischen Gerichtshofs) ein Beweis für Desintegration? Bedeutet die Entstehung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten bereits eine Desintegration, oder ist dies ein Schritt hin zu einer engeren und vollkommeneren Gemeinschaft? Wäre es denkbar, dass eine von illiberalen Demokratien bevölkerte Union dasselbe politische Projekt weiterführte?

Ein zweiter Grund liegt in der Ironie, dass ausgerechnet zu einer Zeit, da politische Führer und Öffentlichkeit gelähmt sind von der Furcht vor der Desintegration, Europa so stark integriert ist wie niemals zuvor. Die Finanzkrise hat die Idee einer Bankenunion Realität werden lassen. Das Erfordernis einer wirkungsvollen Antwort auf die wachsende terroristische Bedrohung zwingt die Europäer, auf dem Gebiet der Sicherheit enger zusammenzuarbeiten als jemals zuvor. Und noch paradoxer: Die vielen Krisen, mit denen die Europäische Union gegenwärtig konfrontiert ist, führen dazu, dass ganz gewöhnliche Deutsche sich ganz ungewöhnlich für die Probleme der griechischen und italienischen Wirtschaft interessieren, und sie drängen Polen wie auch Ungarn, sich mit der deutschen Asylpolitik zu beschäftigen. Die Europäer leben in der Angst vor der Desintegration, während die Union mehr denn je als eine Schicksalsgemeinschaft erscheint.

Die europäische Desintegration ist auch nur sehr selten zum Gegenstand fiktionaler Literatur gemacht worden. Unzählige Romane gehen der Frage nach, was geschehen wäre, wenn Nazideutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Es mangelt auch nicht an Phantasien, was wohl geschehen wäre, wenn die Sowjets den Kalten Krieg gewonnen hätten – oder wenn die kommunistische Revolution nicht in St. Petersburg, sondern in New York stattgefunden hätte. Aber fast niemand hat sich dazu inspirieren lassen, den Zerfall der Europäischen Union literarisch zu verarbeiten. Die einzige Ausnahme ist hier wahrscheinlich José Saramago. In seinem Roman Das steinerne Floß verschwindet ein Fluss, der von Frankreich nach Spanien fließt, im Boden, und die gesamte Iberische Halbinsel bricht von Europa ab und treibt westwärts über den Atlantik.4

George Orwell hatte sicher recht mit seiner Bemerkung: »Zu sehen, was man direkt vor der Nase hat, bedarf eines ständigen Kampfes.« Am 1. Januar 1992 wachte die Welt auf und erfuhr, dass die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden war. Eine der beiden Supermächte war zusammengebrochen, und das ohne Krieg, ohne eine ausländische Invasion oder eine andere Katastrophe, wenn man einmal von einem lächerlichen und erfolglosen Putschversuch absieht. Die Sowjetunion kollabierte gegen alle Erwartungen, wonach das Land zu groß zum Scheitern, zu stabil für einen Zusammenbruch und atomar zu stark bewaffnet sei, um besiegt zu werden, und im Übrigen bereits zu viele Wirren überlebt hätte, um einfach zu implodieren. Noch 1990 erklärte eine Gruppe führender amerikanischer Fachleute: »Sensationsszenarien mögen eine anregende Lektüre sein, doch […] in der realen Welt gibt es diverse stabilisierende und retardierende Faktoren. Gesellschaften erleben häufig Krisen, sogar schwere und gefährliche, aber sie begehen selten Selbstmord.«5 In Wirklichkeit begehen Gesellschaften sehr wohl zuweilen Selbstmord, und sie tun es sogar mit einem gewissen Elan.

Wie vor einem Jahrhundert leben die Europäer heute in einer Zeit, in der eine lähmende Ungewissheit die Gesellschaft erfasst hat. Politische Führer und einfache Bürger sind gleichermaßen hin- und hergerissen zwischen hektischer Aktivität und fatalistischer Passivität, und was bisher als undenkbar galt – die Auflösung der Union –, erscheint langsam als unausweichlich. Narrative und Grundannahmen, die gestern noch unser Handeln leiteten, wirken inzwischen nicht nur veraltet, sondern geradezu unverständlich. Dass etwas den Zeitgenossen absurd und irrational vorkommt, bedeutet, wie wir aus der Geschichte wissen, durchaus nicht, dass es nicht geschehen könnte. Und die in Mitteleuropa immer noch vorhandene nostalgische Erinnerung an das liberale Habsburgerreich ist der beste Beweis dafür, dass wir manches erst zu schätzen wissen, wenn es nicht mehr da ist. Die Europäische Union war immer eine Idee auf der Suche nach einer Realität. Aber die Sorge, dass das, was die Union einst zusammenhielt, seine Geltung verloren haben könnte, wächst. So ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aus dem Blickfeld verschwunden. Ein Viertel aller fünfzehn- und sechzehnjährigen Gymnasiasten in Deutschland weiß nicht, dass Hitler ein Diktator war.6 Wie der 2011 erschienene satirische Roman Er ist wieder da von Timur Vernes zeigt, lautet die Frage nicht mehr, ob eine Rückkehr Hitlers möglich wäre, sondern ob wir ihn überhaupt erkennen würden. Der Roman erreichte in Deutschland Verkaufszahlen von mehr als einer Million. »Das Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama uns 1989 versprach, ist vielleicht doch Wirklichkeit geworden, allerdings in dem perversen Sinne, dass geschichtliche Erfahrung keine Rolle mehr spielt und nur wenige sich dafür interessieren.7

Die geopolitische Begründung für die europäische Einigung ist...

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