Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern? - Roman

Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern? - Roman

von: Timo Blunck

Heyne, 2018

ISBN: 9783641214272

Sprache: Deutsch

464 Seiten, Download: 666 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern? - Roman



Ohne dich (kann ich mich nicht mehr selbst befriedigen)

Winter 1991 Baton Rouge, Louisiana

»Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?« Sophia Devereaux legt den Kopf auf die Seite, streicht sich die dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen blitzen mich verschmitzt an, für ihr Lächeln fehlen mir die Worte. Schelmisch? Spitzbübisch? Sie ist schon auf den ersten Blick eine ganz seltsame Mischung aus Flirt und Noblesse, Isabella Rossellini und Beatrice Dalle, Bianca Jagger und Carmella Bing. Atemberaubend schön, die Art von klassischer Beauty, die auch noch mit 70 umwerfend sein wird, aber gleichzeitig versprüht sie eine animalische Sexyness, der man sich kaum entziehen kann. Der Raum füllt sich mit Pheromonen, sie ist das Alphaweibchen, das ganze Rudel will sich mit ihr paaren, denn sie wird offensichtlich die stärksten Welpen werfen. Und sie hat erst einen Satz gesagt! Der ist allerdings so direkt, dass ich erst mal anfange zu stottern. »Äh, was? Sex, 80er? Wir?« – »Ja, das war die Frage, allerdings in leicht anderer Reihenfolge.« Jetzt gesellt sich auch noch »einschüchternd« zum Reigen der Attribute, die ich mit Sophia verbinde. Wir sitzen im Magnolia Grill, einen Stock unter der Modelagentur, in der wir sie eben gecastet haben. Wir sind in Louisiana, um das Video für die erste Single meines Soloalbums zu drehen. Ich friere. Die Klimaanlage kühlt die Luft auf Kühlschranktemperatur. Die Stereoanlage spielt »Rudolf, The Red Nosed Reindeer«. Draußen rauschen die Autos den Sherwood Forest Boulevard hinunter, wir essen Crawfish Etouffé. Hatten wir mal Sex in den 80ern? Irgendetwas klingelt, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger. »Ich glaube nicht, oder …?« Sophia klappert vielsagend mit den Wimpern. Sie ist unsere Wahl, und das nicht nur, weil sie die einzige Brünette ist, die uns in der lokalen Agentur Margaret Marx angeboten wurde. Der Moodfilm, den wir als Typ-Vorlage geschickt hatten, war hauptsächlich zusammengeschnitten aus den letzten Szenen von Dustin Hoffmans »Reifeprüfung«, und Katharine Ross ist keine Blondine. Allerdings auch keine Salma Hayek, und ich habe als verantwortlicher Künstler eine »Executive Decision« gefällt, total ohne Rücksprache mit der »Eidechse«, dem zuständigen Marketing-Mann meiner Plattenfirma. Den Kriechtieren von meinem Label ist sowieso alles egal, ihr Aggregatzustand wabert von schwachsinnig bis Delirium tremens, den Laden schmeißen Praktikanten und Fahrradkuriere, an guten Tagen. Sophia ist ein aufgehender Star, und sie werden sie lieben, so wie ich sie schon nach 25 Minuten liebe. Sie hat einen Fleck unter ihrer rechten Brust, hat sie gekleckert? Der Fleck wird größer. Ich deute mit dem Finger. Sie sagt: »Verdammt, das Baby. Ich laufe schon wieder aus wie eine Kuh! Ich muss das Baby stillen, oh Gott, meine Titten bringen mich um, was für eine nervige Scheiße!« – »Du stillst?« – »Natürlich stille ich, ich bin doch kein Monster. Das Baby ist erst 2 Monate alt.« – »Und wo ist das Baby jetzt?« – »Vor der Tür, mein Mann wartet im Wagen.« – »Die ganze Zeit?« – »Warum nicht, er hat mir das Ding ja auch angedreht, now it’s time to pay the piper!« Sophia rennt raus, steigt in einen rostigen Chevrolet Cavalier. Ich bekomme einen kurzen Blick auf den Ehemann im Auto. Ist das Daniel Day-Lewis? Wohl nicht, in einem alten Chevy in Baton Rouge, außer er bereitet sich diesmal ganz besonders intensiv auf seine nächste Rolle vor. Aber der Mann sieht extrem gut aus. Filmstar-gut.

Heute ist Anprobe, oben bereitet die schwedische Stylistin Ingrid die Hochzeitskleider vor. Frisch abgestillt, erscheint Sophia, sie begrüßt uns mit der Selbstsicherheit einer Löwin. Warum eigentlich Löwin? Nicht nur bewegt sie sich wie die Königin der Savanne, sie hat auch diese Ausstrahlung von: »Ja, ihr Männer seid die Chefs, aber ich gehe auf die Jagd.« Sophia ist heute Aschenputtel – allerdings passt ihr der Schuh nicht. Schuhgröße 39 1/2 ist nicht gerade prinzessinnenmäßig, und auch der Rest der Outfits, die wir aus London zum Dreh nach Louisiana mitgebracht haben, ist ihr zu klein. Sophias Brüste sind mindestens D, ihr Arsch passt nicht in die Haute-Couture-Kreationen, die Ingrid ausgesucht hat. Georg von Alvensleben, der Berliner Regisseur, hatte die grandiose Idee, ein Model in Hochzeitskleid und Gummistiefeln durch die Sümpfe zu schicken. Joe Noble, mein Freund und Manager, hat Ingrid engagiert, eine große, vierschrötige Blondine, die ich bislang noch kein Wort sprechen gehört habe. Sie kommuniziert mit Augenrollen und Schulterzucken und ist nicht glücklich mit unser Modelwahl.

»Ich bin keine Size Zero, I just had a baby.« Sophia spürt die negativen Vibrationen, ihre Verteidigung ist Angriff: »Holt euch doch eins von den verhungerten Dingern, die Margaret hier sonst noch so unter Vertrag hat!« Margaret Marx ist verzweifelt. Sie ist selbst ein ehemaliges Model, das zunehmend aus dem Leim geht. Irgendwo zwischen 50 und 70, mit diversen chirurgischen Prozeduren im Gesicht. Die Wangen spannen, die Stirn ist zur Bewegungslosigkeit gebotoxt. Sie ist eine klassische »Southern Belle«, und mit dieser Art von Stress kommt sie nicht zurecht. Ich denke an Vivien Leigh, 20 Jahre nach »Vom Winde verweht«: »Wo ist mein Riechsalz?« Margaret blättert nervös durch die Kartei. »Eins unserer Mädchen passt bestimmt in die Kleider, auch haben wir Frauen mit kleineren Füßen im Programm!« Ein vorwurfsvoller Blick in Richtung Sophia, als könnte die sich kleinere Füße hungern. Ich komme zu ihrer Rettung: »Nein, ich habe mich entschieden, ich will Mrs. Devereaux. End of story!« Ich bin schon ein tougher Menschenhändler, Sophia schießt mir eins ihrer vieldeutigen Lächeln zu. Mir wird heiß und kalt, ich fühle mich wie Obelix mit Falbala.

»Warum besorgen wir nicht einfach ein passendes Kleid? Geheiratet wird doch wohl überall auf der Welt, oder?« Joe ist aus Liverpool. Wenn man die Augen schließt, denkt man, John Lennon wäre im Raum. Allerdings hat Joe die Figur eines Sumoringers, er ernährt sich ausschließlich von Schokolade. Ein praktischer Typ, ein echter »Scouser«.

»Oh ja, wir haben hervorragende Hochzeitsfachgeschäfte hier in Baton Rouge, mit den exklusivsten Marken, große Auswahl ...« – »Seht ihr, Problem gelöst, wir mieten einfach ein neues Hochzeitskleid.« Ingrid zuckt mit den Schultern, rollt die Augen. »Sind wir hier fertig? Das Baby ruft, und meine Möpse platzen.« Abgang Sophia, sie hinterlässt ein Loch im Raum, das Vakuum füllt sich nur langsam wieder mit dem Dunst der Restpersönlichkeiten.

Am nächsten Tag hat Margaret einen Termin im »Nr. 1 Bridal Store« vereinbart, einer kleinen Boutique in der Cortana Mall, dem großen Indoor-Einkaufszentrum in der Vorstadt. Im Süden der Vereinigten Staaten ist Hochzeit noch Hochzeit, und hier wiegt kein Kleid unter 20 Kilo. Rüschen, Tüll und Spitzen, Schleier, Pailletten, Strass und Stoffrosen.

Ingrid bekommt schon Krämpfe vom Schulterzucken, ihre Augen sind rot vom Rollen. Sophia ist in ihrem Element, spielt die Rolle der Braut für das 4-köpfige Publikum aus Joe, Margaret, Georg und der Verkäuferin. Mir hat sie die Rolle des Bräutigams zugeteilt. »My galant groom! Was hältst du hiervon? Zu viel Brokat?« Ich frage: »Soll nicht der Bräutigam das Brautkleid erst in der Kirche sehen?« – »Ganz im Gegenteil, der Bräutigam MUSS das Kleid zusammen mit der Braut aussuchen. Alter Cherokee-Brauch.« Mir kann man ja alles erzählen. Die Kleider muten eher wie Hochzeitskuchen an. Wie mögen dann wohl die tatsächlichen Torten aussehen? Eine weniger flamboyante Persönlichkeit würde wohl untergehen in diesem Meer aus Stoff, aber Sophia setzt sich durch, sie kann diesen Traum in Weiß tragen.

Eine Oscar-de-la-Renta-Kreation hat es ihr besonders angetan. »Dieses Kleid wollte ich schon bei meiner letzten Hochzeit tragen, aber es hieß Chevrolet oder Oscar de la Renta, und mein Blöd-Mann Miles hat sich für das Auto entschieden. Deshalb: thanks honey, for getting it right this time.« Meint sie das ernst? Ich verliere mal kurz die Übersicht. Dieser Dauerflirt öffnet immer wieder den Vorhang zwischen Fantasie und Realität. Wenn der bei Sophia überhaupt existiert. Ich bin fasziniert, spiele mit: »Nur das Beste für dich, mein Engel, ich möchte, dass es deine absolute Traumhochzeit wird!« – »You’re such a darling, thank you so much.« Es bleibt bei Oscar de la Renta, und Joe stöhnt: »Natürlich, das teuerste Kleid im ganzen Laden. Bloody hell, mate, deine Zukünftige hat einen verdammt kostspieligen Geschmack! Nicht vergessen, wir leihen diese Monstrosität nur. Seid bitte vorsichtig, keine Flecken oder, noch schlimmer, Risse!«

Keine Chance. Georg hat andere Pläne für Oscar de la Renta. Gleich am ersten Drehtag führt uns Location-Guide »Crazy« Willie in die Bayous. Willie ist ehemaliger Zypressentaucher, den Spitznamen »Crazy« hat er sich erworben, weil er keine Angst vor Alligatoren hat. Nachdem 1871 Mrs. O’Learys legendäre Kuh eine Laterne umgeschmissen und damit ein Drittel von Chicago in Schutt und Asche gelegt hatte, begann 1.500 km weiter unten der »Louisiana Lumber Boom«. Der gesamte Süden des Staates wurde in den folgenden Jahren systematisch abgeholzt, die vorher jungfräulichen Wälder wurden industriell zerstört. Eine ökologische Katastrophe und nicht die letzte im »Pelican State«. Bis zum heutigen Tag gibt es in den Südstaaten der USA kein Umweltbewusstsein, das Land wird brutal misshandelt, korrupte Opportunisten und professionelle Lobbyisten bestimmen die politische Landschaft. Der Holzfällerwahn hat öfter mal einzelne Baumstämme...

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