Deutschland im Mittelalter - Wirtschaft - Gesellschaft - Umwelt
von: Bernd Fuhrmann
Philipp von Zabern in der Verlag Herder GmbH, 2017
ISBN: 9783805351331
Sprache: Deutsch
512 Seiten, Download: 1794 KB
Format: EPUB
Frühmittelalter
Agrarsektor1
Für das Frühmittelalter, also die Zeit der Merowinger, Karolinger und Ottonen, sollen die wirtschaftliche Ausgangslage und die darauf aufsetzenden Entwicklungen nur knapp behandelt werden. Unser Wissen über diese Zeit ist vielfach nur ein wahrscheinliches, nicht aber ein gesichertes. Allgemein lässt sich die Zeitspanne vom 3. bis zum 8. Jahrhundert als eine Transformationsperiode bezeichnen, die geprägt ist von tief greifenden, aber keinesfalls immer zeitgleichen Veränderungen in fast allen Bereichen von Herrschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und darüber hinaus. Die Vorstellung von einer Völkerwanderung oder von Zügen geschlossener Volksstämme quer durch Europa ist in den letzten Jahrzehnten aufgegeben worden. Bei den späteren „Germanenreichen“ oder „-völkern“ handelte es sich vielmehr um aus den weiträumigen Wanderungen entwachsene Gruppierungen, von denen ein Traditionskern dem „Volk“ oder dem Reich schließlich seinen Namen gab. Vielleicht waren etliche dieser Vorstellungen letztlich Tacitus geschuldet, der in seiner Germania den indigenen Charakter der „Stämme“ betonte, was schon unter den Humanisten seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zu Kontroversen führte. Ebenso wird der schleichende Niedergang des Weströmischen Reiches in der Historiografie nicht mehr nur als Abstieg oder gar als Zerfall gewertet, sondern daneben rücken die Neuansätze stärker ins Blickfeld.2 Schon aufgrund ihrer geringen Gesamtzahl – die Zahl der Chlodwigfranken dürfte 80.000 nicht überstiegen haben – konnten die seit dem späten 5. Jahrhundert vordringenden Franken kein Interesse an der Vertreibung der verbliebenen romanischen oder sonstigen ansässigen Bevölkerung haben. Vielmehr nahmen sie Bauern, Gewerbetreibende und Händler in ihren Dienst und verbündeten sich nicht zuletzt zur Absicherung ihrer Herrschaft mit den alten Führungsschichten. Dies galt schon für die Gebiete an Rhein und Mosel. Außerdem konnten die eingesessenen Senatoren- und Großgrundbesitzerfamilien unverändert die Bischöfe stellen. Erst ihr weitgehendes Aussterben bis zum 7. Jahrhundert schuf Raum für einen neuen „Adel“.
Unter Chlodwig (481/82–511) erfolgte die Bildung des Fränkischen bzw. des Merowingischen Großreichs, nachdem dieser sich 486/87 militärisch die Herrschaft im vormals römisch beherrschten Teil Galliens gesichert hatte, um anschließend Tournai und Soissons zu seinen Hauptsitzen zu bestimmen. Auf die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs bis zur Loire folgte im Bündnis mit den Burgundern 507 ein Sieg über die Westgoten und die Einnahme von deren Hauptstadt Toulouse. Der Sieg über die Alemannen öffnete zudem das Oberrheingebiet seiner Herrschaft. Parallel dazu ließ Chlodwig im Inneren konkurrierende Frankenkönige ausschalten, ein Vorgehen, das mit der Einbeziehung des Kölner Teilreichs zwischen 509 und 511 seinen Abschluss fand. Beim Tod Chlodwigs erstreckte sich das fränkische Herrschaftsgebiet vom Rhein bis zum Atlantik sowie von der Maas bis zu den Pyrenäen. In der Folge aber sollten Reichsteilungen zur Regel werden, wodurch das Reich sich im Wesentlichen in den östlichen Teil Austrien, Neustrien im Westen sowie Burgund untergliederte. Eine über die Jahrhunderte fortbestehende Kontinuität zeigt sich beispielsweise in Trier daran, dass sich dort noch im 7. Jahrhundert eine ehemalige Senatorenfamilie nachweisen lässt. Die sogenannte „Moselromania“, zwischen Trier und Koblenz gelegen, bildete sogar bis ins Hochmittelalter eine fast geschlossene romanische Enklave, die sich erst um 1200 auflöste. Die Dichte der gallo-römischen Bevölkerung nahm nach Westen im Gebiet des heutigen Frankreichs zu, während sie südlich der Loire sogar weitgehend unter sich blieb.
Die fränkische Landnahme ist auch vor dem Hintergrund eines Umbruchs der ländlichen Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur zu sehen, die sich aber nur in groben Zügen abzeichnet. Die Gutsbetriebe der Spätantike wurden mit Sklaven und Lohnarbeitern, in spätrömischer Zeit verstärkt durch das Kolonat, also die Ansiedlung einer arbeits- sowie abgabenpflichtigen Landbevölkerung, bewirtschaftet. Sie erwirtschafteten nicht nur landwirtschaftliche Überschüsse, sondern produzierten teilweise gewerbliche Güter und förderten bei entsprechendem Vorkommen Bodenschätze. Die Gutsbetriebe wie auch die sonstigen ländlichen Siedlungen im Rhein-Mosel-Gebiet und in den weiter westlich gelegenen Regionen wurden bereits von den Wirren des 3. Jahrhunderts schwer getroffen, vollends aber von den zahlreichen Kriegszügen des 5. Jahrhunderts. In diese veränderten Siedlungsstrukturen fügten sich die Franken ein, und sie ließen sich in den schon zuvor erschlossenen Gebieten nieder. Ihre Höfe und Gehöftansammlungen, in den lateinischen Quellen ausnahmslos als villae bezeichnet, legten sie vornehmlich in Niederungen und an Wasserläufen an, da Wasser und Weide für die von ihnen vorrangig betriebene Viehzucht unentbehrlich waren; ansonsten bevorzugten die neuen Bewohner für Siedlungsplätze zumeist die halbe Hanghöhe als Ökotopengrenzlage3. Der Getreideanbau gewann bei den Franken im 6. Jahrhundert eine größere Bedeutung, wobei die Feldgraswirtschaft weiterhin den Ackerbau dominierte; die Jagd diente nur zur Nahrungsergänzung. Im 7. Jahrhundert dürften erste, noch wenig umfangreiche (Brand-)Rodungen vorgenommen worden sein, um neue Böden für den Ackerbau zu gewinnen. Allerdings zeigt sich bereits für die Merowingerzeit, dass eine gesellschaftlich gehobene Stellung tendenziell zu einem höheren Fleischkonsum anstelle pflanzlicher Nahrungsmittel führte.4 Die Erschließung der Mittelgebirge blieb somit ganz überwiegend dem Hochmittelalter vorbehalten.
Beim Getreideanbau lassen sich im Frühmittelalter Verschiebungen gegenüber den vorhergehenden Jahrhunderten erkennen. Unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung schwand einerseits der Anteil des eher auf mediterrane Einflüsse zurückgehenden Weizenanbaus, während andererseits Gerste (die zu Teilen für die Bierherstellung benötigt wurde), Spelz oder Dinkel, vor allem aber Roggen und Hafer mehr Raum gewannen, zumal der Hafer für die Pferdezucht zunehmende Bedeutung erlangte. Der in Spätantike und Frühmittelalter durchaus bedeutsame Dinkelanbau beschränkte sich jedoch in den folgenden Jahrhunderten weitgehend auf das Gebiet der heutigen nördlichen Schweiz und den Neckarraum. Daneben wuchsen Hirse, Rüben und Hülsenfrüchte wie Erbsen, Linsen oder vielfach Bohnen auf den Böden; dass es sich dabei bereits um regelrechte Gärten handelte, ist hingegen unwahrscheinlich. Beibehalten wurde, wenngleich eingeschränkt, der seit der römischen Zeit verbreitete Weinanbau, zumal Wein eine hohe liturgische Bedeutung besaß. An Obstsorten sind sowohl durch Schriftquellen als auch durch Bodenfunde in erster Linie Birnen und Äpfel belegt. Bezeugt ist ferner der Anbau von Flachs auf größeren Feldern, um daraus Leinen zur Tuchherstellung zu gewinnen. Vornehmlich in den Randlagen der Urwälder, und von solchen darf man noch vielfach sprechen, wurde Bienenzucht betrieben. Bei der Viehzucht dominierten Schweine, daneben wurden Rinder, Pferde, Ziegen, Schafe und Geflügel gehalten. Über Größe, Gewicht und Leistungskraft des Viehs haben wir keine genauen Angaben, in jedem Fall sind die Kennzahlen deutlich niedriger anzusetzen als heute. Viehmist rangierte vor Mergel als der mit Abstand wichtigste Dünger, aber auch Asche und Kalk fanden zu diesem Zweck Verwendung. Doch Düngemittel sollten bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Mangelprodukt bleiben; erst das Aufkommen chemischer Düngemittel, die fabrikmäßig und damit in großen Mengen herstellbar waren, konnte dieses Problem beheben.5
Prägend für die Lebensordnung der breiten Bevölkerung war in zunehmendem Maße die Grundherrschaft oder Villikationsverfassung. Bei beiden Termini handelt es sich um moderne Ordnungsbegriffe; daneben wird auch von einer Fronhofverfassung gesprochen. Als Begriff kam „Grundherrschaft“ parallel zum Feudalismusbegriff erst am Ende des 18. Jahrhunderts auf und fand nochmals deutlich später, im 20. Jahrhundert, allgemeine Verbreitung. Dabei muss „Grundherrschaft“ bei verschiedenen Historikern durchaus nicht dasselbe meinen, wie ja auch die Begriffe „Feudalismus“ oder „Feudalgesellschaft“ für Mittelalter und Frühe Neuzeit nicht unumstritten sind. Bereits in den „Zeiten der wandernden Völker“ lassen sich Schichtungen innerhalb der Bevölkerung ebenso erkennen wie Unfreie, ohne dass sich deren Anteile quantifizieren ließen. Letztlich konnten sich aber die Königs-, Adels- und Kirchenherrschaft des Früh- und noch des Hochmittelalters nur deshalb etablieren und dauerhaft behaupten, weil sie im Wesentlichen auf der Grundherrschaft beruhten, in deren Verband der Großteil der Bevölkerung wirtschaftlich, politisch und rechtlich – und bei...