Achterbahn ins Leben - Der Brustkrebs, das Leben und ich

Achterbahn ins Leben - Der Brustkrebs, das Leben und ich

von: Claudia Lauer

Books on Demand, 2017

ISBN: 9783744847377

Sprache: Deutsch

260 Seiten, Download: 2849 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Achterbahn ins Leben - Der Brustkrebs, das Leben und ich



Kapitel 1


Liebe, danach hungerte ich, seit ich denken kann. Meinen Nachnamen Lauer habe ich von meinem leiblichen Vater Rainer Lauer. Er hat meine Mutter verlassen, als ich zwei Jahre alt war. Erst mit 14 habe ich ihn kennengelernt, bis dahin wurde mir der Kontakt nicht ermöglicht. Rainer war die große Liebe meiner Mutter Iris, das hat sie mir oft erzählt. Mit 17 war sie zum ersten Mal schwanger von ihm, doch er wollte das Kind nicht und sie ließ es abtreiben. Rainer wollte nie Kinder haben. Auch nicht, als meine Mutter mit 21 zum zweiten Mal schwanger wurde – diesmal mit mir. Mama hat selbst vier Geschwister, ihre Schwester Steffi hatte das Downsyndrom. Ihre Eltern haben sie damals dazu ermutigt, mich zu bekommen. Irgendwann haben sie erfahren, dass sie schon einmal abgetrieben hatte, und sagten zu ihr: »Wenn du das nächste Mal schwanger wirst, dann bekommst du das Kind. Wir haben fünf groß bekommen, da schaffen wir auch noch eines!« So hat Mama sich für mich entschieden. Ich wurde am 4. Februar 1974 geboren. Rainer wollte das nicht. Erst ging er meiner Mutter fremd, und als ich zwei Jahre alt war, trennte Mama sich von ihm. Für sie begann damals eine schwere Zeit. Sie zog mit mir in eine kleine Wohnung in Recklinghausen und bekam eine kleine Unterstützung als alleinerziehende Mutter. Und obwohl Rainer für mich zahlen musste und Iris selbst arbeiten ging, war oft nicht genug Geld da, um für uns beide etwas zu Essen kaufen zu können. Das ist etwas, was sie ihren Eltern nie erzählt hat, nur mir. Als ich drei Jahre alt war, kam ich in den Kindergarten und Mama ging arbeiten, um uns beide über Wasser zu halten. Meine Kindergartenzeit verbrachte ich von montags bis freitags bei Oma Anna und Opa Ernst in Recklinghausen Süd. Ich kann mich nicht gut an diese Zeit erinnern, doch soviel ist klar: Ich liebte Oma und Opa über alles. Sie waren immer für mich da und ich fühlte mich geborgen bei ihnen. Die Anna in ihrem Namen hat meine Tochter Anna Lena in Erinnerung an meine Oma. Meine Mama war ständig im Stress. Ich habe noch vor Augen, wie ich ihr einmal bei ihrem Besuch in die Arme gerannt bin: »Hallo Mama«, rief ich freudestrahlend. Und sie schob mich an die Seite und sagte: »Ich habe jetzt keine Zeit.« Ich fühlte mich zurückgewiesen. Heute, selbst Mama, kann ich verstehen, wie stark meine Mutter eingespannt war und wie sehr sie für uns beide gekämpft hat.

Irgendwann hat Iris Siegmund kennengelernt. Vielleicht hat er es gemacht wie viele Männer und wollte über das Kind an die Mutter heran. Vielleicht mochte er mich auch wirklich. Jedenfalls, um sie zu erobern, hat er viel mit mir gespielt und sich um mich gekümmert. Er nahm mich mit auf Ausflüge und ging mit mir spazieren. Mama hat es mir mehr als einmal erzählt: »Ich habe den Siegmund geheiratet, weil er gut zu dir war und du dann versorgt warst.« Nachdem sie Siegmund geheiratet hatte, sind wir zu Siegmund gezogen. Er lebte mit seinen Eltern in einem alten Haus am Westring, heute ist es über 100 Jahre alt. Ich glaube, Mama hat Siegmund nie so geliebt wie Rainer, aber so war sie erst einmal aus ihrer Misere heraus und hatte gleich noch eine Betreuung für mich. Mama hatte damals als Bezirksleiterin für Avon gearbeitet, das war eine angesagte Kosmetikfirma. Später wechselte sie zum Otto-Versand und kam immer erst gegen 18 Uhr nach Hause. Siegmund hatte schon um halb vier Uhr Feierabend und konnte dann für mich da sein. Ich war das, was man in den 70ern und 80ern ein Schlüsselkind nannte. Das sagte man zu Kindern, bei denen die Mutter arbeiten ging und die deshalb den Haustürschlüssel um den Hals hängen hatten. So wurde ich zwar schon sehr früh selbstständig, hatte aber immer das Gefühl, nur die zweite Geige zu spielen. In meinem Kopf setzte sich so etwas fest wie: »Sei bloß immer artig, mach der Mama keine Umstände, sonst hat sie dich nicht mehr lieb.« So achtete ich zum Beispiel immer sehr darauf, dass ich mich nur ja nicht schmutzig machte. Wenn beim Spielen doch mal Flecken auf die Sachen kamen, schimpfte Mama: »Jetzt muss ich schon wieder Wäsche waschen. Nur deinetwegen habe ich so viel Wäsche.«

Sicher, Mama und Siegmund hatten ihre eigene Geschichte, die ich nicht, schon gar nicht als Kind, sehen konnte. Doch die für die Siebziger typischen Begriffe »Love« und »Peace« würden mein Elternhaus nicht unbedingt charakterisieren. Ich kann mich nicht erinnern, dass Mama und mein Stiefvater liebevoll und zärtlich miteinander umgegangen sind. Vielleicht gehören sie noch zu der Generation, die sich nicht umarmt oder küsst, wenn andere dabei sind. Ich habe aber oft mitbekommen, wie sie sich angeschrien und gestritten haben.

Sonderlich viel Geborgenheit blieb da für mich nicht übrig. In dem Haus, das Siegmund von seinen Eltern, Stiefmutter und Vater, geerbt hatte, gab es ein ganz kleines Zimmer für mich. Es war mehr eine Art Durchgangszimmer, das von der Küche im Erdgeschoss in das Schlafzimmer und Wohnzimmer meiner Eltern im ersten Stock führte. Wenn meine Eltern also in ihr Schlafzimmer oder ins Wohnzimmer wollten, mussten sie erst vier Stufen von der Küche hoch in mein Zimmer und dann weiter die Treppe hoch laufen. Mit anderen Worten: Ich hatte nie meine Ruhe, konnte nie eine Tür zu machen, jederzeit konnte jemand durch mein Zimmer kommen. Einen Raum allein für mich kannte ich nicht.

Zuneigungsbekundungen durch meine Eltern waren rar gesät. Selten, dass mich mal jemand in den Arm nahm oder liebevoll über den Kopf gestreichelt hatte. Ich durfte nie zu meinen Eltern ins Bett kriechen, wenn ich mich einsam fühlte – nicht einmal, wenn ich ängstlich war, weil draußen ein Gewitter tobte. Dann hieß es: »Nee, das ist zu eng mit dir hier im Bett, dann können wir nicht schlafen.« An den Wochenenden war ich früher wach als meine Eltern und dann musste ich leise sein, mich ruhig beschäftigen und Mama und Papa schlafen lassen. Ich sage Mama und Papa, denn ich habe Siegmund von Anfang an als meinen Vater gesehen. Meinen leiblichen Vater kannte ich ja nicht. Es war nicht so, dass sie mir den Kontakt zu Rainer verboten hatten. Ich glaube, sie dachten, es sei nicht gut für mich, hin- und hergerissen zu werden. Und möglicherweise war Siegmund auch eifersüchtig, wenn ich Kontakt zu meinem leiblichen Vater hatte und auch meine Mutter Rainer folglich auch wieder sehen würde. Sie selbst hat mir erzählt, dass sie ihrerseits eifersüchtig war, wenn Siegmund zu seiner Ex-Frau und seiner leiblichen Tochter, sie hieß Bettina, fuhr. Sie fragte ihn dann ständig, wie lange er da bleiben würde und wann er wiederkäme. Als Kleinkind durfte ich zumindest Oma und Opa väterlicherseits sehen, doch auch das war nicht oft und es wurde nicht sonderlich von Mama und Siegmund unterstützt. Rainer war bei diesen Besuchen nie dabei. Mir wurde später gesagt, dass Siegmund wollte, dass ich seinen Namen annahm. Doch da weigerte sich Rainer. In diesem Fall sollten sie mich adoptieren und er würde dann nicht mehr für mich zahlen, hatte er argumentiert. So hieß ich weiterhin Lauer, Mama und Siegmund hießen Wagner.

Freunde durfte ich selten mit nach Hause bringen, da fühlten sich meine Eltern immer gestört. Sie hatten einen großen Garten, in dem ich prima mit meinen Freunden hätte spielen können. Doch das erlaubten meine Eltern nur selten. Wenn die Kinder aus der Nachbarschaft fragten: »Komm, lass uns doch bei euch im Garten spielen«, dann musste ich mir meist etwas einfallen lassen, warum es gerade nicht ging. Ich sagte dann solche Sachen wie: »Lieber nicht, mein Vater mäht gleich den Rasen.« Die Wahrheit mochte ich nicht sagen. Mir war klar, dass meine Freunde, wären sie erst einmal bei uns im Garten gewesen, bestimmt auch bei uns aufs Klo gemusst hätten. Das wäre die reinste Katastrophe für meine Mutter gewesen. Die Kinder wären durch die ganze Wohnung gerannt und hätten alles dreckig gemacht. Bei den Eltern meiner Schulfreunde schien es solche Probleme gar nicht zu geben. Es war vollkommen okay, wenn ich nach der Schule mit zu denen gegangen bin. Die Mamas waren zu Hause, ich durfte wie selbstverständlich dort mitessen oder mithelfen beim Kochen.

Essen, das war in meiner Familie ein besonderes Thema. Als ich von zu Hause ausgezogen war, gab es oft Situationen, in denen es mir so vorkam, als ob mein Stiefvater mir mein Essen nicht gönnte. Ich dachte zuerst, das könne nicht sein, aber ich glaube wirklich, es war wie eine Art Futterneid. Siegmund hat immer genau beobachtet, was ich gegessen habe. Meine Mutter musste mir heimlich Essen mitgeben, Siegmund durfte das nicht sehen, sonst hätte sie Ärger bekommen. Wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch war und mitaß, musste ich immer mit einem stichelnden Kommentar von Siegmund rechnen. Hier ein höhnisches: »Na, hast du wieder nicht gekocht zu Hause?« oder dort ein »Hattest du keine Lust, dir selber etwas zu machen?« sorgten dafür, dass mir die Bissen im Halse stecken blieben. Es kann gut sein, dass sich Siegmund nichts Böses dabei dachte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er im Heim bei Nonnen groß geworden ist. Seine Mutter ist früh gestorben, sein Vater war Berufsschiffer und konnte...

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