Als ob sie träumend gingen - Roman

Als ob sie träumend gingen - Roman

von: Anna Baar

Wallstein Verlag, 2017

ISBN: 9783835341685

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 1014 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Als ob sie träumend gingen - Roman



 

 

 

I

 

Südlicher Fisch

(Adagio con pietà)

Engel im Schnee


Klee liegt auf dem Krankenbett, unter dem Flügelrad des Deckenventilators, das sich so tief in seine Gedanken schraubt, dass er nicht unterscheiden kann, ob es die Sommerhitze ist, die ihn bezwungen hat, oder ein inneres Feuer. Mit nach der Zimmerdecke gerichteten Augen liegt er da, den Blick schon taub vom Kreiseln. Manchmal verschwimmt sein Jetztbild mit einem früher geschauten: das Rotieren von Audiokassettenspulen hinter der durchsichtigen Plastikabdeckung eines Kassettenfachs. Oder Mädchen beim Reigentanz. Sie stemmen ihre Hände in die Hüften, stampfen, hüpfen, drehen sich. Ein Jauchzen, Klatschen, Lachen! Die Mädchen tragen Zöpfe. Alle bis auf Lily. Lilys Haar ist unfrisiert, immer ist es so. Lily tanzt für sich, zu einer anderen Musik, mit dem anderen Gesicht. Ein Zeitlupentanz ist das – adagio con pietà. Dann, gleich, noch ein anderes Bild: ein Kirchenchor, vielstimmiger Gesang. Und wieder Lilys Mädchengesicht inmitten der anderen Sänger. Und irgendwo beginnt das Feuer, und der Wind stößt ins Feuer und da aus hundert Kehlen Ave, ave! und Heil, o wahrer Leib, der wahrhaft litt!, und am Ende des Dorfs streut sich die Glut über trockenes Gras.

Klee schließt die Augen, hält sich die Ohren zu. Doch alles ist ja längst in seinem Kopf. Lilys Stimme auch. Die anderen immer leiser, die Einsager, Beschuldiger, die Schreihälse, Neider und Spötter. Lily aber meint es gut. Bestimmt meint sie es gut – wie damals auch, am eigentlichen Tag. Ein Wintertag muss das gewesen sein, und kein Tag seit dem Tag, an dem Klee nicht beim kleinsten Anstoß zurückfiel an den Ort und in die Zeit, wie die Plattenspielernadel bei der kleinsten Schramme an den immer selben Punkt zurückspringt, sich da immer tiefer in die Furche fräst, bis sie einmal stecken bleibt. Man kann es kommen sehen. Immer sieht man es kommen. Ein wiederkehrender Wachtraum: Lily und der Mann mit dem Totenkopf am Kragenspiegel. Der treibt sie vor sich her. Und sie? Hinkend, aber aufrecht, im Kreuz den Lauf des Gewehrs, und immer noch den Trotz im Blick, ohne Eitelkeit. Und dann? Lässt sie sich rücklings in den unberührten Schnee fallen und tut wie die hölzerne Gliederpuppe des Kinds, wenn man an der Schnur zwischen ihren Beinen zieht, Arme und Beine ausgebreitet, dann wieder angelegt – und abermals so auf und ab –, und als der Mann sie weiterzwingt, bleibt da eine Vertiefung im Schnee, die aussieht wie ein Engel.

Klee blinzelt, nimmt die Hände von den Ohren. Sein Puls folgt dem Rotationstakt des Propellers. Die Schwüle bleibt. Sie ist ihm gut und er jetzt selbst Teil dieses Drehens, Schwindelns, Taumelns, Stürzens – Ave, ave, verum corpus – und gleich der große Knall, das Aufflattern der Vögel im Weingarten des Vaters, das Aufschrecken aus dem Schlaf, der zuweilen nur ein Halbschlaf ist, ein Dämmern, Dunkelsehen.

Seltsam ist: Er weiß nicht, wie der Tag zu Ende ging.

Draußen am Gang ist es ruhig. Auch drinnen, im Zimmer, ruhig. Nur das Windmaschinengeräusch. Manchmal mischt sich ein Surren hinein, das Kitzeln der Beinchen und Rüssel. Früher waren ihm Fliegen verhasst, und wütend hat er sie immer verscheucht, wütender, als es dem Zuschauer angebracht schien – wenn es denn einen Zuschauer gab –, denn der Zuschauer, wenn es ihn gab, sah ja nur den Tobenden, der nach den Plagegeistern schlug und dabei trampelte und schrie, nicht aber einen, der eigentlich die Erinnerung zu vertreiben suchte, die ihr Anblick in ihm weckte, und lebhaft, wie noch mittendrin, als stünde er immer noch dabei, wie Malik, der jüngere Bruder, damals ein Kind von vielleicht zwölf Jahren, neben dem toten Maultier kniet und weinend nach den Fliegen schlägt, die sich nach kurzem Reißausnehmen wieder und wieder auf Maul und Nüstern setzen, auf Wunden, in denen Maden sich biegen, und so, als stünde er noch dabei, wie Malik das tote Maultier streichelt und wie er sein Ohr an den Tierbauch drückt, als horchte er nach dem Klopfzeichen des Lebens. Und wie er es rüttelt, zu wecken sucht und dabei einen Namen sagt, den keiner außer ihm je in den Mund genommen hat: Mila! Mila!, immer lauter, dass Klee, um einer Rührung zu entgehen, ihm ängstlich ins Gewissen ruft, und diesen Ruf noch jetzt im Ohr – Halt’s Maul und sei ein Mann!

Jetzt lässt er die Fliegen gewähren, hält still, dass sie da bleiben, freut sich am Kitzeln auf seiner Haut. Es ist die letzte Zärtlichkeit, die ihm noch zufallen kann. Das Streicheln eines Mädchens. Er kann sie deutlich sehen, die hohen Wangen und die kühn geschwungenen Brauen, ihr unfrisiertes Haar. Sie wirbt nicht, will nicht gefallen. In schlichter Schönheit steht sie da, wie eine blasse Maurin, eigenwillig und voll von Lust, alles an sich zu haben. Da winkt sie vor seinen Augen, Ist da einer? Hören Sie mich, Klee? Klee? Die Schwester scheucht die Fliegen fort, zerschlägt sein Bild und schlägt das Leintuch um. Wortlos greift sie nach seinem Geschlecht, zieht es aus der Flasche, die sie auf den Nachttisch stellt, säubert es mit einem Zellstofflappen, steckt es erneut in den Flaschenhals, bedeckt ihn wieder und geht. Klee blickt ihr noch nach, als er sie längst nicht mehr sieht. Er muss daran denken, wie er einmal in die Vase uriniert hatte, in die Vase der Frau. Gleich kommt der Oberarzt. Der Oberarzt mag seine Fliegen nicht. Man muss ihm zu Gesicht stehen, sonst …! Was sonst? Die Schwestern kuschen, wenn er kommt. Sie plieren und girren und folgen aufs Wort und folgen auch ohne Worte. Sie geben zu Protokoll: Hoden beidseits vorhanden, etwa haselnussgroß. Der linke verschwindet bei Kälte. Ansonsten ist leiblich alles normal, nur der Geist ist ihm abgeirrt. Augenblicklich hat er die Grillen und bildet sich lebhaft was ein.

Der Arzt macht sich Notizen. Manchmal ein Handzeichen oder ein Eselsohr auf dem obersten Blatt der Krankenakte – soll wohl heißen: Hoffnungsloser Fall. Die Hoffnungslosen räumt man fort. Vielleicht sind die bei Gott, wenn es ihn gibt. Wer sagt denn, dass man keine Hoffnung hat? Er! Der Oberarzt ist obenauf. Er ist es, der die Fragen stellt, und stellt sie aus wie Fallen. Seit wann haben Sie Stimmenhören? Kann man das haben, Stimmenhören? Der Oberarzt notiert, sein Klemmbrett wippt. Musterblatt Krankheitsgeschichte. In die linierten Leerstellen des Vordrucks setzt er das gültige Urteil, schwarzblaue Schlingen, Schlaufen und Zinnen, Kuppen eines unbenannten Orts, die, ehe sie abtrocknen, das Röhrenlicht der Notbeleuchtung spiegeln. Festzustellen: Körpergröße 179 Zentimeter, Gewicht 70 Kilogramm, Statur mittel, Degenerationszeichen Passagerer Kryptorchismus, besondere Erkennungsmerkmale Regio pectoralis lateralis rechts kirschgroßes, altes Wundmal, Regio deltoidea links erbsengroßes, altes Wundmal sowie längliche, wulstige Narbe Regio hypochondriaca, Kein Parasitenbefall. Diagnose Schwachsinn. Der Oberarzt will ihn nackt. Antworten Sie mir endlich! Wer glauben Sie, dass Sie sind? Er spielt mit ihm das Ratespiel. Er wird das Spiel gewinnen. Er wird jedes Schweigen als Krankheitszeichen deuten, wie er jede Antwort als Krankheitszeichen deuten wird. Er weiß am besten, wer Klee ist und dass der Klee wer ist.

Jedes Kind weiß: Auf einem mannshohen Sockel aus Stein stand auf dem Heldenplatz des Orts das Mal. Aus Gusseisen war das – ein Haudegen in Kniehosen und offenem Mantel, den Arm mit der geballten Faust zum Sieg gespannt, das Gewehr geschultert, den Blick in die Ferne gerichtet. Das wird der Klee gewesen sein. Oder einer wie er, gleich in Ruf und Gestalt. Sie haben das Denkmal fortgeschafft. Als wär es nie gewesen. Als wär der Klee nie gewesen. Doch halt! Die Heldenstücke sind belegt, aufgezeichnet und auf Band gesprochen, acht Kassetten, C90 Super Sound Magnetic Tape, handschriftlich mit Datum und laufenden Nummern versehen. Dazu noch die Plaketten, Ehrenzeichen, und seine alten Narben, die jeder mit freiem Auge erkennt. Es braucht kein Denkmal zum Beweis.

 

Nicht der, für den man mich hält.

Wie hat das angefangen?, fragt der Arzt.

Es hat geschneit, Herr Doktor.

Und dann? Und dann! Sie müssen sich erinnern!

 

Und wie das gehen soll: sich zu erinnern? Oft genug hat er’s versucht, ist ganz in sich gegangen und aus sich, das schon Gelöschte wiederherzustellen. Und manchmal, blitzschnell, war es da, wenn er zum Tonaufnahmegerät geredet hat, zur Erinnerungsmaschine, Stunde um Stunde, Tag um Tag, ohne Rücksicht auf die Frau, ohne Rücksicht auf das Kind. Ja, da waren Frau und Kind. Bei denen hat er gelebt, mehr Anrainer als Mitbewohner, ein großer, schwerer Mann, und doch hat keiner ihn gekannt, nicht die Frau, nicht das Kind, nur die Männer, die an den Abenden kamen und bei Einbruch der Nacht verschwanden. Zu denen hat er geredet, anders als zur Frau. Zum Kind hat er kaum geredet, nur dann und wann ein Kosename oder Liebeswort, bestimmt als Ausgleich für das Schweigen, das Unbehagen, wenn es schwatzte oder Fragen stellte, wie die Kinder immer Fragen stellen, auf die man keine Antwort weiß. Warum wird man geboren? Warum gibt’s Tag und Nacht? Warum bist du so still? Alles hatte still zu sein, und alle Welt schien stillzustehen, vor allem, wenn Klee zur vollen Stunde die...

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