Die Hoffnung

Die Hoffnung

von: Mich Vraa

Hoffmann und Campe, 2017

ISBN: 9783455001563

Sprache: Deutsch

420 Seiten, Download: 1065 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Hoffnung



Marias Tagebuch, Montag, 9. Mai 1803


Heute habe ich die Fregatte Hoffnung zum ersten Mal gesehen, seit ich ein kleines Mädchen war. Sie liegt am Asiatisk Plads in Kopenhagen, wo sie ungefähr zehn Monate auf ihre nächste Reise gewartet hat. Und auf mich.

Vater und ich kamen vor vier Tagen mit einer Galeasse aus Svendborg in der Hauptstadt an. Er wohnt in einer Seemannspension in der Bådsmandsstræde und ist sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt. Ich habe ihn seit unserer Ankunft kaum gesehen. Erst heute fand er die Zeit, mich bei Mutter und Tante Inge in Christianshavn abzuholen und mich mit auf die Hoffnung zu nehmen.

Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich es kaum abwarten konnte, bis er mich holte! Die Zeit in Tante Inges Haus war schwierig. Sie ist eine strenge Frau, die ihrer jüngeren Schwester überhaupt nicht ähnlich ist. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass Mutter ihr nicht ähnlich ist, aber ich spüre etwas an meiner Mutter, das mich durchaus an Tante Inges Bitterkeit erinnert. Eine gewisse Verschlossenheit, eine Unfreundlichkeit. Als ob wir uns überhaupt nicht kennen und es möglicherweise nie getan haben. Es tut mir unsagbar weh.

Wenn Tante Inge spricht, und das passiert nicht sehr häufig, redet sie so gut wie immer über Gott. Sie ist die Witwe eines Seemanns und tief gläubig, und doch würde ich mir ein wenig mehr Freude in ihrem Leben wünschen. Und ich fürchte, dass ihr düsteres Gemüt Mutter ansteckt.

Vater hat mich zu Tante Inges vornehmem kleinen Haus am Kanal gebracht und geklopft. Noch bevor die Tür geöffnet wurde, hob er die Hand und zog seinen Hut. Er hielt ihn in den Händen und sah mit einem Mal recht verlegen aus.

Allerdings wurde uns nicht von Tante Inge, sondern von ihrem Hausmädchen geöffnet. Sie lächelte mich an, hatte uns offensichtlich erwartet und trat zur Seite, um uns einzulassen. Ich sah zu Vater auf, der seinen Hut wieder aufsetzte und nickte.

»Geh ruhig hinein, Maria«, sagte er. »Es ist besser, wenn ich jetzt zur Fregatte gehe.«

Ich sah seinem Gesicht an, wie erleichtert er war.

Das Mädchen führte mich in ein Vorzimmer, wo ich meine Reisetasche abstellte. Meinen Mantel hängte ich an einen Bügel, danach ging ich eine Treppe hinauf in die gute Stube in der ersten Etage. Das Licht fiel durch mehrere Fenster, die zum Kanal hinausführten, und im Zimmer saßen zwei Personen an einem kleinen Tisch, auf dem eine Teekanne und zwei Tassen standen. Meine Mutter wandte mir ihr Gesicht zu, obwohl es im Schatten lag, sah ich die tiefen Furchen auf ihrer Stirn. Ihr Haar war grauer geworden, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, doch ihr Gesicht war noch immer fein und schön, mit so großen Augen, dass sie beinahe erstaunt – oder ängstlich – aussah.

»Mutter!« Ich lief zu ihr und streckte die Arme aus. Sie zögerte und griff dann nach meiner Hand. Ihre Hand fühlte sich schwach an, und als ich sie drückte, verzog sie ihr Gesicht und zog die Hand zurück.

»Maria«, sagte sie. »Du kommst so früh.«

Tante Inge räusperte sich, und ich sah zu ihr hinüber. Das magere, blasse Gesicht, die schwarzen Kleider, das nahezu weiße Haar. Sie sah genau so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ein Wort geht mir immer durch den Kopf, wenn ich sie vor mir sehe. Nicht Tante oder Inge. Sondern Witwe.

Sie trug dem Mädchen auf, mir eine Tasse zu bringen. Ich mag keinen Tee.

Ich versuchte, ihnen von der bevorstehenden Schiffsreise zu erzählen, und wie sehr ich mich darauf freue, an Bord der Hoffnung zu gehen. Aber meine Mutter sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich verstand es nicht, und ich verstehe es noch immer nicht.

Ich fragte sie, ob sie sich nicht vorstellen könnte, mich zur Fregatte zu begleiten, wenn wir auslaufen, und sie schaute auf ihre Hände.

»Wann ist es so weit?«, wollte sie wissen.

»In knapp einer Woche, glaube ich.« Plötzlich schien mir das noch sehr lange hin zu sein.

Mutter schüttelte den Kopf. »Das glaube ich kaum«, sagte sie dann. »Aber wir werden sehen. Am liebsten wäre mir, du würdest an Land bleiben. Ich bin absolut nicht der Meinung, dass die Fregatte ein angemessener Aufenthaltsort für eine junge Frau ist.«

Im Laufe der vier Tage, die ich nun schon in Tante Inges Haus wohne, haben wir nicht ein einziges Mal die Fregatte oder Vater oder überhaupt irgendetwas, das mit dem Meer zu tun hat, erwähnt. Niemand von uns hat über etwas anderes als alltägliche Banalitäten gesprochen. Und ich weiß, dass ich allein zum Kai gehen werde, wo die Hoffnung vertäut liegt, wenn wir in ein paar Tagen aufbrechen. Meine Mutter würde lieber im Kanal ertrinken, als dieses Schiff noch einmal sehen zu müssen!

 

Mit der Hoffnung verhält es sich schon ein wenig merkwürdig. Als ich sie heute hier in Dänemarks größter Stadt liegen sah, inmitten all der vornehmen Speicher, von denen jedoch keiner höher ist als der Großmast der Fregatte, dachte ich, es ist doch eigenartig, dass ein Mann, der von einer kleinen Insel südlich von Fünen stammt, es zu solchem Reichtum gebracht hat. Die Hoffnung ist ein sehr teures, unvergleichliches Schiff, bestimmt hat es viele tausend Reichstaler gekostet; wenn Vater es verkaufte, könnte er sicherlich bis ans Ende seiner Tage bequem von dem Erlös leben.

Es ist ein seltsamer Gedanke, aber unsere Familie ist recht wohlhabend. Das wird mir erst jetzt bewusst, hier in dieser hauptstädtischen Pracht. Es gibt Damen und Herren, die aussehen, als wären sie ständig auf dem Weg ins Theater oder zu einer Audienz bei Hof. Zylinder, Jackett und die feinsten Roben für die Frauen. Vater ist immer wie ein Seemann gekleidet, nur sehr selten habe ich ihn ähnlich herausgeputzt gesehen. Dabei ist er sogar dem König begegnet.

Als ich die Hoffnung das letzte Mal sah, war ich ein kleines Mädchen, ungefähr fünf Jahre alt. Vater hatte die Fregatte nach Thurøbund gebracht und sie dort von August bis zum nächsten Frühjahr liegen lassen, um an ihr zu arbeiten. Das Schiff ist zu groß, um dort auf die Werft zu kommen, aber alles, was über der Wasserlinie und unter Deck repariert werden konnte, erledigten die Schiffszimmerleute im Laufe des Winters. Ich bin ein einziges Mal an Bord gewesen, und obwohl ich noch so klein war, erinnere ich mich deutlich daran. Das Gefühl der kräftigen Decksplanken unter den Füßen, die Geräusche der Takelage und der tausend Taue, der besondere Geruch an Bord: das von der Sonne verbrannte und vom Meer gebeizte Holz, Teer, Pech und Leinöl, Tauwerk, Segeltuch und Ölzeug. Und weiter unten der strenge Geruch nach Männern, die während der Atlantiküberquerung in engen Kajüten hausen, Körper, die monatelang kein Süßwasser auf der Haut spüren, Latrinen, Salzheringe und Schiffszwieback so hart wie Holzstücke, Tonnen mit fauligem Süßwasser. Aber auch ein Hauch von Gewürzen aus heißen Ländern, Spanischer Pfeffer, Kardamom und Zimt. Und Fässer aus dunklem Holz, die in der Dunkelheit schwitzen: Sirup, Muskovado-Rohrzucker und starker Rum von den Inseln.

Ich habe das Gefühl, die Hoffnung gut zu kennen, obwohl ich sie tatsächlich kaum kenne. Als würde man jemandem begegnen, dem man bereits einmal begegnet ist, ohne seinen Namen zu kennen. Genauso, wie man weiß, was eine Schlange ist, weil man es in der Schule gelernt hat – die Schlange im Paradies, Schlangen in Afrika –, aber noch nie ein derartiges Reptil gesehen hat. Und doch weiß man, wie es ist, wenn man darauf tritt: dieses Gefühl eines lebendigen Körpers, der sich unter dem nackten Fuß windet, dieses plötzliche Zucken, wenn sie ihre Muskeln anspannt und zubeißt.

Aber die Worte gehen mit mir durch. Als ich die Hoffnung heute wiedersah – sie lag am Kai des Asiatisk Plads in der Sonne, und ihre drei Masten ragten in einer komplizierten Pyramide aus straff gespannten Tauen empor –, hatte ich das Gefühl heimzukehren.

Ich habe die Hoffnung nur ein einziges Mal gesehen, als sie im Thurøbund lag. Aber in all den Jahren seit damals war sie ein regelmäßiger Gast in meinen Träumen. Einige Dinge, die man sieht – Häuser, Inseln, Landschaften, Schiffe –, werden zu einem Teil dessen, was die Träume erfüllt. Aber auf eine geradezu unwirklich überhöhte Weise, denn wenn ich von der Hoffnung träumte, waren sämtliche Regeln aufgehoben, sie segelte ebenso selbstverständlich über den Himmel wie durch das sich kräuselnde Wasser meines heimatlichen Sunds. Und die Abenteuer, die ich erlebte, fanden kaum ein Ende, während ich in meinem Bett in unserem Haus auf Mårodden lag und im Traum wie ein Affe ins Rigg der Fregatte kletterte.

Jetzt liegt sie am Asiatisk Plads, einen Steinwurf vom Haus der Tante in Overgaden entfernt, und die Falle und das Holz leuchten golden in der Sonne. Die Hoffnung hat drei Masten und einen gewaltigen Bugspriet, der aus dem niedrigen Steven herausragt wie der aufgerichtete Stoßzahn eines Narwals. Ihr tief im Wasser liegender Rumpf ist schlank und gleichzeitig wohlbeleibt, und aus zwölf Stückpforten kann sie Feuer und Eisen auf jeden speien, der versucht, sie zu kapern. Für eine Fregatte ist sie klein, ungefähr einhundert Kommerzlasten, von der Galionsfigur bis zu den weißlackierten Fenstersprossen des Achterspiegels ist sie gut neunzig Fuß lang. Aber die drei Masten tragen elf Rahen und unter Volltuch nahezu zwanzig Segel. Ich weiß, dass sie ein schnelles Schiff ist. Mit dem richtigen Wind schafft sie mindestens zwölf Knoten.

Mein Vater und ich gingen von Tante Inges Haus am Kanal entlang, dann die Sankt Annæ Gade hinauf und zwischen zwei großen Speicherhäusern hindurch auf den...

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