Die Hauptstadt - Roman | Deutscher Buchpreis 2017

Die Hauptstadt - Roman | Deutscher Buchpreis 2017

von: Robert Menasse

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518735824

Sprache: Deutsch

459 Seiten, Download: 4750 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Hauptstadt - Roman | Deutscher Buchpreis 2017



Erstes Kapitel


Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.


 





Wer hat den Senf erfunden? Das ist kein guter Anfang für einen Roman. Andererseits: Es kann keinen guten Anfang geben, weil es, ob gut oder weniger gut, gar keinen Anfang gibt. Denn jeder denkbare erste Satz ist bereits ein Ende – auch wenn es danach weitergeht. Er steht am Ende von Abertausenden von Seiten, die nie geschrieben wurden: der Vorgeschichte.

Eigentlich müsste man, wenn man einen Roman zu lesen beginnt, gleich nach dem ersten Satz zurückblättern können. Das war der Traum von Martin Susman, das hatte er eigentlich werden wollen: ein Vorgeschichtenerzähler. Er hatte ein Archäologiestudium abgebrochen und dann erst – egal, das tut hier nichts zur Sache, es gehört zur Vorgeschichte, die jeder Romananfang ausblenden muss, weil es sonst am Ende nie zu einem Anfang kommt.

Martin Susman saß am Schreibtisch, den Laptop hatte er zur Seite geschoben, und drückte aus zwei verschiedenen Tuben Senf auf einen Teller, einen scharfen englischen und einen süßen deutschen, und fragte sich, wer den Senf erfunden hat. Wer ist auf diese schrullige Idee gekommen, eine Paste zu produzieren, die den Eigengeschmack einer Speise völlig überdeckt, ohne selbst gut zu schmecken? Und wie war es möglich, dass sich dies als Massenartikel durchsetzen konnte? Es ist, dachte er, ein Produkt wie Coca-Cola. Ein Produkt, das niemandem fehlen würde, wenn es nicht da wäre. Martin Susman hatte auf dem Heimweg in der Delhaize-Filiale auf dem Boulevard Anspach zwei Flaschen Wein, einen Bund gelbe Tulpen, eine Bratwurst und dazu ganz selbstverständlich auch Senf gekauft, gleich zwei Tuben, weil er sich zwischen süß und scharf nicht entscheiden konnte.

Die Bratwurst hüpfte und zischte nun in der Pfanne, die Flamme war zu stark aufgedreht, das Fett verbrannte, die Wurst verkohlte, aber Martin schenkte dem keine Beachtung. Er saß da und starrte den etwas helleren gelblichen und daneben den dunkelbraunen Senfkringel auf dem weißen Teller an, Miniatur-Skulpturen von Hundekot. Das Anstarren von Senf auf einem Teller, während in der Pfanne eine Wurst verbrennt, ist in der Fachliteratur noch nicht als eindeutiges und typisches Symptom für eine Depression beschrieben worden – dennoch können wir es als solches interpretieren.

Der Senf auf dem Teller. Das offene Fenster, der Regenvorhang. Die modrige Luft, der Gestank von verkohlendem Fleisch, das Knistern des platzenden Darms und brennenden Fetts, die Kotskulpturen auf dem Porzellanteller – da hörte Martin Susman den Schuss.

Er erschrak nicht. Es hatte sich angehört, als wäre in der Nachbarwohnung eine Champagnerflasche geöffnet worden. Hinter der eigentümlich dünnen Wand befand sich allerdings keine Wohnung, sondern ein Hotelzimmer. Nebenan war das Hotel Atlas – was für ein euphemistischer Name für dieses schmächtige Haus, in dem vor allem gebeugte, Trolley-Koffer hinter sich herziehende Lobbyisten abstiegen. Immer wieder hörte Martin Susman, ohne dass es ihn weiter kümmerte, durch die Wand Dinge, die er nicht unbedingt hören wollte. Reality-TV oder, wer weiß, bloß Reality, Schnarchen oder Stöhnen.

Der Regen wurde stärker. Martin hatte den Wunsch, das Haus zu verlassen. Er war auf Brüssel gut vorbereitet. Er hatte bei seinem Abschiedsfest in Wien bemüht sinnige Geschenke als Ausstattung für Brüssel bekommen, darunter neun Regenschirme, vom klassischen britischen »Long« über den deutschen »Knirps« bis zum italienischen »Mini« in drei Benetton-Farben, dazu noch zwei Regenponchos für Radfahrer.

Er saß reglos vor seinem Teller und starrte den Senf an. Dass er später der Polizei genau sagen konnte, zu welcher Uhrzeit der Schuss gefallen war, verdankte sich der Tatsache, dass ihn das vermeintliche Knallen eines Champagnerkorkens dazu animiert hatte, selbst eine Flasche Wein zu öffnen. Er schob das Trinken jeden Tag möglichst weit hinaus, er trank auf keinen Fall vor 19 Uhr. Er sah auf die Uhr: Es war 19 Uhr 35. Er ging zum Kühlschrank, holte den Wein heraus, drehte die Herdflamme ab, kippte die Wurst in den Mülleimer, stellte die Pfanne in den Abwasch, öffnete den Wasserhahn. Das Wasser zischte auf der heißen Pfanne. Schau nicht schon wieder ins Narrenkastl!, hatte seine Mutter gezischt, wenn er vor einem Buch gesessen und mit verlorenem Blick vor sich hin gestarrt hatte, statt im Stall beim Füttern der Schweine und beim Ausmisten mitzuhelfen.

Doktor Martin Susman saß da, vor sich einen Teller mit Senf, schenkte sich ein Glas Wein ein, dann noch eins, das Fenster war offen, ab und zu stand er auf, stellte sich an das Fenster, sah kurz hinaus, dann setzte er sich wieder an den Tisch. Beim dritten Glas wischte Blaulicht durch das Fenster über die Wände seines Zimmers. Rhythmisch blinkten die Tulpen bläulich in der Vase auf dem Kamin. Das Telefon läutete. Er hob nicht ab. Es sollte noch ein paar Mal läuten. Martin Susman sah auf dem Display, wer der Anrufer war. Er hob nicht ab.

Vorgeschichte. Sie ist so bedeutsam und zugleich unscheinbar flackernd wie das ewige Licht in der Kirche von Sainte-Catherine, am anderen Ende des Platzes Vieux Marché aux Grains, an dem Martin Susman wohnte.

 

Einige wenige Passanten waren vor dem Regen in die Kirche geflüchtet, sie standen unschlüssig herum oder wanderten durch das Kirchenschiff, die Touristen blätterten in ihren Reiseführern und folgten dem Stationenweg der Sehenswürdigkeiten: »Schwarze Madonna, 14. Jahrhundert«, »Porträt der heiligen Katherina«, »Typisch flämische Kanzel, wahrscheinlich aus Mechelen«, »Grabsteine von Gilles-Lambert Godecharle« …

Ab und zu ein Blitz.

Der Mann, der alleine in einer Kirchenbank saß, schien zu beten. Die Ellenbogen aufgestützt, das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt, der Rücken rund. Er trug eine schwarze Jacke mit Kapuze, die Kapuze hatte er über den Kopf gezogen, und wäre auf dem Rücken seiner Jacke nicht »Guinness« gestanden, man hätte ihn auf den ersten Blick für einen Mönch in einer Kutte halten können.

Die Jacke mit der Kapuze war wohl dem Brüsseler Regen geschuldet, aber der Eindruck, den er damit machte, verriet doch auch etwas Grundsätzliches über diesen Mann. Er war auf seine Art tatsächlich ein Mönch: Er hielt das Mönchische oder was er sich darunter vorstellte, Askese, Meditation und Exerzitien, für die Rettung in einem Leben, das unausgesetzt von Chaos und Zerstreuung bedroht war. Das war für ihn nicht an einen Orden oder ein Kloster, nicht an Weltabgewandtheit gebunden: Jeder Mann konnte, ja musste, egal was sein Beruf oder seine Funktion war, in seinem Feld ein Mönch sein, der auf seine Aufgabe konzentrierte Knecht eines höheren Willens.

Er liebte es, den gefolterten Mann am Kreuz zu betrachten und an den Tod zu denken. Das war für ihn jedes Mal eine Reinigung der Gefühle, Bündelung des Denkens und Stärkung seiner Energie.

Das war Mateusz Oswiecki. Sein Taufname, der auch in seinem Pass stand, war allerdings Ryszard. Zu Mateusz ist Oswiecki erst als Schüler im Seminar der Lubranski-Akademie in Poznań geworden, wo jeder »erleuchtete Zögling« einen von elf Apostel-Namen als Beinamen erhielt. Er war wiedergetauft und gesalbt worden zu »Matthäus, der Zöllner«. Obwohl er aus dem Seminar ausschied, behielt er den Namen bei, als seinen Nom de guerre. Die Grenzen, an denen er seinen Pass zeigen musste, passierte er als Ryszard. Geheimdienstlich war er, auf Grund der Aussagen einiger ehemaliger Kontaktpersonen, als »Matek« bekannt, die Koseform von Mateusz. So ließ er sich von Mitstreitern nennen. Als Mateusz erfüllte er seine Mission, als Matek wurde er gesucht, als Ryszard schlüpfte er durch die Maschen.

Oswiecki betete nicht. Er formulierte nicht still Sätze, die mit »Herr« begannen und immer nur Wünsche waren, »Gib mir die Kraft –«, dies oder jenes zu tun, »Segne –« dies oder jenes … Man hatte sich nichts zu wünschen von einem absoluten Geist, der schwieg. Er betrachtete den ans Kreuz genagelten Mann. Die Erfahrung, die dieser Mensch beispielhaft für die Menschheit gemacht und am Ende auch ausgesprochen hatte, war die des völligen Verlassen-Seins im Moment der Konfrontation mit dem Absoluten: wenn die Hülle aufgeritzt, aufgeschlagen, aufgeschnitten, durchstochen und aufgerissen wird, wenn die Schmerzensschreie des Lebens in ein Wimmern und endlich in das Schweigen übergehen. Nur im Schweigen ist das Leben dem allmächtigen Geist nahe, der in einer unfassbaren Laune das Gegenteil seines Seins aus sich selbst entlassen hat: die Zeit. Der Mensch kann vom Zeitpunkt seiner Geburt zurück und zurück und weiter zurück denken, ewig, ewig zurück, er wird zu keinem Anfang kommen und mit seinem läppischen Begriff von Zeit nur eines begreifen: Er ist, bevor er war, ewig nicht gewesen. Und er kann vorausdenken, vom Moment seines Todes an in alle Zukunft, er wird zu keinem Ende kommen, nur zu dieser Einsicht: Er wird ewig nicht mehr sein. Und das Zwischenspiel zwischen Ewigkeit und Ewigkeit ist die Zeit – das Lärmen, das Stimmengewirr, das Maschinengestampfe, das Dröhnen von Motoren, das Knallen und Krachen der Waffen, das Schmerzensgeschrei und die verzweifelten Lustschreie, die Choräle der wütenden und der freudig betrogenen Massen, das Donnergrollen und Angstkeuchen im mikroskopischen Terrarium der Erde.

Mateusz Oswiecki betrachtete den gefolterten Mann.

Er hatte die Hände nicht gefaltet. Er drückte mit verschränkten Händen die Fingernägel in die Handrücken, bis die Knöchel krachten und...

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