Die ganze Geschichte und andere Geschichten

Die ganze Geschichte und andere Geschichten

von: Ali Smith

btb, 2018

ISBN: 9783641199630

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 401 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die ganze Geschichte und andere Geschichten



Gottesgabe

Es gibt inzwischen so vieles, was du von mir nicht weißt. Zum Beispiel. Eine Katze aus der Nachbarschaft bringt mir seit mehreren Tagen Vögel, tote oder sterbende. Als ich aus Athen wieder nach Hause kam, erwarteten mich im Garten sechs übel zugerichtete tote Vögel und verschiedenes anderes Totes zwischen den gerade aufgehenden Blumen; und schon seit Wochen finde ich nun, wenn ich hinten die Tür aufmache, den Leichnam eines Vogels oder das, was davon noch übrig ist. Oder wenn hinten an der Tür nichts ist und ich zu dem kleinen Rasenstück runtergehe, weil ich mich ein bisschen sonnen will, erwartet mich da meistens eine Schweinerei aus Federn und noch mal Federn und angenagtem Vogel.

Heute Morgen zum Beispiel mache ich die Tür auf und will in den Garten, da ist der nächste Vogel auf der Fußmatte. Er lebt noch. Er liegt auf dem Rücken, die Flügel eingezogen, die Füße in der Luft, und stellt sich tot, doch mit jedem Schlag, den sein Herz tut, erschauert der ganze Körper.

Wem immer die Katze gehört, sie liebt mich oder mein Territorium heiß und innig; es werden nicht nur Vögel über meinen Grund und Boden gezerrt und zerbissen, sondern auch Schnecken und Würmer; ich habe schon Flügel von, allem Anschein nach, Spätfrühlingsschmetterlingen gefunden, die bis aufs Geäder zerkleinert waren, und einmal, mitten auf dem Weg, eine Scheibe Brot, das Endstück eines Laibs von Hovis. Dieses Geschenk muss freilich nicht unbedingt von einer Katze stammen, sondern könnte vom Himmel gefallen sein, aus einem Schnabel in meinen Garten oder aus einem Flugzeug; das logisch herzuleiten wäre aber schwieriger. Ich bin naiv, ich weiß; ich staune immer noch, wenn ich daran denke, dass menschliche Abfallprodukte im selben Moment atomisiert werden, in dem Tausende von Flugzeugen sie in den Himmel ablassen, dass der Kot und der Urin nervöser Fluggäste unbemerkt über uns zu Partikeln zersprengt werden, so winzig, dass sie fast nicht existieren, und durch all die Wolken aller Himmel weltweit zu uns herabschweben. Bei meinem Rückflug, auch zum Beispiel, spülte die Bordtoilette, die ich aufsuchte, mit so starkem Druck, dass gleich eine Menge Kabinenluft mit hinausgesaugt wurde; das hätte beängstigend sein können. Ich hatte aber keine Angst, hatte ich nie beim Fliegen, denn du hast ja nur Angst, etwas zu verlieren, wenn du etwas zu verlieren hast. Nicht du: man. Man hat nur Angst, etc.

In Griechenland habe ich Urlaub gemacht, war nur zum Vergnügen dort. Es war eine gute Idee. Ich bin allein los, ein Geschenk an mich. Als ich am ersten Tag der Woche am Strand saß, kaum zehn Minuten in der kleinen Stadt, das Gepäck neben meinen Füßen und zu viele Sachen am Leib für die Hitze, hinter mir das Stimmengewirr der Männer, die in den gängigsten Sprachen durcheinanderschrien und die Touristen zum Essen in ihren Restaurants zu animieren versuchten, sah ich den über die ganze Mauer bis zum Leuchtturm gemalten Schriftzug, griechische Wörter, die ich nicht verstand, und dann die englischen Wörter love und you.

Am Dienstag kam ich zurück, spät. Am Mittwoch räumte ich im Garten auf, sammelte die toten Vögel mit der Schaufel ein und balancierte sie vor mir her in die Mülltonne. Am Donnerstag fand ich wieder einen, eine junge Blaumeise, für mich unter einen Strauch gelegt. Ich hob sie mit einer Plastiktüte auf, die ich mir über die Hand gestülpt hatte, damit ich den Vogel hineinbekam, ohne ihn anfassen zu müssen. Er war gerade tot, eben erst gestorben, durch die Tüte drang stoßweise Wärme an meine Hände; es war ziemlich kalt an dem Tag, hatte geregnet, und ich war überrascht gewesen, wie leicht und wie vollkommen der tote Vogel aussah, als ich ihn da in dem Schutt fand, der sich unter Sträuchern ansammelt, den sinnlosen Steinchen und den lehmigen Krumen, und wie erledigt, zusammengerollt und leer er war, die Farben noch leuchtend und die Krallen bereits umgeklappt und unbrauchbar.

Heute ist Freitag. Der Vogel von heute, der zu meinen Füßen noch atmet, ist eine eben flügge gewordene Drossel; sie ist so jung, dass ihre Federn noch nicht anliegen, sondern bloß ein aufgeplusterter Flaum sind. Ich ziehe mir den Gartenhandschuh über und hebe die Drossel so behutsam auf, wie ich kann, denn ich weiß, ein Schock kann ein Leben beenden. Das Herz des Vogels schlägt schneller. Sein Auge beobachtet mich aus der Wölbung des Gartenhandschuhs, es beobachtet mich den ganzen Weg bis ins Haus, durch die Diele und die Treppe hinauf. Ich öffne das Fenster mit einer Hand und ziehe die andere zentimeterweise aus dem Handschuh heraus, lasse den Vogel auf dem Handschuh im Schatten auf dem Fenstersims, wo Katzen nicht an ihn herankommen. Ich streichle ihm zur Beruhigung mit dem Zeigefinger den Rücken. Irgendwo weiter oben rufen Drosseleltern; ich kann sie nicht sehen, verstehe aber das Geräusch, die panische Bekundung des Verlusts, und weiß jetzt, dass sie schon eine gute Stunde lang rufen, dass ich den Ruf schon beim Aufwachen im Bett gehört habe.

Eine halbe Stunde lang muss ich hinten im Garten immerzu an den Vogel denken. Er ist inzwischen vielleicht schon tot. Aber meines Wissens ist alles in Ordnung, und er lebt noch, zuckt auf dem Fenstersims vorn am Haus vielleicht mit einem Bein oder bewegt zaghaft zum ersten Mal die Flügel oder neigt den Kopf zur Seite und dreht stumm den offenen Schnabel zum Himmel, wo seine Eltern sind, von wo sie rufen, ich höre sie ja und kann ihnen nicht sagen, wo er ist.

Seine Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, sofern er sich nicht den Rücken gebrochen hat. Ich habe kein Blut gesehen, nichts, was auf eine Verletzung hinwiese. Dann bricht mir der kalte Schweiß aus. Ich hoffe zu Gott, dass er sich nicht den Rücken gebrochen hat. Ich habe ihn am Rücken angefasst! Vielleicht habe ich ihm Schmerzen bereitet. Vielleicht habe ich ihn noch mehr verletzt, als er es schon war.

Außer dem kratzenden Ruf der Drosseln liegen noch andere, fröhliche Vogelgesänge über den Gärten, flechten sich durch die Bäume. Das erste Mädchen, in das ich mich verliebte, hat mir mal einen Vogel ins Bett gelegt. Ja, richtig, das hat sie getan. Ich hatte das ganz vergessen, und als es mir jetzt plötzlich einfällt, muss ich laut lachen. Sie war süß, es war eine süße Liebe, meine erste. Ich war für sie auch die Erste. Wenn ich nun an sie denke, kann ich es schon fast ohne jedes Bedauern, mit kaum einem Hauch von Unbehagen, mit echter Wehmut, und es war ein ausgestopfter Vogel, den sie mir ins Bett legte, das weiß ich noch; es sollte ein Scherz sein. Ihr Vater kaufte sie auf Auktionen und bei Tierpräparatoren, ausgestopfte Eulen, Seeschwalben und so, und einmal, am Abend vor einer wichtigen Prüfungsarbeit, die ich schreiben musste, kam sie für eine halbe Stunde vorbei, um mir Glück zu wünschen, und als ich vier Stunden später ins Bett gehen wollte, den Kopf voll mit verschwommenen Formeln, lag der Vogel darin, sein Kopf auf meinem Kissen, und sein Sockel beulte mein Bettzeug aus.

Ich muss lachen. Ich war verärgert und angeekelt. Ich hob den Vogel, zwischen zwei Lehrbücher geklemmt, heraus und hielt ihn auf Armeslänge von mir fort, trug ihn hinaus und stellte ihn in der Gemeinschaftsküche des Studentenwohnheims auf den Boden (wo er vermutlich immer noch irgendwo steht mit seiner stolz geschwellten Brust, den an den Kopf geleimten Augen, ein Bein fest vor dem anderen und beide Füße auf den unechten Stein des Sockels montiert), ging in mein Zimmer zurück und bezog mir leise fluchend um zwei Uhr nachts das Bett neu. Im Geiste sehe ich noch die entsetzte Miene, mit der ich das Bett abzog. Jetzt muss ich so sehr lachen, dass eine Nachbarin bei sich oben den Vorhang zur Seite biegt und nachschaut, was das für ein Krach ist. Ich lache in meinem Garten grundlos für mich allein an einem Freitagvormittag um halb elf, zu einer Zeit, in der normalerweise niemand in seinem Garten sitzt, in der normale Menschen irgendwo auf Arbeit sind.

Ich gebe vor, dass ich sie nicht gesehen habe. Ich tue ja etwas. Lese ein Buch. Lese etwas nach über die Orte, die ich, wichtig, wie ich bin, vorige Woche bereist habe. Als ich über die Seite hinwegsehe, schwimmt eine tote grüne Blattlaus in meinem Kaffee. Ich fische sie heraus. Zu meinen Füßen krabbelt auf der Erde unter dem Strauch, unter dem ich gestern den toten Vogel gefunden habe, eine Biene, untersucht die herabgefallenen Blätter auf Gutes, das sie mitnehmen könnte. Heute ist es warm, schwül. Überall sind Insekten aufgewacht. Spinnen rennen durch das Gras und in Rissen in der Mauer rein und raus. Etwas langes Blaues, das aussieht wie ein blaues Stöckchen, klammert sich mit den Vorderbeinen ans Ende eines verdorrten Stengels. Ob es eine Libelle ist? Aus den Augenwinkeln bemerke ich einen Rosenstrauch, der über und über mit Blattläusen bedeckt ist, als wären die Blattläuse winzige grüne Früchte, die in Massen an dem Strauch wachsen. Ich sollte sie besprühen. Seifenlauge dürfte reichen.

Parthenon bedeutet Jungfrauengemach. Dorthin fuhr ich am Montag. Touristen standen Schlange und fotografierten sich gegenseitig vor antiken Sachen. Ich hörte eine gutaussehende junge Frau mit amerikanischem Akzent sagen, so wird Sterben sein, so wird es sein, in den Himmel zu kommen, und ich dachte, sie hat recht: Zu Hunderten und Aberhunderten kommen Menschen aller Altersgruppen und Nationalitäten dort gleichzeitig an, reihen sich in die Schlange ein, stehen herum und sehen sich Sachen an, einige kommen in Regenjacken, einige fotografieren ihre Freunde, einige zeichnen in ihren Skizzenbüchern den Himmel, und einige setzen sich hin und essen ihre Lunchpakete.

Ich aß in einem Restaurant zu Mittag, das Dionysos hieß und am Fuße der Akropolis lag. Es steht im Reiseführer. Wir...

Kategorien

Service

Info/Kontakt