Der Nabel der Welt - Erzählungen

Der Nabel der Welt - Erzählungen

von: Catalin Dorian Florescu

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406712524

Sprache: Deutsch

235 Seiten, Download: 2591 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Nabel der Welt - Erzählungen



Vorwort


Sie halten meinen ersten Erzählungsband in den Händen. Die neun hier versammelten Geschichten sind über einen Zeitraum von sechzehn Jahren entstanden und somit über die gesamte Länge meiner bisherigen literarischen Laufbahn. Stets hatte ein Roman für mich Priorität und ich prüfte, ob ein bestimmter Stoff nicht genug Substanz für die längere Form hätte. Das interessierte mich mehr.

Sechzehn Jahre also, und wenn das Tempo nicht zunimmt, wird es noch einmal so lange dauern. Aber die Waage könnte sich auch auf die andere Seite neigen. Denn die Recherchen und die Niederschrift der zwei jüngsten Geschichten – ‹Ich muss Deutschland› und ‹Russisches Roulette› – haben mich so angeregt, dass ich vielleicht häufiger die kürzere Form wählen werde. Immerhin habe ich mich bei ‹Russisches Roulette›, einer Geschichte aus meinem geliebten Turin, bewusst gegen die längere Fassung entschieden. Material dafür hatte ich allemal genug und genug blieb auch nach der Beendigung der Erzählung übrig. Damit aber ist die Idee eines Romans mit Turin-Bezug aufgeschoben, nicht aufgehoben.

Alles begann mit einer Anfrage des Wagenbach Verlages kurz nach dem Erscheinen meines ersten Romans ‹Wunderzeit›. Ich sollte eine Kurzgeschichte für eine Anthologie der jungen Schweizer Literatur schreiben. Daraus wurde ‹Im Nabel der Welt› aus dem Jahr 2001. Obwohl sie im engeren Sinn keine Kurzgeschichte ist – im vorliegenden Band trägt sie einen leicht abgeänderten Titel –, sondern eher ein literarischer Bericht über eine Entwurzelung, finden sich in diesem Text in konzentrierter Form alle Elemente und Beweggründe meiner künftigen Prosa wieder: Aufbruch aus der Heimat, Suche nach Glück und Freiheit, Ankunft in einer unbekannten Welt und die erneute Sehnsucht, diesmal nach dem, was man zurückgelassen hat. Im Besonderen aber: die Resilienz des Menschen angesichts der Widrigkeiten des Lebens.

Seit dem Ende des Kommunismus wirkt der Westen wie ein Magnet auf die Menschen des Ostens, die zwischen Provinzialismus und Chancenlosigkeit und dem Wunsch nach Veränderung gefangen sind. Heute verlassen den europäischen Osten viele hochqualifizierte Fachleute wie Ärzte und IT-Spezialisten und hinterlassen in der Heimat große Lücken in ihren Berufsfeldern. Bis dahin waren vor allem Millionen einfacher Leute losgezogen, um als billige Arbeitskräfte auf Gemüse- und Erdbeerfeldern, auf Baustellen oder als Pflegerinnen zu arbeiten.

Sie griffen nach der Chance, die sich ihnen anbot. Sie konnten Geld verdienen, sich in der Ferne eine bescheidene Existenz aufbauen und vor allem die Familie zu Hause unterstützen. Und man durfte noch mehr: seinen Traum vom Eigenheim in der Heimat verwirklichen. Man kaufte in der Stadt reizlose, enge Blockwohnungen, in denen man unter den Kommunisten zu wohnen gezwungen war, oder ließ sich auf dem Land solide, aber ebenso reizlose Häuser bauen.

Gerade aus den Dörfern sind viele ausgewandert und vollziehen jährlich das Ritual der Rückkehr nach Hause, im Sommer und an den Feiertagen, vollbepackt mit Geschenken für die zurückgelassenen Kinder, die Verwandtschaft, die Nachbarn.

Für kurze Zeit tankt man wieder Heimatgefühl, fühlt sich als Gleicher unter Gleichen – höchstens nur darin ungleich, dass man fremde Währung in der Tasche hat – und beaufsichtigt die Arbeit am eigenen Haus. Weil so viele das tun, verändert sich der archaische, ursprüngliche Charakter ganzer Dörfer, die aus der Vormoderne direkt in eine beliebige Postmoderne katapultiert werden.

Das Phänomen ähnelt stark der großen Migration der fünfziger und sechziger Jahre aus dem armen europäischen Süden nach Nordeuropa. Dort wurden damals die jungen Männer gebraucht, um die Infrastruktur aufzubauen, die Frauen fanden Arbeit in der Fabrik. Das war die erste große Auswanderungswelle nach dem Krieg. Man erzählt sich heute noch von den vollgestopften Zügen aus Süditalien Richtung Norden und von den vor Menschen und Gepäck schwarzen Gleisen am Mailänder Bahnhof.

Was oft nur für ein paar Jahre gedacht war, wurde zu einem lebenslangen Zustand: das heimatlose Leben. Denn Italien nannte man Heimat, aber war sie es wirklich noch nach Jahrzehnten des Fernbleibens? Auch im Süden wurden Häuser gebaut und im Sommerurlaub Geschenke verteilt. Vielleicht mit demselben Gefühl der Schuld, mit dem Rumänen ihre zurückgelassenen Kinder beschenken, die bei den Großeltern aufwachsen und die sie nur dann und wann sehen.

Das ist möglicherweise der größte Schmerz, größer als die Demütigungen, die man als einfache Arbeitskraft im Westen erdulden muss. Der Schmerz, beim Aufwachsen der eigenen Kinder nicht dabei sein zu können und sie von sich zu entfremden. Im Gegensatz zu früher gibt es heute technische Mittel, die einem helfen sollten, die Entfernung zu überbrücken, gleichzeitig aber auch über die tiefgreifenden emotionalen und die Identität betreffenden Konsequenzen hinwegtäuschen, die mit einem Leben auf Distanz verbunden sind.

Am Abend, wenn man müde von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt ist, schaltet man Skype ein, um mit den Kindern, dem Partner, den Eltern zu reden. Gelebte Beziehung ist das nicht.

In einer ähnlichen Situation befindet sich der junge Protagonist in ‹Ich muss Deutschland›. Seine Mutter arbeitet meistens im Ausland; die Großmutter ist die einzige, bei der er so etwas wie Nestwärme verspürt, aber sie wird immer zerbrechlicher und verwirrter. Er schielt Richtung Westen, denn ein Teil von ihm sehnt sich dorthin. In dieser Situation begegnet er einem anderen gleichaltrigen Mann aus Syrien, der ebenfalls in den Westen möchte, aber aus viel traurigeren und dramatischeren Gründen. Sie sind beide gleich alt, haben denselben Wunsch, aber ihre Lebensläufe könnten unterschiedlicher nicht sein.

Seit den Neunzigern und eigentlich bis heute gibt es noch eine andere Art, dem Osten den Rücken zu kehren. Heerscharen von Männern machten – und machen – sich auf den Weg nach Osteuropa, um eine Frau zu finden. Von der Ukraine bis Rumänien, von Moldawien bis Russland reichte und reicht diese Karawane der Sehnsüchtigen. Man nimmt an organisierten Reisen in die Städte des Ostens teil, wo einem eine bestimmte Anzahl Frauen in Kaffeehäusern oder Hotellobbys vorgestellt wird. Oder man sucht auf eigene Faust.

Solch arrangierte Beziehungen – wie in anderen Jahrhunderten in Europa oder heute noch an vielen anderen Orten der Welt – können zu Liebe führen. Und wenn nicht zu Liebe, dann hat man vielleicht mit ein wenig Glück jemanden gefunden, mit dem es sich leben lässt. Aus dieser Variante der Globalisierung von Biografien entstammen Kinder, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen. Eines Tages werden sie voller Fragen dorthin aufbrechen, woher ein Elternteil gekommen ist. Und eine neue Geschichte wird beginnen.

Nora, die Hauptfigur von ‹Hochzeitsnacht›, hat Urs, einen Schweizer, gefunden und verbringt an seiner Seite die letzte Nacht vor der Abreise in der Wohnung ihrer Kindheit. Wenn sie einmal weggegangen sein wird, wird nichts mehr sein wie zuvor. Deshalb zweifelt sie. Andererseits würde sie durch ihre Auswanderung den Traum des Vaters erfüllen, dem ein Leben in der Freiheit einst verwehrt blieb.

Als Schriftsteller, der von seinem Schreiben leben muss, bin ich nicht gerade prädestiniert, mein Leben in teuren Hotels zu verbringen. Deshalb war es in dieser Hinsicht bemerkenswert für mich, dass ich in den letzten Jahren als Hotelautor einige Tage in zwei Luxushotels verbringen durfte: Im Badrutt’s Palace in St.Moritz, einer der ersten Adressen der alten, traditionsreichen Hotellerie, und im Budersand Hotel auf Sylt, einem eleganten und stilvollen Ort an der Südspitze der Insel.

Es sind Oasen der Ruhe für Privilegierte, wo man, umschwirrt von freundlichem Personal, die kleinen und großen Katastrophen des Lebens vergessen kann. Es sind Orte, die – man könnte es fast glauben – alle Wunden heilen. Die gesamte Insel Sylt und der Mythos St.Moritz stehen für einen Traum, der – bei passendem Geldbeutel – möglich scheint: frei von Sorgen, Schmerz, Verlust zu leben.

Es war für mich eine wohltuende, aber auch irritierende Erfahrung, die ich in den beiden Erzählungen ‹Gestrandete› und ‹Die Augen der Alten› verarbeitet habe. Darin scheint zuerst alles wie gewöhnlich zu verlaufen, kein Tag unterscheidet sich vom anderen, man bleibt unter sich, ungestört und fern vom Lärm der Welt. Bis dann eines Tages die krude Realität über die Bewohner des Paradieses mit voller Wucht hereinbricht. Das wird in beiden Geschichten durch dasselbe Ereignis angekündigt; es ist etwas so Unerwartetes, dass es die Menschen in Staunen und gespannte...

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