Aus Neugier und Leidenschaft - Gesammelte Essays

Aus Neugier und Leidenschaft - Gesammelte Essays

von: Margaret Atwood

Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783827079442

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 1058 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Aus Neugier und Leidenschaft - Gesammelte Essays



Allgemeines Vorwort


Aus Neugier und Leidenschaft ist ein Mischmasch aus Gelegenheitswerken, also Werken, die für bestimmte Gelegenheiten geschrieben wurden. Manchmal waren diese Gelegenheiten Bücher von anderen, sodass Artikel oder Rezensionen entstanden; manchmal waren sie politischer Natur, dann entstanden journalistische Arbeiten unterschiedlicher Art; manchmal, und mit der Zeit immer häufiger, waren es Tode, und die Bitte um einen Nachruf ereilte mich gern kurzfristig und an seltsamen Orten (den Text zu Carol Shields schrieb ich zum Beispiel in einem fahrenden Zug).

Im Rückblick über die Jahrzehnte habe ich wohl um die zwanzig solcher Artikel pro Jahr geschrieben. Dabei erspare ich dem Leser die politischen Pamphlete zu den Bürgermeisterwahlen in Toronto genauso wie die flammenden Umweltschutztraktate, jedenfalls die meisten, und genauso die Parodien à la Gilbert and Sullivan anlässlich von Ruhestandsfeiern und zudem die verhunzten Popsongs, die ich mit allen anderen verfügbaren Witzbolden für Organisationen wie den PEN vortrug. Sich für einen guten Zweck lächerlich zu machen hat in Kanada lange Tradition, und hinter dieser Tradition stehe ich felsenfest.

 

Begonnen habe ich mit dem Schreiben von Gelegenheitswerken in den 1950er-Jahren, mit sechzehn: Ich war offiziell dazu abgestellt, die Treffen des Schulbeirats an meiner Schule zu dokumentieren, und meine Berichte über diese mitunter mühsamen Zusammenkünfte erschienen im hektografierten Newsletter an die Eltern, der über Themen wie die schickliche Rocklänge für Schülerinnen Auskunft gab. Schon damals hatte ich beschlossen, passionierte Schriftstellerin zu werden – so richtig passioniert, also mit den entsprechenden Lungenkrankheiten, unglücklichen Liebesgeschichten, mit Alkoholsucht und einem höchstwahrscheinlich frühen Tod –, aber mir war auch klar, dass ich, um das schäbige Kämmerchen und den Absinth finanzieren zu können, einen Brotjob brauchte, und das war mein erster Ausflug in die schmachvolle Welt der Auftragsschreiberei. Und? Habe ich dabei etwas gelernt? Eigentlich hätte mir klar werden können, dass es für jede Geschichte nicht nur eine Erzählerin gibt, sondern auch eine Zuhörerin und dass so mancher Witz nicht zu jeder Gelegenheit passt, aber speziell diese Lektion begriff ich erst relativ spät.

An der Universität schrieb ich dann Rezensionen und Artikel für unser Literaturmagazin – zum Teil unter fremdem Namen, da wir damals gern so taten, als interessierten sich mehr Menschen für die Kunst, als tatsächlich der Fall war. Wie so viele junge Leute war ich intolerant und anspruchsvoll, was ich allerdings in den Rezensionen nicht allzu sehr heraushängen ließ; die sind eher freundlich-herablassend und strotzen vor langen Wörtern und Nebensätzen. Das mit den Rezensionen behielt ich jedenfalls auch nach meinem ersten Abschluss bei, auch während meines Graduiertenstudiums in Harvard in den Sechzigerjahren und auch noch, als ich mich mit diversen schlecht bezahlten Jobs finanzierte und begann, in kleinen Zeitschriften Prosa und Gedichte zu veröffentlichen.

 

Diese Sammlung fängt nicht mit dem Anfang an. Die Meisterwerke auf Matrize erspare ich dem Leser genauso wie meine vollmundigen Äußerungen als Undergraduate. Wir beginnen 1970, als ich bereits zwei Gedichtbände und einen Roman veröffentlicht hatte und auf dem Buchrücken als »preisgekrönte Autorin« beschrieben werden konnte. Die Frauenbewegung in ihrer Ausprägung des späten zwanzigsten Jahrhunderts war 1968 losgetreten worden und hatte mittlerweile volle Fahrt aufgenommen, zumindest in Nordamerika, und jede Frau, die je den Griffel in die Hand genommen hatte, wurde in einem neuen Licht gesehen, dem rotäugigen Schein flammenden Feminismus. Anhänger favorisierten sie, Gegner attackierten sie – neutralen Grund und Boden gab es nicht. In diesem Strudel wurde ich mitgerissen, und dabei taten sich mir viele faszinierende Welten auf.

So ging es eigentlich bis heute weiter. Irgendwann erschien ich dann auch in größeren Presseorganen wie der New York Times, der Washington Post, der Times, der New York Review of Books und dem Guardian, aber das hat seine Zeit gedauert.

Wenn ich mir diese Ansammlung von Seiten so ansehe, fällt mir auf, dass meine Interessen die Jahrzehnte über ziemlich konstant geblieben sind, auch wenn mein Horizont sich hoffentlich erweitert hat. Was mich schon früh beschäftigt hat, die Umweltproblematik zum Beispiel, galt damals als Außenseiterposition einer Verrückten, ist inzwischen aber in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Ich schreibe nicht gern im Dienst einer Sache – es macht keinen Spaß, weil die entsprechenden Themen keinen Spaß machen –, fühle mich jedoch trotzdem bemüßigt, hin und wieder aufrüttelnde Artikel zu verfassen. Die Folgen sind natürlich nicht immer angenehm, denn was dem einen gesunder Menschenverstand ist, ist dem anderen ärgerliche Polemik.

Manche Beiträge in diesem Buch waren ursprünglich Reden oder Vorlesungen. Ich habe meine erste Rede mit zehn gehalten, und es war kein guter Start. Lampenfieber habe ich nach wie vor, und zwar schon im Vorfeld, beim Schreiben. Mich verfolgt dabei eine Metapher von Edith Wharton, aus ihrer Erzählung Der Pelikan, in der der Vortrag einer Dame mit einem Zaubertrick verglichen wird, bei dem Berge von leerem weißen Papier aus dem Mund des Zauberers quellen. Und Rezensionen zu schreiben, finde ich immer problematisch: Es erinnert so an Hausaufgaben, und ich bin dabei gezwungen, eine Meinung zu haben, statt nur, frei nach Keats, die Fähigkeit zu akzeptieren, dass nicht jeder komplexe Sachverhalt erschöpfend erklärt werden kann. Was der Verdauung so viel besser täte. Ich schreibe trotzdem welche, denn wer rezensiert wird, soll auch seinerseits rezensieren, sonst hat das Prinzip der Gegenseitigkeit versagt.

Es gibt aber noch einen Grund: Die Werke anderer zu rezensieren zwingt einen, die eigenen ethischen und ästhetischen Vorlieben unter die Lupe zu nehmen. Was heißt bei einem Buch denn »gut«? Welche Eigenschaften finden wir »schlecht« oder »gut«, und warum? Gibt es nicht eigentlich zwei Arten von Rezensionen mit zwei unterschiedlichen Vorläufern? Da ist einerseits die journalistische Rezension, die auf den Klatsch am Dorfbrunnen zurückgeht (sie fand ich toll, ihn fand ich grässlich, und habt ihr die Schuhe gesehen!), und da ist andererseits die »akademische« Rezension, die auf die Bibelexegese und andere Traditionen der minutiösen Erforschung sakraler Texte zurückgeht. Hinter dieser Art von Analyse steht unausgesprochen der Glaube, dass manche Texte heiliger sind als andere und dass man mithilfe einer Lupe oder Zitronensaft verborgenen Sinn aufdecken kann. Geschrieben habe ich beides.

Ich bespreche keine Bücher, die mir nicht gefallen, obwohl das die Ms. Hyde in mir natürlich spaßig fände und die eher maliziös gesinnten Leser unterhaltsam. Aber entweder ist ein Buch wirklich schlecht, dann sollte es überhaupt nicht besprochen werden, oder es ist gut, aber einfach nicht mein Fall, und dann sollte jemand anderes es besprechen. Es ist ein großer Luxus, keine Vollzeitkritikerin zu sein: Wenn mich ein Buch nicht anspricht, kann ich es zuklappen, ohne es öffentlich verreißen zu müssen. Im Lauf der Zeit habe ich mich übrigens immer mehr für Geschichte einschließlich Militärgeschichte interessiert; genauso für Biografien. Und im Bereich Belletristik trauen sich auch meine weniger hochgestochenen Vorlieben (Krimis, Science-Fiction) inzwischen aus ihren Löchern.

Apropos Vorlieben, da kann ich gleich noch ein Muster erwähnen, das auf diesen Seiten wiederkehrt. Laut einer Leserin dieses Manuskripts beginne ich die Diskussion eines Buches, eines Autors bzw. einer Autorin oder einer Auswahl von Büchern gern mit der Bemerkung, dass ich es (oder ihn oder sie) als Jugendliche im Keller gelesen habe oder zufällig im elterlichen Bücherschrank gefunden oder im Cottage oder dass ich es mir in der Bibliothek ausgeliehen habe. Wenn das Metaphern wären, würde ich sie bis auf eine streichen, aber es sind einfach Einblicke in meine Lesegeschichte. Gerechtfertigt finde ich die Erwähnung dessen, wann und wo ich ein Buch zum ersten Mal gelesen habe, weil ich wie so viele Leser die Erfahrung gemacht habe, dass der Eindruck, den ein Buch bei uns hinterlässt, oft mit dem eigenen Alter und den Umständen zu tun hat, unter denen man das Buch gelesen hat, und wenn man ein Buch als junger Mensch geliebt hat, behält es ein Leben lang seinen Glorienschein.

 

Ich habe Aus Neugier und Leidenschaft in drei Teile gegliedert. Teil eins umfasst die Siebziger- und Achtzigerjahre, in denen ich eine Reihe von Gedichtbänden und Romanen geschrieben und veröffentlicht habe, darunter den Report der Magd, jenes meiner Bücher, das am ehesten auf Collegelektürelisten auftaucht. Damals stieg ich so allmählich von »weltberühmt in Kanada« (um mit Mordechai Richler zu sprechen) zu weltberühmt auf, mehr oder weniger jedenfalls, so weltberühmt Autoren eben werden. (Die Rolling Stones sind einfach ein anderes Kaliber.) Er endet 1989, mit dem Jahr, als die Berliner Mauer fiel und alle Figuren auf dem weltpolitischen Schachbrett kräftig durchgerüttelt wurden. Teil zwei versammelt Beiträge aus den Neunzigerjahren – einer Art Flautephase, in der manche etwas voreilig schon das Ende der Geschichte ausriefen – und kulminiert im Jahr 1999, als das Jahrtausend zu Ende geht. Teil drei reicht vom Jahr 2000, dem Millenniumsjahr, in dem...

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