Wege, die sich kreuzen - Roman

Wege, die sich kreuzen - Roman

von: Tommi Kinnunen

Deutsche Verlags-Anstalt, 2018

ISBN: 9783641214494

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 4004 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wege, die sich kreuzen - Roman



1895 | Kapuzengasse

Etwas tun, ohne zu wissen,
dass man es kann

Langsam gewöhnten sich Marias Augen an das Halbdunkel. Die Hütte war klein. In den beiden einander gegenüberliegenden Wänden gab es winzige Fenster, von denen eines zur Hälfte mit einem Brett verdeckt war, sodass das Dämmerlicht des Herbstabends nur durch das andere fallen konnte. Direkt neben der Tür ragte eine große Mauer aus Schieferstein auf, in deren Kamin ein Span brannte – als Hilfe für die Wehmütter, dabei war es draußen noch hell. Die Wände waren pechschwarz, obwohl der Ofen schon einen Schornstein hatte. Am Webstuhl befand sich ein grauer schmaler Streifen, der ein Teppich werden sollte. Die Gebärende stand auf allen vieren auf dem Fußboden und lehnte sich gegen das ausziehbare Bett. Neben ihr lagen blutige Handtücher.

Maria war erst heute hierhergerufen worden. In dieser Gemeinde wollte niemand bei einer Entbindung eine ausgebildete Hebamme dabeihaben, und schon gar nicht die neue, junge. Die alte hatte angefangen zu trinken, nachdem sie in den abgelegenen Gegenden mehr Blut und Schleim, Steißlagen und vor Erschöpfung gestorbene Mütter gesehen hatte, als sie verkraften konnte. Angeblich waren innerhalb von vier Monaten fünf Gebärende an Blutverlust gestorben, weil die Hebamme in ihrem Suff nicht mit dem Abholer hatte mitfahren können. Einmal im Winter hatte sie es wohl geschafft, sich irgendwie in den Schlitten zu wälzen, war aber wieder heruntergefallen, obwohl sie mit Fellen und Wandteppichen zugedeckt worden war. Weinend war sie allein im Schnee liegen geblieben. Der Fuhrmann hatte noch versucht, sie festzubinden, aber sie hatte getobt und sich gesträubt und schließlich kriechend den Heimweg eingeschlagen.

Deshalb hatte seit Monaten niemand die neue Hebamme geholt, der Küster hatte sie nicht einmal zu den Impfungen mitgenommen. Im Kirchdorf hatte sie einigen Gören auf die Welt geholfen, die auch sonst problemlos geboren worden und am Leben geblieben wären. Einen besonderen Ruf hatte sie also noch nicht. Und da jedes Dörfchen seine eigenen erfahrenen Geburtshelferinnen, Saunaweiber und Wehmütter hatte, die auch ein schwieriges Kind herausziehen und ihm die Nottaufe geben konnten, holte niemand die Gemeindehebamme zu Hilfe. Und sie hatte keine eigenen Kinder. Die Welt der Frauen konnte ihr also nicht vertraut sein.

Maria erschrak, als die Frau des Kantors am frühen Abend an die Tür der Mietkammer klopfte, gerade als sie sich auszog.

»Sind Sie noch wach, Maria?«, fragte die Kantorin, obwohl es nicht mal fünf Uhr war. Dann öffnete sie die Tür, ohne die Antwort abzuwarten, und kam hereingehumpelt. »Hier ist jemand, der Hilfe braucht.«

Maria wickelte sich einen Schal um die Schultern und folgte der Hausherrin auf die aus Brettern gezimmerte Veranda. Dort stand eine kleine alte Frau. Sie ließ ihr schwarzes Seidentuch auf die Schultern hinabgleiten, stellte sich vor und guckte ungeduldig durch die Fenster hinaus.

»Könnten Sie wohl mitkommen?«, fragte sie und knickste zur Sicherheit vor Maria, obwohl diese die Jüngere war. »Bevor es noch dunkler wird.«

Die Kantorsfrau hatte ihr den zweirädrigen Pferdewagen geliehen und ihr mehrmals den Frieden des Herrn gewünscht, bevor sie hatten losfahren können. Sie hätte ein eigenes Kind verdient, dachte Maria, so sehr war die Kantorin von den Geburten anderer begeistert. Sie ließ sich auch über weite Strecken durchrütteln, um sich die Neugeborenen anzusehen und zu küssen. Die bettlägerigen Wöchnerinnen schämten sich für ihre Stuben mit den Mäuseköteln und den morschen Dielen. Glücklicherweise vergaß die Kantorsfrau nie, frisch gebackenes Brot, geflammten Labkäse und dicke Sauermilch mitzubringen. Wegen ihrer Sehnsucht nach Leben bewahrte sie so manche Wöchnerin und so manchen Säugling vor dem Verhungern. Ein Jammer, dass ihr, die das Zeug dazu hatte und es sich leisten konnte, ein Kind zu erziehen, und die es sich so sehr wünschte, keines geschenkt wurde, während die abgezehrten Frauen in ihren armseligen Hütten, in denen es nichts zu essen gab, mindestens jedes zweite Jahr ins Kindbett sanken.

Auf der Fahrt hatte die alte Frau mit dem schwarzen Kopftuch auf Marias Frage hin erzählt, dass sie die Mutter der Gebärenden sei und die Hebamme geholt habe, obwohl alle anderen ausdrücklich dagegen gewesen seien. Da aber die Geburt schon lange gedauert hatte und die Gebärende nach Ansicht der Mutter zu erschöpft war, hatte sie sich auf den Weg gemacht, um Hilfe zu holen. Die Hebamme solle jedoch bedenken, dass auch die Gebärende sie nicht bei sich hatte haben wollen.

Und nun war Maria hier. Auf den Treppenstufen saßen zwei Männer und warteten auf Neuigkeiten. Sie verfolgten den unerwünschten Ankömmling mit dem Blick.

»Die ist ja noch ein Kind«, sagte der Jüngere, der der Hausherr zu sein schien.

»Es ist gut, wenn Frauen kleine Hände haben«, probierte es der Ältere. »Lass mal die Hosen runter, dann zeigt sie dir, warum.«

Dem Jüngeren war nicht nach Lachen zumute. Er betrachtete Maria, aber sagte nichts. Die junge Hebamme ging zwischen ihnen hindurch ins Haus. Keiner von beiden wich aus.

Drinnen begrüßte die Gebärende sie mit dem leidenden Blick einer Kuh. Ihre Stirn war schweißnass, und zwei Wehmütter waren bei ihr. Die eine bemerkte den Ankömmling und stand auf. Sie wischte sich die Hände an einem Lappen ab, dessen Blutflecke schon getrocknet waren. Maria stellte ihre Tasche an der Tür neben dem Wasserzuber ab. Auch die andere Wehmutter, die jüngere, bemerkte sie. Die erste blieb stehen, nahm mit einem Holzstückchen Feuer von dem brennenden Span und zündete sich ihre Pfeife an. Dann baute sie sich vor Maria auf und maß sie von Kopf bis Fuß mit Blicken. Sie hob die Hand und strich Maria über die Taille, die vom Korsett eingeschnürt war.

»Solch ein Fräulein ist die neue Hebamme also.«

Die Wehmutter wandte sich wieder der Gebärenden zu und tat einen langen Zug aus der Pfeife.

»Es kommt nicht, und wenn man noch so drückt. Es ist stecken geblieben.«

Maria sah dem zur Decke aufsteigenden Rauchring nach. Die Wehmutter stand vor ihr. Maria wollte einen Blick auf die Gebärende werfen, aber die Frau stellte sich ihr in den Weg. Maria versuchte, an ihr vorbeizusehen.

»Sie wird wohl sterben. Und das Kind auch«, sagte sie mit einer Stimme, die Maria zu laut fand. Im Kindbett wurde gestorben, das wusste sie. Das brauchte man der Gebärenden nicht eigens zu sagen.

»Hat sie viel Blut verloren?«, fragte Maria.

»Viel und noch etwas mehr.«

»In welcher Verfassung ist sie?«

»Sie lebt noch.«

Die Wehmutter war mindestens doppelt so alt wie Maria. Sie tat einen weiteren Zug aus der Pfeife und blies den Rauch durch die Nase. Er stieg zur Decke hinauf, die schon völlig verrußt war. Die Wehmutter sah Maria an.

»Was wirst du tun, Mädel?«

Maria drehte sich um und ging zur Tür. Die Frau mit dem schwarzen Kopftuch hatte sich in die Türöffnung geschlichen und schaute zum Bett hinüber. Maria wandte sich zurück in die Stube. Die künftige Mutter starrte sie mit glasigen Augen an. Die jüngere Wehmutter massierte ihr den Rücken.

»Wenn du auf die Treppe hinausgehst und den Hausherren Gesellschaft leistest, dann sagen wir dir Bescheid, wenn sie in den Sarg gelegt werden soll«, sagte sie zu Maria, die fand, dass die Wehmutter viel zu jung war. Ihr Blick war scheu.

Die Frau mit dem schwarzen Tuch trat hinter Maria. Sie schaute auf die Gebärende, die die Augen nicht mehr offen halten konnte.

»Wenn ihr sie umbringt«, sagte sie und deutete auf ihre Tochter, die den Kopf ins Kissen drückte, »dann bringe ich euch um.«

»Was meinen Sie?«

»Das ist mein einziges Kind. Andere habe ich nicht.«

Die jüngere Wehmutter bemühte sich um Blickkontakt zur älteren.

»Was sagt die Hebamme?«

»Ich werde sie am Leben erhalten«, erklärte Maria.

»Wie denn?«

»Ich weiß es nicht. Noch nicht.«

Die ältere Wehmutter sah die Frauen an und trat dann zur Seite. Sie tat, als klopfe sie am Kamin ihre Pfeife aus, deutete aber zugleich mit dem Kopf auf die Gebärende. Maria nahm ihre Tasche auf, ging näher heran und tastete nach der Halsarterie. Die Frau im Bett öffnete die Augen und versuchte, den Blick zu fokussieren.

»Wie heißt die werdende Mutter?«

»Rieti«, antwortete die Frau mit dem schwarzen Kopftuch.

Maria überlegte, ob ihr Name in den Kirchenbüchern Riikka lautete oder Frederiikka. Sie hatte ihren Namen nach der Kantorsfrau bekommen. Die würde sich freuen, wenn sie das hörte. In diesem Hause würde es nicht an süßen Kammwecken mangeln.

»Dreht sie auf den Rücken.«

Die Wehmütter zögerten, gehorchten dann aber. Sie stützten der Gebärenden die Hüften und legten sie auf die Bettkante. Die ältere Wehmutter wischte ihr den erkalteten Schweiß vom Brustkorb, und die Frau mit dem schwarzen Kopftuch legte eine alte Decke über ihre Tochter, damit sie es warm hatte. Rieti wimmerte leise. Maria legte der Gebärenden einen Zipfel der Decke auf den Bauch.

Der Kopf des Kindes war halb hervorgetreten, sein Gesicht war Maria zugewandt. Die Augen standen offen, ihre Farbe ging ins Grünliche. Sie bewegten sich nicht. Maria befühlte die Stirn des Kindes. Sie wirkte kühl. Maria tastete den Bauch erst oben und dann an den Seiten ab. Dann legte sie die linke Hand auf den Bauch und drückte zugleich mit der rechten fest gegen die Rippen. Keine Bewegung. Die jüngere...

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