Autolyse Wien - Erzählungen vom Ende

Autolyse Wien - Erzählungen vom Ende

von: Karin Peschka

Otto Müller Verlag, 2017

ISBN: 9783701362530

Sprache: Deutsch

150 Seiten, Download: 1092 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Autolyse Wien - Erzählungen vom Ende



OLJA


Wien? Verödet. Olja? Schwanger. Ungewollt, alles ungewollt. Olja, vierundreißig Jahre alt, medizinisch technische Assistentin im Allgemeinen Krankenhaus, spezialisiert auf Magnetresonanz und Computertomographie. Einzige Tochter ihrer Eltern. Diese lebten in Temerin, einem kleinen serbischen Ort nahe Novi Sad, oder waren tot. Vor drei Monaten hatte sich die Welt im Weiterdrehen an etwas gerieben und sich dabei die Haut abgeschürft.

Wie das Wildschwein an einer Eiche, aber die Eiche kümmert es nicht, dachte Olja, und an Bastian dachte sie. Er war der Vater des Kindes in ihrem Bauch, das sie nicht haben wollte und nun haben würde ungeachtet aller Wünsche. Seine Drohung: es ihren Eltern zu erzählen, die er doch kennenlernen sollte eines Tages. Ihnen zu verraten: Eure Tochter hätte euch einen Enkel schenken können, aber sie hat abgetrieben, weil, ja weil. „Das musst du ihnen dann erklären, Olja“, hatte er gesagt und mit der Tür geknallt.

Bastians Wesen war herrisch und besitzergreifend. Olja hatte es in der anfänglichen Verliebtheit nicht bemerkt, ein paar Monate Gnadenfrist, bis sich die Wahrheit ans Licht arbeitete. Kurz vor dem dritten Adventsonntag ein erster Ausbruch aus einem nichtigen Grund. Firmenweihnachtsfeier, sie machte sich hübsch. Für wen? „Wie bitte?“, hatte Olja gefragt, im kleinen Bad ihrer Mietwohnung, sich mit dem Ohrstecker am linken Ohr abmühend, immer hatte sie auf dieser Seite das Problem, aber schön waren die Stecker, mit je einem türkisen Halbedelstein und einer weißen, in Gold gefassten Perle. Von wem sie diesen Schmuck bekommen hätte, von einem Exfreund, und warum sie ihn genau heute trage, wollte Bastian wissen.

Also Eifersucht. Großes Drama, heftiger Streit. Olja war zur Weihnachtsfeier gegangen, aber ohne Freude und nicht lange. Immer in Gedanken versunken, ob sie zu heftig reagiert, ob sie nicht umgekehrt selbst ähnliche Fragen stellen würde. Sie hatte sich, während die Kolleginnen und Kollegen fröhlich waren, mit abwesender Miene Szenarien ausgedacht, Bastian vor dem Spiegel im Vorzimmer seiner Wohnung, Eigentum, abbezahlt. Sich für ein Firmenfest rüstend, duftend und rasiert. Je länger sich Olja in diese Vorzimmersituation hineinversetzte, umso besser fand sich Äquivalentes in ihrem möglichen Verhalten, und obwohl sie natürlich wusste, dass sie anders war, dass sie ihm gratulieren würde zu seinem perfekten Aussehen, dass sie sehr wohl zwar Angst hätte vor den herausgeputzten Sekretärinnen und Abteilungsleiterinnen der Immobilienfirma, in der Bastian arbeitete. Obwohl das alles der Fall war, fiel es ihr im Verlauf des Abends und mit zunehmender Alkoholisierung leicht, sich einzureden, sie wäre keinen Deut besser gewesen.

Ein Anruf in der Garderobe, zwischen den Jacken und Wintermänteln der Kollegenschaft, gegenseitiges Vergeben, verfrühtes Aufbrechen gleich nach der Ansprache des ärztlichen Direktors, mit dem Taxi zu Bastian, Geschlechtsverkehr und drei Wochen später die Feststellung, schwanger zu sein.

Mit absoluter Sicherheit schwanger. Frühtest nach der morgendlichen Übelkeit. Weil auch Bastian nicht dumm war und Zeichen deuten konnte, hatte er den Test in der Apotheke besorgt. Olja urinierte auf den Streifen, wartete in der Toilette seiner Wohnung auf das Ergebnis, wissend um die Brisanz der Entscheidung und gleichzeitig mit großer Klarheit: Sie durfte nicht schwanger sein, durfte mit diesem Mann nicht zusammenbleiben, weil er genau das Gegenteil von dem war, was sie haben wollte. Weil er ihr die Freiheit nehmen würde und sie sich ihm unterwerfen in allen, in wirklich allen Dingen, je länger, je enger, je unauflöslicher.

Daher weinte sie beim blauen Plus, was Bastian so gerne als Freudentränen gedeutet hätte, was aber Verzweiflung war ob dieser Erkenntnis, drei Wochen zu spät. Wieder Drama, wieder heftiger Streit, verbunden mit der konkreten Drohung seelischer Erpressung und der angedeuteten körperlichen Züchtigung, würde sie das Kind nicht austragen. Wo hatten sich die Abgründe verborgen in diesem Mann, der außen perfekt war und innen pervers?

Aber Mutter, aber Vater! Die strenggläubigen Eltern. Olja weinte. Die Katastrophe hatte Wien abgerissen, kein einzelnes Abbruchhaus, eine Abbruchstadt war daraus geworden, ein Meer von Halbeingestürztem, von Ruinen. In einer davon hauste Olja, immer noch mit Schwangerschaftsübelkeit kämpfend, aber zumindest in vordergründiger Sicherheit. Das bunkerähnliche Lager gehörte zu jenem Restaurant, in dem sie mit Elena, ihrer engsten Freundin, gefeiert hatte. Was? Den Entschluss, sich von Bastian zu trennen. Sie hatte ihn verlassen, war mit einem Koffer und allen Dokumenten zu Elena gezogen, da Bastian ihre Wohnung belagern würde, womöglich die Tür eintreten. Die Nachbarn waren verständigt. Die Dame wäre nicht hier, sollten sie sagen. Für längere Zeit verreist. Zwei Wochen Urlaub hatte sich Olja genommen, um die Schwangerschaft zu beenden, der Termin in der Ambulanz war für den nächsten Tag vereinbart, danach auf Elenas Couch sich erholen und Pläne fassen. Neu anfangen.

Im Anschluss an das Dessert fegte die Welt über sie hinweg, riss alle Tische, Stühle, alle Gläser und Teller mit sich. Spät war es geworden, kaum andere Gäste, ein Kellner im Schlussdienst, die Küche schon geschlossen. Im Gegensatz zu Kellner, Koch und Küchenhilfe überlebten die zwei Frauen den Sturm. Olja, die mit dem Rücken zur Wand saß, mit tiefen Schrammen quer über die Wange. Elena schwerst verletzt.

Sie starb am nächsten Tag. Fünf Tage später hatte sich Olja weit genug gefasst, um die Freundin notdürftig zu begraben, indem sie Schutt anhäufte, eine Art Rundwall baute, diesen mit Schotter und allem möglichen auffüllte, zuvor Elenas Augen mit Münzen bedeckte und den Leichnam in Tücher hüllte, die leider nicht weiß waren, sondern rot kariert. Als Grabplatte diente ein umgedrehter Tisch, auf den Wall gewuchtet. Nur ein Tischbein ragte unversehrt, mit dem Stück eines anderen und einer Kordel band Olja ein Kreuz zusammen. Anfangs zündete sie auch Kerzen an, bis sie beschloss, diese zu sparen. Kerzen gab es in jedem Restaurant, sie brauchte nur ein wenig im Schutt zu graben, fanden sich welche. Fand sich auch ein Arm des Kellners, wurde wieder zugedeckt. Koch und Küchenhilfe waren nicht zu finden, vielleicht hatten sie kurz vor dem Drama das Gebäude verlassen. Olja wusste von ihrer Existenz nur, was sie – vor dem Dessert – auf dem Weg zur Toilette gesehen hatte. Die Toilette lag im Gang hinter der Tür zur Küche, möglich, dort war auch ein Raum für die Angestellten mit deren Spinden und die beiden darin, aber: Nichts regte sich, wenn Olja still war und lauschte.

Sie musste sich übergeben, sobald sie den leicht süßlichen Verwesungsgeruch wahrnahm, der sich nicht lokalisieren ließ. Er konnte von überall her kommen, auf ihren Erkundungen durch die Umgebung war er stets präsent. Olja krümmte sich daher ständig. Eng waren die Kreise, die sie zog. Immer wieder zurück zum Lager, der Hintereingang begehbar, die Tür absperrbar und gesichert, der Schlüssel war im Schloss gesteckt, ein Glück.

Ein Glück im Unglück. Olja rätselte. Warum sie war, wie sie war, so fatalistisch ruhig, ihrem eigentlichen Charakter entgegengesetzt. Womöglich lag es an der fortschreitenden Schwangerschaft, der Embryo hatte sich in ihr festgekrallt, der Überlebensinstinkt im Minimalsten, geschehe was wolle, ich bleibe bestehen. Mit diesem „Ich“ könnte durchaus die menschliche Rasse gemeint sein, dachte Olja, sie die Urmutter, den Lebensfunken weitertragend, irgendwo da draußen eine andere Olja, mit dem geschlechtlichem Gegenstück im Leib heranwachsend, um eine neue Sippe zu gründen.

„Das sind Hirngespinste, das ist verrückt“, sagte Olja zu Elenas Tischbeinkreuz. Immer, wenn ihr nach Reden war, saß sie dort. Zu diesen Gelegenheiten zündete sie eine Kerze an, so gern hätte sie Weihrauch verbrannt, ihr ganzes Verlangen war auf den Geruch von Weihrauch ausgerichtet, da winkte etwas aus der Kindheit herüber. In der Kirche mit den Eltern, die serbisch-orthodoxen Weihnachtsfeiern, das Slava-Fest. Sie hätte den Familienheiligen erben können, vom Vater, weil kein Sohn vorhanden, aber an Töchter wird er nur weitergegeben, wenn sie daheimbleiben. „Siehst du, Elena“, sagte Olja, „ich bin fortgeschickt worden, nach Wien.“ Zur Tante, der Schwester des Vaters, die kinderlos geblieben war, die dem Vater eingeredet hatte: „Gib mir deine kleine Olja, ich sorge für ihre Ausbildung, und wenn aus ihr etwas geworden ist, kommt sie zurück.“ In Novi Sad hätte sie arbeiten können in jeder Ordination, in jedem medizinischen Institut. Bei oder neben den Eltern leben, deren Haus war für mehrere Generationen gedacht. Sofern es noch stand.

War nur eine Idee gewesen, eher wohl die Ahnung einer Idee. Als sie ihren Koffer gepackt hatte und die Dokumente sortiert. Daheim noch, in ihrer Mietwohnung, die wenigen Dinge, die Bastian in der kurzen Zeit ihrer Beziehung bei ihr deponieren konnte, in einem...

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