Romeo oder Julia - Roman

Romeo oder Julia - Roman

von: Gerhard Falkner

Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783827079435

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 653 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Romeo oder Julia - Roman



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Nachdem ich in meinem Haus in der Nähe von Nürnberg frische Wäsche, mein grau-grünes Harris-Tweed-Sakko aus dem Vorbesitz meines Schwagers, meine Nikon F2, die, als ich sie kaufte, als Profikamera für den »harten Einsatz« galt, sowie ein paar Bücher und persönliche Unterlagen zusammengepackt und dafür einen Umweg von mindestens vier Stunden in Kauf genommen hatte, der unnötig gewesen wäre, wenn ich mich auf das beschränkt hätte, was ich auf der klandestinen Baustelle schon eine Woche zuvor für die Reise bereitgelegt hatte, fuhr ich los. Obwohl die Strecke über die A9 und dann über Rosenheim vermutlich der schnellere Weg gewesen wäre, fuhr ich über Donauwörth zurück nach Augsburg und nahm von dort die Bundesstraße 17 bis Schongau, wo ich schließlich ins Ammertal Richtung Garmisch-Partenkirchen abbog. Ich hatte Lust auf Landschaft, und die Landschaft hatte, wie es aussah, Lust auf mich. Schon kurz nachdem ich das Donau-Ries mit seinem durchhängenden Himmel und die Frankenalb mit ihrer dumpfen Solnhofener Schwere Richtung Süden verlassen hatte, war an allen Ecken und Enden die Sonne ausgebrochen. Man sah sie noch nicht, aber sie feuerte, wie es schien, bereits überall aus dem Verborgenen wie ein Heckenschütze. Nun, als ich ins Ammertal einbog, befreite sich der Himmel vollständig von allen Wolken, und eine dicke Septembersonne schwebte gleißend über der Idylle und berührte mit einem Hauch von Röte am westlichen Rand des Wettersteins den Gipfel der Zugspitze, während weiter im Süden, ihre gewaltige Wand zwischen Bayern und Tirol aufrichtend, die von West nach Ost streichenden Ketten des Karwendelgebirges hervortraten. Berge, die wegen ihres Kalk- und Dolomitgesteins ihr mildes, kreidiges Leuchten sogar in klaren Nächten nicht verlieren.

Vor zwei Jahren, als auf Schloss Elmau wegen einer defekten Heizdecke in Ducci Mesircas Zimmer der große Brand ausbrach, der fast das gesamte Dachgeschoss des Hotels zerstörte und jene ganz besonderen und ehrwürdigen Möbel vernichtete, die wie verdiente Persönlichkeiten überall auf den Zimmern und in den Gängen herumgestanden hatten, hatte sich der Wettersteinkamm mit seinem schmelzenden Licht, auf den ich nachts immer wieder von meinem Zimmerfenster aus starrte, als der glückliche Zufall mich einmal in dieses Hotel eingeladen hatte, in mein Gedächtnis gebrannt.

Die Straße führte den Drahnbach entlang, der mir mit seinem sprudelnd weißen Gebirgswasser so hastig entgegenkam, als wäre weiter oben eine Katastrophe im Gange.

Ich hörte das panische Zischen durch die offenen Autofenster, und die Gipfel ringsum drehten sich in den Kurven neugierig hin und her wie alte Dampfloks mit Frontschornsteinen auf einer Drehscheibe.

Oben, in Leithen, parkte ich meinen Wagen, einen metallicgrünen Mercedes-Benz 230 E, Baujahr 1986, um mir die Pestsäule anzuschauen, die der ehrsame und gestrenge Nikolaus Haller aus Innsbruck aufstellen ließ, und mir anschließend auf den umliegenden Wiesen eine Weile die Beine zu vertreten. Völlig zu Recht heißt die Säule bei den Einheimischen »der dicke Turm« und unterscheidet sich von den meist schlanken Mariensäulen, die sich von Wien aus über das gesamte k. u. k.-Reich und den anstoßenden katholischen Raum hier unten verbreiteten, eben dadurch.

Damals, auf dem Weg nach Maribor, als ich dieses Gewitter über der Basilika Mariatrost in Graz aus dem Autofenster heraus fotografierte, hatte ich, so erinnere ich mich, in Kapfenberg haltgemacht, um mir die dortige Pestsäule anzuschauen. Die hatte ich damals ebenfalls fotografiert. Es war die gleiche Nikon F2, die ich jetzt verwendete – beide Male zugegebenermaßen nicht gerade im harten Einsatz. Undeutlich drängte sich mir eine Frau ins Gedächtnis, die sich lachend und pantomimisch in den Autositz zurückstemmte, um mir aus dem Bild zu gehen, während ich fotografierte. Diese Erinnerung flackerte wie ein Blitz, der schauerlich über den dunklen Weiten der Vergessenheit leuchtet, ohne die Person zu zeigen, die diese Vergessenheit beherbergt oder verbirgt. Das Titanrollo des Kameraverschlusses flüsterte, und man hörte das edel gedämpfte Klappen des Spiegels, als die Erinnerung auch schon wieder verblasste.

Ich schlug den Bergweg Richtung Brunstkopf ein. Er thronte mit seinem Gipfel siebenhundert Meter über dem Ort Leithen und wirkte so plump, als hätte er zur Last seiner Steinmassen auch noch die seines Namens zu tragen. Beim Anstieg merkte ich, dass mir die Anstrengung vom Vormittag noch in den Knochen steckte. Meine Waden waren wie Blei, und auf meinem Rücken spannten die Muskeln, als wäre er mit Stricken zusammengeschnürt. Trotzdem durchströmte mich eine Begeisterung, für die es keinen besonderen Anlass gab, außer dass alles in Bewegung war, die Sonne schien und nicht ein einziger Gedanke es schaffte, meine Aufmerksamkeit ganz in sich zu versenken. Es war, als würden sich die Dinge nicht durch ihre Namen und die üblichen damit verbundenen Merkwürdigkeiten Aufmerksamkeit verschaffen, sondern als würden sie in meinen Augen ein Bad nehmen. Ohne mehr Wirbel zu verursachen als ein gelegentliches, leichtes Plätschern.

Als ich Innsbruck und schließlich auch das Hotel erreichte, war es früher Abend. Die Leute auf den Straßen kamen mir alle zu klein vor. Durchs Autofenster sahen sie schmal und winzig aus, wie verkleidete Streichhölzer. Schließlich war ich erstaunt, ein großes, modern gebautes Viersternehotel vorzufinden, das den alpinen Stil geschickt umging, ohne allein deshalb schon ein Fehlschlag zu sein. Es öffnete sich mit seiner halbrunden Front auf eine großzügige Auffahrt, in der ein grün livrierter Hoteldiener stand und die Wagenschläge aufriss. Wagenschläge sagt man zwar heute nicht mehr, aber so, wie der livrierte Mensch sie aufriss, waren es welche. In der Mitte zwischen mindestens sechs Glastüren gab es eine Drehtür, die sich wie eine durchsichtige Revolvertrommel drehte und Leute auswarf wie verschossene Munition. Hauseinwärts ebenso wie hausauswärts. Alle Gäste stolperten erst noch ein Stückchen, bevor sie ihren Tritt wiederfanden. Sogar wenn kein Schnee liegt, ist der Anteil an roter Kleidung in den Alpenregionen immer sehr hoch. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass auch Sportwagen gerne rot sind, Ferraris ja sogar fast immer. Offenbar schlitzen die roten Anoraks besonders eindrucksvoll das kalte Blau der Pisten, der Schnee scheint diese Farbe anzuhimmeln, aber auch unverfrorene Sommerberge werden gerne in Rot erwandert. Absolut alle, die irgendein rotes Kleidungsstück trugen, schienen auf diese Revolvertrommel zu fliegen. Ich nahm also, meiner farblichen Zurückhaltung Rechnung tragend, eine der seitlichen Glastüren, um mich nach einer Parkmöglichkeit zu erkundigen, da der Portier sich gerade links und rechts mit Koffern und darüber hinaus mit einem exklusiv für die drei jungen Frauen reservierten Lächeln beladen hatte, die soeben dem großen weißen Audi mit Starnberger Kennzeichen entstiegen waren.

Hinter der Glasfront öffnete sich eine weiträumige Lobby, die rechts vom langen Tresen der Rezeption eingenommen wurde und die in die andere Richtung allmählich in eine recht lebhafte Hotelbar überging. Nachdem ich mich nach dem Wie und Wo erkundigt hatte, parkte ich das Auto in der Tiefgarage. Ich nahm mein Gepäck aus dem Kofferraum und beschloss, den Wagen in den fünf Tagen, die ich hier sein würde, nicht anzurühren. Die letzten Wochen war ich, wenn ich nicht meiner Selbstverdeutlichung durch körperliche Arbeit nachgegangen war, zu der sicher auch die hemmungslose körperliche Beschmutzung ihre dunklen Beweggründe beisteuerte, ununterbrochen zwischen weit auseinanderliegenden Baumärkten und Baustoffcentern unterwegs gewesen. Und heute waren es seit Mittag auch schon wieder fast siebenhundert Kilometer, die ich hinter mich gebracht hatte. Ich nahm den Lift in die Lobby, um einzuchecken. Auf einem Flachbildmonitor, der an einer Säule ein paar Schritte neben mir befestigt war, lief auf MTV leise Big in Japan von Alphaville. Es war in etwa die Lautstärke, in der die Musik in einem Flugzeug unmittelbar nach der Landung einsetzt. Während ich meinen Pass über den Tresen schob, blieb mein Blick an dem Clip hängen. Grandiose Blitze, wie ich sie nur damals in Graz über der Basilika gesehen hatte, zuckten hinter dem Sänger. Blitze, die erst einmal in einer ungeheueren Breite den Himmel überzogen, bevor sie sich anschickten, in einem furiosen Zickzack zu Boden zu fahren. Blitze, geschleudert von DEM, der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch. Ich erinnerte mich, dass jemand, als das Lied Mitte der Achtzigerjahre herauskam, zu mir sagte, ich hätte den gleichen Mund wie Marian Gold, der Sänger von Alphaville. Mir missfiel dieser Vergleich besonders auch deshalb, weil anschließend mit Häme über das Wort Gummilippen gelacht wurde. Heute würde ich wahrscheinlich, wenn ich den richtigen Hut aufhätte, eher an Tom Waits erinnern, besonders während seiner rauen Version von Big in Japan, die 1999 in Amsterdam aufgenommen wurde. Mein übriger Aufzug würde sicher ganz gut hinkommen, dachte ich.

»Wie lange bleiben Sie?«, fragte die Frau an der Rezeption, von der ich weiter nichts als das Lächeln wahrnahm. Nur den Ausschnitt ihres lächelnden Mundes. Der Rest ihres Gesichts war von meiner Gedankenverlorenheit ausgeblendet oder gelöscht.

»Ja, selbstverständlich«, antwortete ich, unterschrieb die Anmeldung, griff somnambul nach der Schlüsselkarte und ging.

Ich nahm die in einem schönen, weiten Schwung aufsteigende Freitreppe, denn vor dem Lift, der alle paar Minuten seine Rückkehr in die Lobby mit einem weichen Gong ankündigte, hatte sich...

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