Was nie geschehen ist

Was nie geschehen ist

von: Nadja Spiegelman

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841214898

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 3759 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Was nie geschehen ist



Kapitel zwei


Als Kind war meine Mutter ein Junge. Ihr Vater brachte sie zu seinem Friseur, der ihre Haare genauso kurz schnitt wie seine. Ihre Mutter kleidete sie ganz in Blau – Polo-Shirts und kurze Hosen. Meistens machte das Françoise nichts aus. Sie war schlank und athletisch, sie kletterte über Zäune und sprang von Klettergerüsten.

Sylvie, die ältere Schwester meiner Mutter, war vierzehn Monate alt, als Françoise geboren wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie noch immer gestillt und konnte kaum laufen. Josée hatte geglaubt, sie könne nicht schwanger werden, solange ihre Brüste noch voller Milch waren; so schnell hatte sie kein zweites Kind gewollt. Noch bevor sie wusste, dass sie erneut schwanger war, reiste sie nach Ägypten. Dort ritt sie in der Wüste auf Kamelen. Meine Mutter jedoch war stur, schon damals. Sie hatte sich eingenistet, sie hielt sich fest.

Eine zweite Tochter. Ihr Vater verließ das Krankenhaus in Paris nur wenige Augenblicke nach ihrer Geburt, sein Gesicht eine solche Fratze der Verzweiflung, dass die Krankenschwester zurück ins Zimmer kam, um sicherzugehen, dass das Kind noch lebte. Einige Tage lang verschwand er in ein Casino am Stadtrand, dann kam er zurück – gerade noch rechtzeitig, um die Geburt des Kindes offiziell zu melden.

Er bestand darauf, sie Françoise zu nennen. Es war der Name seiner Großmutter, gewöhnlich und bodenständig. Josée hatte vorgehabt, sie Catherine zu nennen. Doch dieses Kind war seines. Die Fronten von Anfang an klar.

»Du warst ein unglaublich hässliches Baby«, sagte Josée oft zu Françoise, wenn ihr Geburtstag näher rückte. »Deine Nase war ganz platt gedrückt und dein Kopf so lang und oval wie ein Zäpfchen.« Sie war dann doch zu einem schönen Kind herangewachsen, einem Kind, das Menschen neben dem Kinderwagen innehalten und ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen ließ. Sie hatte die dunklen Locken ihres Vaters, ebenso seinen intelligenten, kämpferischen Blick. »Braune Augen, genau wie Paul«, sagte Josée einmal zu mir, obwohl die Augen meiner Mutter von einem stechenden Graugrün waren. Ich denke, was sie eigentlich sagen wollte, war, dass die Augen meiner Mutter nicht blau waren wie ihre eigenen.

Andrée kam sechs Jahre nach Françoise auf die Welt. Das Kind eines anderen Mannes, behauptete Paul. Das Ergebnis einer ehelichen Vergewaltigung, beharrte Josée. Der Versuch, dem Scheitern der Ehe Einhalt zu gebieten, hatte man mir einmal erzählt. Das »e« am Ende ihres Namens kam erst auf der Geburtsstation hinzu, als man feststellte, dass auch dieses Kind sich geweigert hatte, ein Junge zu werden. Die Geburt von Andrée war eine Art Meilenstein in den Erzählungen der Familie, denn ungefähr zur selben Zeit nahm Pauls Karriere an Fahrt auf. Dank seines finanziellen Erfolgs war er in der Lage, die Räume im Erdgeschoss des Hauses, in dem die Familie lebte, zu erwerben, um darin seine Praxis einzurichten. Vorher waren sie im Grunde ganz glücklich gewesen. Danach gab es einfach zu viel Geld.

Die älteren Mädchen lernten, die meiste Zeit über unsichtbar zu sein. An den vielen Abenden, an denen ihre Eltern Dinnerpartys gaben, aßen die Kinder in der Küche, reichten, bereits in ihre Pyjamas gekleidet (Blau für Françoise, Rot für Sylvie), Erdnüsse und Oliven herum und begaben sich dann gehorsam auf ihr Zimmer. In dem Bett, das sie sich teilten, erzählte Françoise vor dem Einschlafen flüsternd schaurige Geschichten über Märtyrerinnen. Sie hatte entschieden, dass sie eines Tages eine Jeanne d’Arc sein würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, je eine Frau wie ihre Mutter zu werden, mit perfekt manikürten Nägeln. Sie würde Männerkleider tragen, für eine große Sache sterben und die Geschichte Frankreichs prägen.

Hin und wieder gab es Momente schwesterlicher Innigkeit zwischen den Mädchen, aber in der Regel herrschten heftige Spannungen zwischen ihnen. Sie fühlten sich wie die Rennpferde, auf die Josée und Paul jeden Sonntag wetteten. Sylvie war das Pferd ihrer Mutter, Françoise das ihres Vaters. Françoise gewann fast immer – sie konnte nicht anders, es lag in ihrer Natur, zu wetteifern und zu gewinnen. Schwimmen lernte sie im selben Jahr wie Sylvie, wild ruderte sie mit den kleinen Armen, um mitzuhalten. Sie liebte die Schule und war jedes Jahr die Klassenbeste. Dann übersprang sie ein Schuljahr und fand sich plötzlich in derselben Klasse wie ihre Schwester wieder. Josées Ärger schien mit jedem kleinen Sieg, den Françoise errang, zu wachsen, und Françoise empfand darüber heftige Reue.

Françoise bewunderte ihren Vater. Sie liebte es, die Faszination in den Augen der Menschen zu sehen, wenn sie ihnen erzählte, was ihr Vater beruflich machte. Mit den Handflächen zog sie die Haut ihrer Wangen zurück, erläuterte Nasen- und Brustverkleinerungen. Paul war einer der ersten Schönheitschirurgen Frankreichs und das gutaussehende Aushängeschild der gesamten Profession. Sie vergab ihm die peinlichen Momente, die durch seine Flirterei mit jeder Verkäuferin, jeder Kellnerin entstanden. Er war ein außergewöhnlich charismatischer Mann, und wenn er gute Laune hatte und das ganze Haus mit seinem Gesang erfüllte, konnte niemand, nicht einmal Josée, ein Lächeln unterdrücken. Es stand außer Frage, dass Françoise, Pauls Tochter, einmal seine Praxis übernehmen würde. Und doch war es die Mutter, auf die sich die Bewunderung des kleinen Mädchens richtete.

Auf einem Foto aus der ersten Zeit ihrer Ehe wirkt Josée wie die perfekte Hausfrau der Fünfziger. Eine Perlenkette um den Hals und einen Strauß Blumen in der Hand, schaut sie schüchtern zu meinem Großvater hinter der Kamera auf. Und doch war sie nicht dafür gemacht, diese Frau zu sein. Die Dinnerpartys, die sie, wie man es von ihr erwartete, ausrichtete, waren verschwenderisch und extrem – mit Austern-Wettessen, einer Stange voller luftgetrockneter Würste als optische Krönung des Buffets, Furzkissen auf den Stühlen, Gabeln, die sich durchbogen, wenn man versuchte, sie zu benutzen, Scherzgläsern, die den Wein auf gestärkte, monogrammbestickte Hemden kleckern ließen und lautstarke Begeisterungsstürme bei ihren Gästen auslösten. Wenn sie sich hübsch anzog, wie man es von ihr erwartete, war sie eine der schönsten Frauen in ganz Paris. Ihre Wespentaille und die endlos langen Beine verzauberten selbst die Männer auf der anderen Seite des Raumes. Wenn sie sich schick machte, wie man es von ihr erwartete, setzte sie neue modische Standards. Wenn ihr Mann sie betrog, wie man es mehr oder weniger von ihm erwartete, hatte auch sie wilde Affären. Aber wenn es darum ging, ihre Rolle als Mutter auszufüllen, fehlte ihr schlicht die Zeit.

Abends kam sie mit Einkaufstüten beladen nach Hause, ließ sie noch an der Tür fallen und rannte ins Bad.

»Nicht einmal Zeit zu pinkeln hatte ich!«, rief sie dann. Die kleine Françoise machte große Augen, wenn sie ihre Mutter so rennen sah, tief beeindruckt von dem dichten Zeitplan, dem sie offenbar folgte. Rückblickend ist eigentlich nicht klar, womit genau Josée so beschäftigt war. Fast jeden Tag ließ sie sich die Haare machen. Sie kaufte antike Möbel und restaurierte sie im Hof des Hauses, in dem sie lebten. Sie tat das so häufig, dass der Concierge sogar glaubte, sie handle mit den Möbeln. Sie half dabei, die internationalen Konferenzen der Schönheits- und Wiederherstellungschirurgie zu organisieren. Sie plante ihre Dinnerpartys, notierte in einem Heft, was es zu essen gegeben hatte und welcher der drögen Chirurgen neben wessen Frau gesessen hatte. Sie machte Anmerkungen wie »P war zu spät« oder »JM trinkt lieber Rosé als Weißwein«. Sie notierte auch, welches Outfit sie getragen hatte, um sicherzugehen, dass sie es kein zweites Mal anziehen würde.

Weder Josée noch Paul kamen aus einer reichen Familie. Paul war das einzige Kind eines Tierarztes aus einer Kleinstadt in Corrèze, einer isolierten Region in der Mitte Frankreichs. Als Josée die Schwiegereltern zum ersten Mal besuchte, lagen in der Badewanne lauter Kartoffeln. Josée selbst kam aus düsteren, komplizierten Verhältnissen, von denen die Töchter wenig wussten. Niemals wurde darüber in der Öffentlichkeit geredet. Und doch war es den beiden gelungen, die Menschen für sich einzunehmen und sich in den biederen Zirkel der Oberschicht zu charmieren. Die Erinnerung an ihre Vergangenheit bewahrten sie nur, um sich damit gegenseitig möglichst tiefe Wunden zuzufügen.

Ständig hatten sie heftige und gewalttätige Auseinandersetzungen. Mehr als einmal wurde die Polizei gerufen.

»Ich konnte schon immer auf Knopfdruck weinen«, sagte Josée eines Sonntagnachmittags, als die Familie sich um einen gigantischen Haufen Meeresfrüchte versammelt hatte. Sie sahen zu, wie die Tränen ihr Gesicht herunterrannen. Ebenso plötzlich hörte sie wieder auf zu weinen und fixierte ihren Mann mit ihren stechenden blauen Augen. Sein Gesicht wurde rot, vor lauter Ärger begann er zu zittern. »Hör bloß auf zu feixen, du mit deinem Bastard-Grinsen«, sagte er. Sein Teller sauste an ihrem Ohr vorbei und krachte gegen die Wand. Josée reagierte darauf lediglich mit einem fast unmerklichen Blinzeln.

Am friedlichsten waren sie, wenn sie sich abends fertig machten, um auszugehen. Sie wussten, was für ein glamouröses Paar sie abgaben, und waren auf das Aussehen des anderen ebenso stolz wie auf das eigene. Paul sang vor sich hin, während er die dichten schwarzen Locken zurechtstrich und sein Parfüm auftrug. Françoise wich ihrer Mutter an diesen Abenden nicht von der Seite, beobachtete schweigend, wie Josée falsche Wimpern und den blonden Pferdeschwanz anlegte. Françoise hatte das...

Kategorien

Service

Info/Kontakt