Die Verschwörung von Shanghai. - Roman

Die Verschwörung von Shanghai. - Roman

von: Xiao Bai

Insel Verlag, 2017

ISBN: 9783458749141

Sprache: Deutsch

426 Seiten, Download: 1884 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Verschwörung von Shanghai. - Roman



1


25. Mai 1931, Montag
9 Uhr 10

Das Morris Teahouse war wie das Innere eines Segelschiffs eingerichtet. Das war in den ausländischen Konzessionen nichts Ungewöhnliches. Die älteren europäischen Geschäftsleute liebten es, ihre Häuser mit Bullaugen, Ankern und Steuerrädern zu dekorieren und so zu tun, als wären sie Schiffskapitäne. Andererseits war das Teehaus aber auch eine Art schwimmender, sechseckiger Pagode mit schmalen Treppen und Messinggeländern. Im dritten Stock gab es große Fenster, durch die man auf die Pferderennbahn hinaussehen konnte.

Morris Teahouse war ein lärmender Ort. Früher war es sogar mal ein Stall gewesen, und über der Tür hingen zwei große Hufeisen. Liao berührte sie jedes Mal, wenn er hineinging.

Das Teehaus war ein beliebter Treffpunkt der Journalisten, schon wegen der Nähe zum Rennplatz. An klaren Tagen konnte man von den Fenstern im dritten Stock aus sogar die Zahlen auf den Anzeigetafeln erkennen und sehen, wie die Quoten standen. Pffft! Liao spuckte Teeblätter aus dem Mundwinkel. Selbst der Tee schmeckte hier nach Pferdepisse.

Am Samstag hatte die Polizei in den frühen Morgenstunden sein Zimmer gestürmt. Liao wohnte in einer kleinen Kammer über einer Gemeinschaftsküche, was bedeutete, dass sein Zimmer nach gebratenem, salzigem Fisch stank. Er schlief noch halb, als die Polizisten ihn aus dem Bett zerrten und auf den nicht sehr sauberen Rücksitz ihres Autos schoben. Natürlich hätte er sein Zimmer abschließen können. Aber wozu? Es war ja nicht so, als ob er irgendwelche Wertgegenstände besessen hätte. Und wie schwungvoll die Polizisten durch den Hof gestürmt, durch die Küche marschiert und die ewig knarzende Treppe hinaufgerannt waren, ganz ohne die streitsüchtige Wirtin zu wecken! Zugegeben, es waren nun mal Polizisten mit Pfeifen, Knüppeln und Abzeichen auf den Uniformen, die konnte eh niemand aufhalten.

Deshalb hatte er auch noch geschlafen, als sie ihm die Decke wegzogen und ihn höflich gebeten hatten, sich anzuziehen.

Der Wagen fuhr los, bog ein paarmal scharf ab und hielt vor einem roten Backsteingebäude. Erst als sie ihn wieder herauszogen, kam er auf die Idee, sie zu fragen, wo sie eigentlich herkamen. Da hörten sie mit der Höflichkeit auf. Der eine schlug ihm mit der Faust auf den Hinterkopf. Dann stießen sie ihn in einen kahlen, weißgetünchten Raum.

Den Mann, der im Inneren auf ihn wartete, kannte er: Sergeant Ch’eng vom North-Gate-Revier. Ja, er kannte den Alten Pockennarbigen Ch’eng. Der Sergeant war genau wie Liao ein Mann der Green Gang und stammte aus einer reichen Shanghaier Familie. Aber im Gegensatz zu Liao war Ch’eng eine große Nummer.

Liao versuchte die Zugehörigkeit zur Gang ins Spiel zu bringen und erwähnte beiläufig seinen Capo, aber die Polizisten schlugen und traten ihn bloß immer weiter. Er war gezwungen, Ch’eng alles zu erzählen, was er wusste. Allerdings wusste er nichts. Auf jeden Fall hatte er nicht gewusst, dass ein Mann erschossen werden würde, sonst hätte er der Polizei das gemeldet – er war ein pflichtbewusster Bürger. Au! Na schön, er war kein so guter Bürger, aber er hätte trotzdem nicht die Nerven gehabt, ein solches Geheimnis für sich zu behalten. Er war zum Kai gegangen, weil ihm morgens um sieben ein anonymer Anrufer mitgeteilt hatte, dass ein großes Ding an der Anlegestelle passieren würde.

Aber wieso war er eigentlich schon morgens um sieben in der Redaktion gewesen? Liao erklärte, er wäre gar nicht erst nach Hause gegangen – er habe die ganze Nacht Mahjong gespielt. Und warum habe er diesem anonymen Anrufer geglaubt? Und womit habe er die anderen Reporter von dem Tipp überzeugt?

Hier zögerte Liao, und die Männer, die ihn verhörten, packten ihn an den Schultern und drückten ihn hart auf den Boden. Vielleicht war es die Stimme des Mannes gewesen, die von tödlichem Ernst war – wie ein kalter Lufthauch, der aus dem Hörer drang. Und wie hatte er die anderen überzeugt? Ach, das sei ganz einfach gewesen – hier kriegte er einen weiteren Schlag auf den Kopf. Ch’engs Männer mochten offenbar keine allzu lässigen Antworten. Reporter seien doch bereit, alles zu glauben, wenn sie damit einen Coup landen könnten.

Sergeant Ch’eng ließ ihn laufen. Er sagte ihm allerdings, wenn er seinen Capo nicht hätte und wenn er das Manifest der Attentäter nicht an die anderen Blätter verkauft, sondern selbst im Arsène Lupin gedruckt hätte, würde er die nächsten Jahre im Gefängnis der Lunghwa-Garnison verbringen. Die Zeitungen hatten ganz groß über die Schießerei am Kin-Lee-Yuen-Kai berichtet und hatten auch den Aufruf der Attentäter an die Bevölkerung von Shanghai abgedruckt, ohne sich um die von der Armee und der Kuomintang-Regierung eingerichtete Zensurbehörde im East-Asia-Hotel auch nur im Mindesten zu kümmern.

Das Teehaus begann sich mit Menschen zu füllen, und Liao setzte sich an eins der nach Norden ausgerichteten Fenster. Hsueh saß ihm gegenüber, und seine Kamera lag auf dem kleinen Tisch.

»Wo bist du am letzten Dienstag gewesen? Ich hab die ganze Nacht nach dir gesucht. Ich bin sogar am Morgen noch hier gewesen, um dich zu erwischen. Aber du warst nirgends zu finden.«

Liao sagte jetzt die Wahrheit. Gegenüber Sergeant Ch’eng hatte er nicht die Wahrheit gesagt.

Hsueh schien es zu bedauern, dass er den Scoop verpasst hatte. Natürlich hatte Liao den Tipp dann einfach jemand anderem verkauft. Hsueh blätterte noch einmal durch die Fotos. Einige davon waren von den Zeitungen schon gedruckt worden, aber es gab auch welche, die Hsueh noch nicht gesehen hatte. Das waren die für die China Times, und der Fotograf hatte für Liao einen Satz Abzüge extra gemacht.

Von allen Bildmotiven schätzte Hsueh Tatort-Fotografien am meisten. Hier zum Beispiel nahm die Leiche des Attentäters die rechte Diagonale des Fotos ein. Er lag direkt unter dem Reserverad, das an der Rückwand des Fords hing. Man sah die Pistole und das schwarze Blut auf dem Boden. Die Shun Pao sagte, es sei eine Selbstladepistole vom Typ Mauser C96, während andere ihren Spitznamen box cannon gun benutzten, weil das irgendwie gefährlicher klang. Ein anderes Bild war eine Nahaufnahme eines Polizisten. Seine erhobene schwarze Pfeife war so dicht vor der Linse, dass sie wie eine verwelkte Blume aussah, und hinter dem Mützenschirm sah man die offene Wagentür und auf dem Rücksitz die Leiche des Opfers. Unter der Tür konnte man den Saum eines schwarzen Mantels erkennen. Der gehörte dieser Frau, die mit dem Opfer verheiratet war. Ein anderes Bild zeigte ihr leeres Gesicht, als sie auf der Straße lag und sich mit einer Hand aufzurichten versuchte. In ihrem Mundwinkel hing noch das Erbrochene. Liao hatte noch ein anderes Foto von ihr gesehen, in Millards Review, ein Archivbild, das ursprünglich bei Mr Ts’aos Hochzeitsanzeige abgedruckt worden war. Es hieß, dass Ts’aos Tod etwas mit seiner Frau zu tun hatte, die jetzt von der Polizei gesucht wurde.

»Die Frau hab ich auf dem Schiff gesehen. Ich hab ein Foto von ihr, das viel besser ist. Der Typ hat nicht gut gearbeitet. Seine Kamera taugt nichts, und seine Technik ist miserabel.« Offensichtlich war es dem Mann von der China Times schwergefallen, in dem Chaos seine Kamera richtig einzustellen, und das Gesicht der Frau war sehr unscharf.

»Zeig mir dein Bild«, sagte Liao.

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Hsueh. Er klang etwas geistesabwesend. »Du müsstest mir fünfzig Yuan zahlen.«

Liao verlor sofort das Interesse. Das Attentat war keine Nachricht mehr. Es lag jetzt eine Woche zurück, die Zeitungen hatten der Story zahllose Seiten gewidmet, und niemand wollte mehr etwas darüber hören. Nur Hsueh interessierte sich noch dafür.

»Also diese Frau«, sagte er. »War sie wirklich eine Kommunistin? Und wie sind diese Leute auf dich verfallen?«

Liao fing wieder an zu lügen. »Sie haben mich auf der Straße angehalten und gebeten, zu ihnen ins Auto zu steigen.« In Wirklichkeit hatte ihn eine Frau ins Gesicht geschlagen und Streit mit ihm angefangen. Dann hatte das Auto angehalten und er war auf den Rücksitz geschoben worden. Er war gekidnappt worden. Aber das war...

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