Die Ladenhüterin - Roman

Die Ladenhüterin - Roman

von: Sayaka Murata

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841214805

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 4756 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Ladenhüterin - Roman



An die Zeit vor meiner »Geburt« als Ladenhilfe im Konbini kann ich mich nur sehr vage erinnern.

Aufgewachsen bin ich in einem Vorort, in einer ganz normalen, liebevollen Familie. Dennoch war ich ein sonderbares, etwas verhaltensauffälliges Kind.

Einmal, als ich noch im Kindergarten war, fand ich im Park einen toten Vogel. Er war sehr hübsch und hatte ein blaues Gefieder, vermutlich ein entflogenes Haustier.

Alle Kinder umringten ihn, und einige weinten. Der Hals des kleinen Vogels war verdreht, und seine Augen waren geschlossen.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte ein Mädchen.

Hastig nahm ich den kleinen Vogel an mich und lief zu meiner Mutter, die auf einer Bank mit anderen Müttern plauderte.

»Keiko, was ist denn? Ach, ein Vögelchen … Es ist wohl jemandem davongeflogen. Das Ärmste! Wollen wir es begraben?«, sagte sie und strich mir dabei liebevoll übers Haar.

»Lieber essen«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Papa mag doch Hähnchenspieße so gern. Wir können den kleinen Vogel heute Abend braten«, erklärte ich noch einmal deutlicher, weil ich glaubte, sie habe mich nicht verstanden. Meine Mutter wirkte bestürzt, und auch die anderen Mütter rissen entgeistert Augen und Mund auf. Sie sahen zum Brüllen aus. Aber weil sie so auf meine Hand starrten, dachte ich, ein einzelner Vogel wäre wahrscheinlich nicht genug.

»Soll ich noch mehr holen?« Mein Blick huschte zu ein paar in der Nähe herumhüpfenden Spatzen, woraufhin meine Mutter endlich ihre Fassung zurückgewann.

»Keiko!«, rief sie vorwurfsvoll. »Wir machen jetzt ein Grab für den kleinen Vogel. Guck mal, alle weinen. Ein Freund ist gestorben, das ist doch traurig. Tut dir der kleine Vogel nicht leid?«

»Wieso? Der ist doch tot.«

Meiner Mutter fehlten die Worte.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater, meine Mutter und meine kleine Schwester Asami den Vogel nicht gern verspeisen würden. Mein Vater mochte Hähnchenspieße sehr, und Asami und ich waren ganz versessen auf Gegrilltes.

Im Park gab es eine Menge Vögel, die man fangen und mit nach Hause nehmen konnte. Warum sollte man sie also vergraben, statt sie zu essen? Es war mir ein Rätsel.

»Sieh doch mal, so ein niedliches kleines Vögelchen, meinst du nicht?«, redete meine Mutter mir zu. »Wir begraben es dort drüben, und ihr legt Blumen auf sein Grab, ja?«

Letztendlich geschah es so, aber verstehen konnte ich es nicht. Die anderen Kinder standen um das Grab herum und jammerten, wie leid ihnen der kleine Vogel tue. Anschließend rissen sie überall Blumen aus, die dann auch tot waren. »So schöne Blumen. Bestimmt freut sich der kleine Vogel«, sagten sie, und ich fragte mich, ob sie vielleicht den Verstand verloren hatten.

Das Vogelgrab befand sich innerhalb einer Einfriedung mit einem Betreten verboten-Schild. Jemand steckte einen Eiscremestiel aus dem Mülleimer in die Erde, und sie häuften die toten Blumen darauf.

»Jetzt guck doch mal, Keiko, das ist doch traurig, das arme Vögelchen«, flüsterte meine Mutter unentwegt auf mich ein, aber ich fand das kein bisschen.

Solche und ähnliche Dinge passierten immer wieder. Zum Beispiel, als sich kurz nach meiner Einschulung auf dem Schulhof zwei Jungen prügelten. Es herrschte große Aufregung.

»Wir müssen einen Lehrer rufen!«, schrien einige Kinder.

»Ja, jemand muss sie aufhalten!«

Genau, dachte ich, aufhalten. Rasch holte ich mir eine Schaufel aus dem Geräteschuppen und schlug einem der Streithähne damit auf den Kopf.

Alle kreischten, der Junge hielt sich den Kopf und blieb reglos liegen. Als ich das sah, schwang ich erneut die Schaufel, um auch den anderen Jungen außer Gefecht zu setzen.

»Keiko! Hör auf! Hör auf!«, heulten die Mädchen.

Die herbeigeeilten Lehrer konnten es nicht fassen und verlangten eine Erklärung von mir.

»Es hieß doch, wir müssten sie aufhalten, und das war die schnellste Methode.«

Entgeistert stammelte einer der Lehrer, dass Gewalt doch keine Lösung sei.

»Aber alle haben gesagt, die sollen aufhören. Ich wollte doch nur, dass Yamazaki und Aoki aufhören«, erklärte ich geduldig. Ich verstand nicht, warum meine Lehrer so entsetzt waren. Jedenfalls gab es eine Klassenkonferenz, und meine Mutter musste in die Schule kommen.

Beim Anblick meiner Mutter, die sich mit todernstem Gesicht, unablässig Entschuldigungen murmelnd, vor den Lehrern verbeugte, wurde mir klar, dass ich etwas sehr Schlimmes getan hatte. Aber warum das so war, konnte ich nicht begreifen.

Etwas Ähnliches geschah, als eine Lehrerin während einer Unterrichtsstunde einen hysterischen Anfall bekam und mit dem Klassenbuch auf ihr Pult eindrosch. Alle winselten, baten sie um Verzeihung und flehten sie an aufzuhören.

Da sie sich auch auf unsere inständigen Bitten hin nicht beruhigte, lief ich nach vorn und zog ihr mit einem Ruck Rock und Strumpfhose herunter, um sie zum Schweigen zu bringen. Erschrocken hörte die junge Lehrerin auf zu schreien und fing an zu weinen.

Der Lehrer aus der Klasse nebenan kam angerannt, und als ich ihm erzählte, ich hätte mal im Fernsehen gesehen, wie eine erwachsene Frau sich beruhigt habe, als man ihr die Kleidung herunterriss, gab es wieder eine Klassenkonferenz.

»Ach, Keiko, was gibt es denn da nicht zu verstehen?«, klagte meine Mutter auf dem Heimweg und legte verzagt die Arme um mich. Sie hatte erneut in die Schule kommen müssen. Anscheinend hatte ich wieder einmal etwas Schlimmes angestellt, auch wenn ich nicht verstand, was so schlimm daran sein sollte. Meine Eltern waren am Ende ihrer Weisheit, liebten mich aber dennoch nicht weniger. Weil sie so bekümmert waren und ich nicht wollte, dass sie sich immer wieder bei allen möglichen Leuten entschuldigen mussten, beschloss ich, mich außerhalb meines Zuhauses möglichst still zu verhalten. Ich tat nur noch, was die anderen taten, folgte allen Anweisungen und stellte so gut wie jede eigene Lebensäußerung ein.

Die Erwachsenen schienen erleichtert, als sie merkten, dass ich nur noch das Nötigste sprach und nicht mehr eigenmächtig handelte.

Dass ich so still war, entwickelte sich in der Oberschule natürlich zu einem eigenen Problem. Dennoch schien mir Schweigen das beste Mittel zu sein, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Es war einfach die vernünftigste Strategie. Auch wenn in meinem Zeugnis jedes Mal stand, ich solle »mehr Freundschaften schließen und im Freien spielen«, beschränkte ich meine Kommunikation weiterhin auf das Nötigste.

Anders als ich war meine zwei Jahre jüngere Schwester Asami ein ganz »normales« Kind. Dennoch ging sie mir nicht aus dem Weg, im Gegenteil, sie hing sehr an mir. Immer wenn meine Mutter sie wegen einer Kleinigkeit ausschimpfte, was sie bei mir nie tat, fragte ich sie nach dem Grund ihres Ärgers und setzte ihrer Predigt damit meist ein Ende. Asami war mir dankbar, weil sie glaubte, ich hätte sie verteidigt. Außerdem hatte ich kein Interesse an Süßigkeiten oder Spielsachen und verschenkte alles regelmäßig an Asami.

Wie gesagt, war meine Familie stets liebevoll besorgt um mich. Immerzu fragten sich meine Eltern, wie sie mich »heilen« könnten.

Ich weiß noch, dass ich immer überlegte, wie ich mich bessern könnte, wenn ich sie beratschlagen hörte. Einmal fuhren wir sogar mit dem Auto in einen anderen Ort zu einer Beratung. Anfangs mutmaßte der Berater natürlich, dass bei uns zu Hause etwas nicht stimmte, doch mein Vater war ein heiterer und gelassener Mensch und hatte als Bankangestellter ein gesichertes Einkommen, und meine Mutter war, wenngleich ein wenig kleinmütig, eine liebe Frau. Auch meine jüngere Schwester war mir zugetan. Also empfahl der Berater meinen Eltern etwas Unverfängliches wie: »Sie sollten sie sehr lieb haben und gut auf sie aufpassen«, und meine Eltern erzogen mich weiter besorgt und mit viel Liebe.

Zwar schloss ich keine Freundschaften, aber weil ich so konsequent den Mund hielt, gelang es mir, die Schule zu überstehen, ohne sonderlich gemobbt zu werden.

Auch als ich nach dem Abschluss auf die Universität ging, änderte sich nichts. Meine Freizeit verbrachte ich grundsätzlich allein, persönliche Unterhaltungen führte ich nie. Schwierigkeiten wie damals in der Grundschule hatte ich nicht mehr, dennoch waren meine Eltern weiterhin besorgt um mich. Ich fand überhaupt keinen Anschluss an die Gesellschaft und wuchs in der Vorstellung heran, »unheilbar« zu sein.

Am 1. Mai 1998, als die Filiale des Smilemart in Hiiro-chō eröffnete, war ich in meinem ersten Studienjahr.

Ich weiß noch genau, wie ich das kleine Geschäft kurz vor seiner Eröffnung entdeckte. Ich hatte mich auf meinem einsamen Rückweg von einer Uni-Festivität – natürlich hatte ich mich mit niemandem angefreundet – verlaufen und irrte nun durch ein mir unbekanntes Büroviertel.

Auf einmal merkte ich, dass nirgendwo ein Mensch zu sehen war. Alles war wie leergefegt. Die Straße mit den weißen sauberen Gebäuden wirkte wie eine aus Zeichenpapier gefertigte Kulisse. Eine Geisterstadt, in der es nur Gebäude gab und in der sonntags außer mir wohl niemand unterwegs war.

Überwältigt von der Verlorenheit, die ich an diesem bizarren Ort empfand, rannte ich auf der Suche nach dem U-Bahnhof los. Als ich endlich das U-Bahn-Schild sah und erleichtert darauf zusteuerte, fiel mir...

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