Das sowjetische Jahrhundert - Archäologie einer untergegangenen Welt

Das sowjetische Jahrhundert - Archäologie einer untergegangenen Welt

von: Karl Schlögel

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406715129

Sprache: Deutsch

915 Seiten, Download: 12121 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Das sowjetische Jahrhundert - Archäologie einer untergegangenen Welt



Einleitung:
Archäologie einer untergegangenen Welt


Was hier als «Archäologie einer untergegangenen Welt» vorgestellt wird, ist nicht eine neue Geschichte der Sowjetunion, sondern der Versuch, sich die Geschichte dieses Landes neu zu vergegenwärtigen, gewiss auch anders als in vielen der vorliegenden eindrucksvollen Gesamtdarstellungen. Die Sowjetunion war nicht nur ein politisches System mit datierbarem Anfang und Ende, sondern eine Lebensform, die ihre eigene Bildungsgeschichte, ihre Reife, ihre Verfalls- und Auflösungszeit hatte. Sie hat die Bürger des Landes für mehrere Generationen mit ihren Praktiken, Werten und Routinen geprägt.[1] Ich bezeichne diese Lebenswelt von langer Dauer als «sowjetische Zivilisation», unabhängig davon, was ihr Anspruch, eine der alten Welt, dem Kapitalismus oder dem Westen gegenüber überlegene zu sein, gewesen sein mag. Lebenswelten können älter und stabiler sein als politische Ordnungen, und sie können fortleben, wenn das Ende eines Systems schon proklamiert und protokolliert ist.[2] Sie hinterlassen ihre Spuren noch weit über ihr Ende hinaus, wie jeder weiß, der sich in der Staatenwelt bewegt hat, die aus großen Imperien hervorgegangen ist: Sprachen, der Stil von Verwaltungs- und Schulgebäuden, Infrastruktur und Eisenbahnstrecken, aus alter Zeit übernommene Umgangsformen, Bildungswege und Biographien, Hass auf oder sentimentale Anhänglichkeit an die Herren von einst – überall lassen sich diese Erscheinungen beobachten, ob im ehemaligen Bereich des British Empire, des Osmanischen Reiches oder der Donaumonarchie, ja sogar des Deutschen Reiches. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Sowjetimperium. Seine Spuren werden noch sichtbar sein – physisch-reell und auf den mentalen Karten der Bewohner der nun postimperialen, postkolonialen Welt –, wenn das Staatswesen UdSSR schon vergessen ist.

Hier setzt eine Archäologie an. Sie nimmt das Territorium des einstigen Imperiums als Feld, in dem sie die Spuren sichtet und sichert, die Sonden ansetzt und Ausgrabungen veranstaltet – buchstäblich und im übertragenen Sinne. Archäologen graben nicht aufs Geratewohl, sondern sie haben Anhaltspunkte, an denen sie fündig werden können. Sie haben ihre Navigationsgeräte und Karten und haben vor allem ganze Bibliotheken im Kopf. Worauf sie es abgesehen haben, sind die Hinterlassenschaften vorangegangener Generationen. Sie legen Schicht um Schicht frei, bergen die Funde, katalogisieren die Bruchstücke und treffen alle Vorkehrungen für deren Konservierung und spätere Analyse. Der Fund soll ihnen Aufschluss geben über eine Welt, die nicht mehr ist. Die Bruchstücke, die zu lesen und zu dechiffrieren sie gelernt haben, rekonstruieren ein Abbild, den Text einer vergangenen Epoche. Jedes dieser Fragmente hat seine Geschichte, und die Kunst besteht darin, die Fragmente zum Sprechen zu bringen. Aus den Einzelstücken setzt sich das Mosaik zusammen, und aus den Geschichten, die die toten Objekte preisgeben, bündelt sich das, was «die» Geschichte genannt wird. Zuweilen stoßen Archäologen wider Erwarten und unvermutet auf Schichten und Funde, die sie zwingen, mit überlieferten Deutungen, Periodisierungen, Kontexten zu brechen. Das sind dann die Sternstunden der Ausgräber.

Die Objekte freilegen, sie bergen, sie zum Sprechen bringen – das ist der Weg der Archäologie, der hier vorgeschlagen wird. Mit ihr kommt auch ein viel weiter gefasster Begriff des Dokuments, der «Quelle» ins Spiel. Als Quelle für die Vergegenwärtigung einer vergangenen Epoche kommen jetzt nicht nur das schriftliche Dokument, der Bericht, das Zeugnis, der Aktenbestand in Betracht, sondern – im Grunde – alle Objektivationen, Vergegenständlichungen menschlicher Tätigkeiten (wenn man hier einmal von den Ablagerungen der Naturgeschichte absieht). Die Welt wird betrachtet und lesbar durch die Geschichte der Dinge, durch die Analyse von Zeichen und Verkehrsformen, Orten und Routinen; das Ganze erwächst aus dem Detail, und die Hauptfrage bei einem Projekt «Sowjetische Zivilisationsgeschichte» ist dann: wo anfangen, wo aufhören, wenn alles in Betracht kommt: die Großbauten des Kommunismus ebenso wie die Nippes-Porzellanfiguren der 1930er Jahre, die Stimme des Sprechers von Radio Moskau ebenso wie die Parade der Sportler, der Gorki-Park ebenso wie die Lager an der Kolyma, der Bau des Mausoleums ebenso wie die Strände an der Roten Riviera. Diese Aufzählung ist kein Plädoyer für anything goes und kein Spiel auf der Suche nach dem Ungewöhnlich-Exotischen, sondern der Hinweis auf die unendliche Komplexheit einer Gesellschaft, erst recht wenn diese in eine Sequenz aus Krieg, Bürgerkrieg und Revolution hineingezogen wurde und wenn Leben über weite Strecken eine Form von Kampf ums Überleben war. Zivilisationsgeschichte geht aufs Ganze, sie ist nicht eine Geschichte der Politik oder des Alltags, des Terrors oder begeisterter Zustimmung, der Kultur oder der Barbarei, sondern beides und noch viel mehr – oft zur gleichen Zeit und am gleichen Ort.[3] Wenn man die Idee einer histoire totale als wenn schon nicht erreichbares, aber doch als erstrebenswertes Ideal aufrechterhält, und wenn man bereit ist, die damit verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen, dann stellt sich also bei aller «panoramatischen Offenheit» die Frage nach den Kriterien der Auswahl, nach der «Relevanz» – also der Entscheidung, was in einer solchen Studie avisiert und Gegenstand der Analyse werden soll.

Das vorliegende Buch ist nicht eine Kollektion von Essays, die sich über die Jahre angesammelt haben, obwohl einige der Texte zu verschiedenen Zeitpunkten geschrieben worden sind; vielmehr beschreiben die im Inhaltsverzeichnis benannten Kapitel Stationen eines durchgehenden Parcours, für die sich der Verfasser bewusst entschieden hat. Ob diese Auswahl, die nie auf enzyklopädische Vollständigkeit abzielen konnte, plausibel und überzeugend, ob sie konstruiert oder gar gewaltsam ist, muss sich an der Lektüre selbst erweisen. Der Autor hätte gern einige weitere hinzugefügt, wenn es vom Umfang her möglich gewesen wäre: zum Beispiel Artek-Lager und Kindheit; Weltfestspiele der Jugend 1957; Juri Gagarin, der strahlende Held. Kein vorausgeschickter Kommentar kann den einzelnen Kapiteln abnehmen, was sie selbst nur leisten können: etwas zur Evidenz bringen. Es ist der ungeheure Satz, den Walter Benjamin im riesenhaften Torso seines «Passagen-Werks» versteckt hat: «Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.» Ein Satz, der aber schon damals, als aus dem Flaneur des 19. Jahrhunderts der Flüchtling des 20. Jahrhunderts geworden war, kaum noch einzulösen war.[4]

Das Buch umfasst, wie auf einen Blick aus der Gliederung ersichtlich ist, an die sechzig Einzelstudien unterschiedlicher Länge, gruppiert in rund zwanzig Blöcken. Es sind die Stationen, die zurückgelegt werden zwischen dem Eingangskapitel – einem Gang über einen der Moskauer Basare am Ende der Sowjetunion – und einem Nachwort, das auf ein musée imaginaire, ein Museum der Sowjetzivilisation hinausläuft, und zwar an einem denkwürdigen zentralen Ort, dem Herz der Finsternis der sowjetischen Geschichte: der Lubjanka. Eine Linie der Erkundung könnte man mit «Ein Zeitalter wird besichtigt» (Heinrich Mann) beschreiben. Eine andere folgt der Einladung «Im Raume lesen wir die Zeit».[5] Und beides kommt zusammen in dem, was Michail Bachtin den «Chronotopos» genannt hat.[6] Die Kapitel handeln von den Großbauten des Kommunismus, gleichsam Pyramiden des 20. Jahrhunderts, vom Duft des Imperiums, einem sowjetischen Markenparfum, von dem, was die Kälte von 49 Grad minus für Häftlinge an der Kolyma bedeutete, von den «Zehn Tagen, die die Welt erschütterten» und anderen Topoi, bei denen alle Sinne der Weltwahrnehmung ins Spiel kommen. Wenn es keinen Sinn ergibt, diese Topoi an dieser Stelle im Einzelnen in ihrer «Relevanz», ja Notwendigkeit zu begründen, so ist es durchaus von Bedeutung, die Grundlage für die Entscheidung, warum gerade diese ausgewählt wurden, zu benennen. Die Auswahl beruht auf einer Primärerfahrung, der Erfahrung des Autors. Sie leitet sich nicht ab aus einer derzeitigen akademischen Kontroverse oder Veränderung der Richtung in den Sowjetunion- oder Russland-Studien.

Die Felder der Exploration und die Stellen, an denen die Sonden angesetzt werden sollten, waren jemandem, der sich ein Leben lang mit der sowjetischen Welt beschäftigt hatte und noch knapp drei Jahrzehnte des sowjetischen Systems selbst miterlebt hatte, längst klar, und das Problem war eher eines der «Architektur», der Komposition, also der Darstellung, wenn man sich von einer allzu einfachen...

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