Verurteilen - Der strafende Staat und die Soziologie

Verurteilen - Der strafende Staat und die Soziologie

von: Geoffroy de Lagasnerie

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518754122

Sprache: Deutsch

250 Seiten, Download: 2368 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Verurteilen - Der strafende Staat und die Soziologie



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Rechtssubjekte
Elemente einer Repressionstheorie der Macht


Wenn man sich das Strafrechtssystem, die Tätigkeit des Verurteilens, die Begriffe und Verfahren der Justiz zum Gegenstand macht, stößt man auf allgemeinere Probleme. Die Justiz versinnbildlicht und gewährleistet die Effektivität der Beschränkungen, die vom Staat auferlegt werden. Sie betreibt die Institution des Rechts und die Beziehungen zwischen den Rechtssubjekten. Die Bühne des Gerichts, auf der ein Individuum vor den Richtern erscheint, ist ein Vergrößerungsspiegel der Tatsache, daß wir der Ordnung des Gesetzes unterliegen und seiner Autorität unterworfen sind. Die Frage nach dem strafenden Staat beschränkt sich also nicht auf das spezifische Problem des Umgangs mit Gesetzesübertretungen. Vielmehr geht es um unsere Verfaßtheit als Rechtssubjekte und politische Subjekte. Wie sollen wir uns unsere Situation als Wesen vorstellen, die dem Gesetz unterworfen sind? Was bedeutet es, unter einem Rechtsstaat zu leben? Wie sollen wir die Wirkungen der Macht auffassen, die von der rechtlich-politischen Ordnung ausgeübt werden, und was ist ihre Funktionsweise?

Seit den Analysen, die von Michel Foucault in Der Wille zum Wissen durchgeführt wurden, begreift ein bedeutender Teil der Literatur zur kritischen Theorie die Macht als eine performative und konstituierende Kraft, eine »positive« Instanz, die Weisen des In-der-Welt-Seins hervorbringt. Viele zeitgenössische Untersuchungen gehen von der Idee aus, der zufolge die begriffliche Fassung der Macht die Rekonstruktion der »Subjektivitäten« und »Identitäten« voraussetzt, die von ihr geformt werden: der Homo oeconomicus, das »neoliberale Subjekt«, der Homo criminalis, die Geschlechts- oder Genderidentitäten.

Angewandt auf die Frage nach dem Staat, würden diese Weisen der Problemstellung zu dem Gedanken führen, daß sich die Rechtsordnung nicht auf eine Gesamtheit von Zwängen reduziert, die jedem von uns äußerlich sind. Vielmehr würde sie geradezu den Kern der Art und Weise betreffen, wie wir uns als Subjekte konstituieren, der Art und Weise, wie wir uns zu uns selbst verhalten und wie wir unser Verhalten steuern: Die Reflexivität, das Verhältnis von jedermann zu sich selbst seien immer schon durch Rechtsnormen vermittelt. Das System der Gerichtsbarkeit stelle keine Hindernisse oder Einschränkungen für ein Subjekt dar, das sich zuvor schon gebildet hat. Die Genese des Subjekts vollziehe sich innerhalb des Rechtssystems und vermittels seiner Wirkung. Die Rationalität des Rechts selbst bewerkstellige die Entstehung des Subjekts.

In der Tat ist diese Art und Weise, die Funktion des Gesetzes aufzufassen, regelmäßig in der Philosophie am Werk gewesen, ob sie sich nun als kritisch versteht oder nicht — beispielsweise bei Hegel, aber auch bei Walter Benjamin. Die Rechtsordnung wird dann als Schöpfer der Gestalt des verantwortlichen Individuums bestimmt. Die begriffliche Fassung unseres Verhältnisses zum Gesetz setze das Unternehmen einer Genealogie des verantwortlichen Subjekts voraus, die Analyse dieser Selbstsubjektivierung, der Beziehungen zur Welt, die sie begründet, aber auch der Typen von Erfahrung, deren wir dadurch beraubt oder enteignet werden.

Diese Auffassungen sind gewiß sehr stark und sehr interessant. Ich selbst habe diese Denkweise in meinem Buch Die Kunst der Revolte verwendet, indem ich die Vorstellung verteidigt habe, der zufolge Snowden, Assange und Manning disruptive Lebensstile erfinden, die die Formen der Subjektivierung, denen wir unterliegen, insofern wir in einem Rechtsstaat leben, in Frage stellen.[4] Ich schlug vor, diese drei beispielhaften Persönlichkeiten als »Gegensubjekte« zu betrachten, die sich gegen die fest verankerten Modalitäten der Politik auflehnen und die durch Vergleich den Nachweis gestatten, wie wir in den liberalen Demokratien als »Bürger« konstituiert werden.

Ich verstehe daher die Bedeutung einer solchen Sichtweise, und ich sage nicht, daß sie unbedingt falsch oder abwegig ist. Das hängt wohl von den Untersuchungsgegenständen, Kontexten, Einsätzen oder davon ab, was man meint und was man besonders hervorheben will. Aber hier schlage ich vor, die Frage nach der Macht und der Gewalt anders zu problematisieren. Ich möchte eine gewisse Distanz zur performativen Theorie des Gesetzes wahren. Ich möchte sagen, warum es mir für das Verständnis der Funktionsweise des Strafrechtsapparats und des Systems der Gerichtsbarkeit zutreffender erscheint, unser Verhältnis zu den Kräften, denen wir unterliegen, im Modus der Repression zu denken. Im Raum der Theorie neigen wir zu sehr dazu, der Idee der Performativität anzuhängen und die Macht als konstituierende Kraft aufzufassen. Nun hindert diese Auffassung aber daran, die Funktionsweise der Rechtsordnung zu verstehen und vor allem die Eigenart ihrer Gewaltsamkeit.

Es ist zwar nicht falsch zu sagen, daß die Gesetze in dem Sinne performative Aussagen sind, daß ihre Formulierung und schließlich ihre Anwendung konkrete Wirkungen auf unser Leben hervorbringen. Aber das Recht schreibt nicht nur Normen vor, die dazu bestimmt sind, das Verhalten auszurichten und zu steuern: Es ist an eine bestimmte Gestalt des Subjekts und an eine bestimmte Theorie des Handelns gekoppelt. Es erfaßt, reinterpretiert und charakterisiert die Wirklichkeit im Ausgang von Kategorien, die ihm eigentümlich sind. Die Gerichtsprozesse stellen Augenblicke dar, in denen man sieht, wie der Bestrafungsapparat des Staats Erzählungen darüber konstruiert, was in der Welt geschieht, indem er ein ganz spezifisches Lektüreraster in Anschlag bringt: Die Begriffe der Verantwortung, des Urhebers, der Absicht, der öffentlichen Ordnung, der Schäden, der Ursache, des Opfers, der Mitschuld bilden die Instrumente, durch die das Recht sich unserer Handlungen und unserer Existenzen bemächtigt und sie interpretiert — zu Lasten anderer möglicher Auffassungsweisen. Die Justiz beurteilt eine bestimmte Vorstellung dessen, was wir getan haben, und der Gründe, aus denen wir es getan haben. Nun wird dieser narrative Schauplatz aber im Ausgang von einer bestimmten Logik (einer bestimmten Auffassung des Gewissens, des Willens, der zwischenmenschlichen Handlungen, der Gesellschaft) entwickelt, die mit der Wirklichkeit, wie sie die Gesellschaftsanalyse uns zu rekonstruieren ermöglicht, in Konflikt gerät. Ein Teil der Gewaltsamkeit des Systems der Gerichtsbarkeit wurzelt in der Tatsache, daß der Strafrechtsstaat auf uns Anwendung findet, indem er uns zwingt, einem Bild des Subjekts zu entsprechen, das eine Diskrepanz mit unserer wirklichen Existenzweise aufweist. Es ist diese Diskrepanz, die die Gewaltsamkeit ausmacht, die die Gewaltsamkeit der Rechtsordnung beinhaltet. Genauer, die Gewaltsamkeit besteht in dieser Diskrepanz. Ein Rechtssubjekt zu sein bedeutet, der staatlichen Konstruktion der Wirklichkeit unterworfen und mit ihr konfrontiert zu sein und mit ihr zurechtkommen zu müssen. Eine gewisse Erfahrung der Enteignung und der Verletzlichkeit durchdringt das Rechtssubjekt.

Die interessante Frage ist nicht die nach unserer Konstitution als Rechtssubjekte. Vielmehr ist es die Tatsache, daß wir in Wirklichkeit gerade keine Rechtssubjekte sind. Eine Kritik des Staats muß nicht von den Subjektivitäten ausgehen, die der Staat angeblich hervorbringt, sondern von der Diskrepanz zwischen dem, was der Staat aus uns macht oder über uns sagt, und dem, was wir sind, von dem Unterschied zwischen den Rechtslogiken und den Logiken, die in der gesellschaftlichen Welt wirklich am Werk sind.

Übrigens läßt sich unter der Bedingung, daß man sich dieser Spannung bewußt ist, ein hervorstechender Bestandteil von Gerichtsverhandlungen verstehen: das Schweigen der Angeklagten oder die Tatsache, daß sie sehr wenig sprechen (einschließlich dessen, wenn man sie auffordert, sich über die Dinge zu äußern, die mit dem, was man ihnen vorwirft, nichts zu tun haben). Die Situation ist natürlich einschüchternd. Und zweifellos spielt auch die Angst vor den möglichen Folgen jeder Äußerung eine Rolle. Aber ich glaube, daß da noch etwas mehr ist. Mir scheint, daß sich diese diskursive Spärlichkeit durch die Tatsache erklären läßt, daß die Fragen, die vom Vorsitzenden, vom Staatsanwalt oder auch von den Rechtsanwälten mit Bezug auf ihr Leben, ihre Entwicklung, ihren Charakter gestellt werden, gegenüber...

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