1900. - Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies
von: Peter Michalzik
DUMONT Buchverlag, 2018
ISBN: 9783832189921
Sprache: Deutsch
350 Seiten, Download: 1132 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Hauptmann und Guttzeit
Die Luft ist hell und klar über dem Zürichsee nördlich der Alpen. Kräftig scheint die Pfingstsonne, im grellen Licht kneifen zahlreiche Sonntagsspaziergänger ihre Augen zusammen. Der Kirchgang ist vorüber und die Zürcher promenieren zufrieden an der Limmat und dem Seeufer entlang. Da bildet sich am Kai ein Auflauf, eine Menge Neugieriger schart sich um eine unwirkliche Erscheinung. Manche trauen ihren Augen nicht.
Der Mann trägt eine grob gewebte Kutte, die bloßen Füße stecken in Sandalen, die rotblonden, welligen Haare reichen über die Schultern. Sein voller Bart ist ebenfalls rötlich. Am auffälligsten aber ist die Schnur, die er sich wie ein Stirnband um den Kopf gebunden hat. Er sieht wirklich so aus, als sei er der Wiedererstandene! Soll das ein Apostel sein, fragen sich die Spaziergänger. Oder gar Christus selbst?
Die Zürcher lachen den Mann nicht aus, sondern schauen ihn an und versammeln sich immer zahlreicher um ihn. Da beginnt er tatsächlich zu predigen und ein Schauder geht durch die Menge.
Er predigt gegen den Luxus und für das einfache Leben. »Zurück zur Natur«, ruft er. »Fort mit der Kadaverfresserei!« Er beschimpft die Zuhörer: »Ihr seid Fresser und Weinsäufer. Auf euren Tafeln prangen kannibalisch Tierkadaver. Lasst ab vom ruchlosen Mord der Kreaturen! Früchte des Feldes seien eure Nahrung!« Ja, Früchte, Körner und Gemüse solle man essen, verkündet der Mann mit heiligem Eifer. Und: »Euer Trunk sei klares Quellwasser!« Bloß keinen Tee, keinen Kaffee, keinen Alkohol. Es sei ganz einfach. Man müsse es nur den Tieren gleichtun. Das bringe das Heil, das sei der Anfang der geistigen Wiedergeburt. Das bedeute Verbundenheit mit der Natur und mit Gott.
Als ein junger, gut gekleideter Zürcher zu dem Prediger geht, um ihn etwas zu fragen, herrscht der ihn grob an: »Geh hin, verkaufe deine Güter und gib dein Geld den Armen!« Er packt ihn an seinem weißen Kragen, deutet auf Krawatte und Uhrkette, um allen deutlich zu machen, wie sehr dieser junge Mann doch im falschen Leben verfangen ist.
Im flachen Land südlich der Berge, in Turin, schickt sich Friedrich Nietzsche an – Nietzsche, der seine Tage so gern in Sils-Maria in den Bergen verbracht hat –, verrückt zu werden.
In welcher Verfassung sich Nietzsche, der in diesen Tagen noch unbekannte Gigant des Geistes, zu dieser Zeit eigentlich befindet, wie es ihm »geht«, können wir nur vermuten. Mit dem ersten Oktober des Jahres möchte er eine neue Zeitrechnung beginnen lassen. Mit der Umwertung aller Werte, der Zerstörung jeglicher Moral, der Erkenntnis, dass die bisherige christlich-platonisch geprägte Moral nicht nur im Inneren faul, sondern menschenverachtend ist, meint er wirklich ein neues Zeitalter einzuleiten.
Nietzsche gibt sich seit Jahren einer Einsamkeitsmanie hin, unter der er entsetzlich leidet. Er wälzt, keine schöne Vorstellung, Gedanken wie Felsblöcke. In den Monaten vor dem Wahnsinn bezeichnet er sich aber als »heiter«, mit einem Lieblingswort nennt er die Zeit »halkyonisch«, womit er meint, dass es schöne Tage sind, die er in Turin in Gelassenheit verbringt. Beginnender Wahn und Wohlgefühl schließen sich nicht aus. Stetig stellt er, erst in Sils Maria, dann in Turin, ein Werk nach dem anderen fertig: »Der Fall Wagner«, »Götzen-Dämmerung«, »Der Anti-Christ«, »Ecce homo«, die »Dionysos-Dithyramben«, »Nietzsche contra Wagner«. Der Philosoph ist im Rausch.
Gleichzeitig ist er sich in diesem Jahr 1888 über sich, seine Einsamkeit, seine Rolle, seine Möglichkeiten, sein Leben, ziemlich klar. Er bringt es auf die einfache Formel: Zehn Jahre Meisterwerke, zehn Jahre Krankheit. Und: »Ich bin jetzt allein, absurd allein.«
Unabhängig davon, wie Nietzsche selbst sich gefühlt hat: Für alle anderen ist sein ausbrechender Wahn anderthalb Jahre später die Hölle. Nietzsche macht Angst, der Nietzsche, der wahnsinnig wird, macht besonders viel Angst. Franz Overbeck, der Freund, der nach Turin fährt, um nach dem kranken Nietzsche zu sehen und ihn nach Basel zu holen, der ihn in seiner Stube vorfindet, äußert sich in seinem Bericht nur dezent über das, was er sieht – als habe er Angst, etwas Grauenvolles zu berühren.
Overbeck nennt den Moment des Wiedersehens »fürchterlich«, der Freund sei »entsetzlich verfallen«. Nach einer Umarmung unter Tränen, der verwirrte Nietzsche erkennt Overbeck immerhin, liegt der Kranke »stöhnend und zuckend« auf dem Sofa. Nietzsche deliriert, nach der beruhigenden Gabe von Bromwasser, von einem großen Empfang am Abend. Etwas ausführlicher beschreibt Overbeck Nietzsches Raserei am Klavier, sein ekstatisches Spiel, unterbrochen durch Ausrufe über sich als Nachfolger des toten Christus. Overbeck findet das einerseits sublim und wunderbar hellsichtig, andererseits unsäglich schauerlich. Nietzsche gibt als seinen Beruf an, der Possenreißer der neuen Ewigkeiten zu sein. Er tanzt und springt auf skurrile Weise. Overbeck spricht über sein Erlebnis in Turin, wie wenn es sich um ein peinliches und peinigendes Thema handeln würde. Besser, man sagt nichts darüber …
Der Zahnarzt Leopold Bettmann, der hilft, Nietzsche von Turin nach Basel zu verfrachten, teilt nichts über die Reise und seinen Schutzbefohlenen mit. Bettmann überredet Nietzsche zu der Reise, indem er ihm von Feierlichkeiten, die für ihn bereitet sein würden, erzählt. Am Bahnhof warte eine festlich gestimmte Menge auf ihn. Das überzeugt den Philosophen, da fährt er mit.
Am offensten spricht die Familie Fino, Nietzsches Zimmerwirte in Turin, einfache und brave Leute, die am Ende die letzten Personen waren, die Kontakt zu dem vereinsamten Denker hatten. Sein Zimmer habe wüst ausgesehen. Er führe laute Selbstgespräche, sei erregt und verwirrt. Die Frau des Hauses späht wegen Nietzsches lautem Singen durch das Schlüsselloch und sieht den splitternackten Philosophen, wie er tanzt. Außerdem spielt er, für alle zu hören, extrem laut und orgiastisch und auch noch zur Unzeit Klavier.
Das war’s. Später allerdings wird bekannt, dass Overbeck damals nicht alles aufschrieb, was er erlebt hat. »Seine Hand sträubte sich, die krassen Einzelheiten zu Papier zu bringen.« Im Gespräch habe er mehr über Nietzsches Befinden angedeutet, aber niemand hat für die Nachwelt überliefert, worin diese Andeutungen bestanden.
Turin, das Nietzsche erst im Frühjahr 1888 für sich entdeckt hat, anderthalb Jahre, bevor er verrückt wird, ist für ihn ein Glück, mehr: Turin ist ein Traum. Er geht in die Stadt des Wetters wegen, mild, aber mit kühlen Nächten, er denkt auch über die oberitalienischen Seen als Frühjahrsdomizil nach, aber dort ist es ihm zu drückend, zu wolkig, zu herabstimmend. Dagegen die Turiner Luft: trocken, anregend, lustig, wie er sagt. In Turin geht es ihm gut.
Dazu kommt: »Wenn man hier heimisch ist, fühlt man sich als König von Italien.« Schon lange träumt er von seiner eigentlichen Adresse, Palazzo del Quirinale, dem Königssitz in Rom auf dem gleichnamigen Hügel. Nun aber hat er seinen Ort gefunden, denn von hier, aus Turin, stammt das italienische Königshaus. Hier gehört er hin. Die Stadt hat Noblesse. »Abends auf der Po-Brücke: herrlich! Jenseits von Gut und Böse!«
Nebenbei ist das Leben in Turin für ihn auch sensationell preisgünstig. Nietzsche lässt sich sogar einen neuen Anzug schneidern. Es geht ihm wirklich gut.
Weit weg von Turin, Zürich und dem Gotthard spielt sich im Geheimen, ganz im Inneren eines Menschen, ein großes Drama ab. Der Mann ist einer der großen Künstler seiner Zeit, der Epiker der Neuzeit. Er ist ein enormer Schriftsteller mit einer Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, die manchem Zeitgenossen fast den Atem raubt. Er entfaltet gewaltige Panoramen und verfügt über einen endlos scheinenden Erzählatem. Dieser gefeierte Dichter nun hat sich mit Frau und Kindern auf das Land zurückgezogen. Er lebt mit seiner Familie abgeschieden auf dem Familiengut in Jasnaja Poljana gut 200 Kilometer südlich von Moskau. Der Mann verachtet die Gesellschaft, die er doch so genau zu beschreiben versteht, er will nichts mehr von ihr wissen, die Menschen von Moskau und Sankt Petersburg erscheinen ihm genusssüchtig, selbstgefällig und verdorben. Er will nicht mehr in dem großen Getriebe seiner Zeit mitmachen, er will auch keine Romane mehr schreiben, er will die Kunst und die Stadt und das komplizierte soziale Leben mit seinen Eitelkeiten, Etiketten und Regeln vollständig hinter sich lassen. Er will zu einem starken, eindeutigen Gefühl finden. Er verzehrt sich danach, ein eigenes Leben zu führen, ein Leben in Wahrheit, Klarheit und Einfachheit.
Das Leben des gefeierten russischen Schriftstellers wurzelt im Fleisch. Als junger Mann hatte er ein ausgesprochen ausschweifendes Leben geführt, er spielte und trank, er lebte so exzessiv, dass es sogar in der russischen Adelsschicht auffiel, der er entstammte – eine Schicht, die kein Muster an Zurückhaltung und Mäßigung war. Zahllose Affären hatten ihn beschäftigt. Vor allem fühlte er sich zu den einfachen Frauen und Mädchen aus den Bauerndörfern hingezogen. Als er seiner Frau Sofja Andrejewna sein Tagebuch aus jener Zeit zu lesen gibt (er führte also schon während der Jahre der Ausschweifung penibel Buch), ist sie schockiert. Sie hat ja keine Ahnung gehabt, was ihr Mann für ein Mensch ist. Sie hätte sich sein animalisches, gieriges Wesen nicht einmal vorstellen können.
Der Schock sitzt tief in Sofja Andrejewna, aber die energische Frau gewöhnt sich an ihren Mann. Es gibt Zeiten, in denen sie mit seinem Wesen durchaus einverstanden war. 48 Jahre verbringt das Paar so miteinander und erlebt gemeinsam Eheglück und Ehehölle.
Es...