Europa, das Meer und die Welt - Eine maritime Geschichte der Neuzeit

Europa, das Meer und die Welt - Eine maritime Geschichte der Neuzeit

von: Jürgen Elvert

Deutsche Verlags-Anstalt, 2018

ISBN: 9783641159702

Sprache: Deutsch

592 Seiten, Download: 29293 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Europa, das Meer und die Welt - Eine maritime Geschichte der Neuzeit



1
AUFBRUCH

Hinter dem Horizont geht es weiter: das geographische Wissen im 15. Jahrhundert

Zu den Grundvoraussetzungen für den Aufbruch in die Welt – und erst recht für eine erfolgreiche Rückkehr nach Europa – gehörten hinreichende geographische Kenntnisse und hochseetaugliche Schiffe. Darüber hinaus bedurfte es fundierter Kenntnisse in Küsten- und Hochseenavigation, um solche Fahrten ins Unbekannte zu bestehen. Insofern wird in diesem Kapitel zunächst der Kenntnisstand der Zeitgenossen um 1500 im Hinblick auf Geographie, Schiffbau und Navigation überprüft, bevor die portugiesischen und spanischen überseeischen Unternehmungen und die damit verbundenen Folgen für Europa und die Welt in den Blick genommen werden.

Am Ende des 17. Jahrhunderts wussten europäische Händler, Schiffseigner und Kapitäne recht genau, wohin sie segeln mussten, um die immer noch risikoreiche Fahrt nach Südostasien, zu den Gewürzinseln im Malaiischen Archipel, Richtung Afrika oder über den Atlantik gen Amerika mit einem signifikanten Gewinn abschließen zu können. Nur zweieinhalb Jahrhunderte zuvor wären solche Fahrten unmöglich gewesen, denn es gab noch keine Schiffe, mit denen Fahrten auf hoher See vergleichsweise gefahrlos unternommen werden konnten, und auch die navigatorischen Kenntnisse der Zeit reichten nicht aus, um jene Handelsplätze in Übersee anzulaufen, wo in Europa so begehrte Waren wie Seide und Gewürze erworben werden konnten. Nicht wenige glaubten noch, dass »südlich des Kaps Bojador« das Mar Tenebroso liege, ein »Meer der Finsternis«, auf dem Seefahrt unmöglich sei, da es aus rotem Schlamm bestehe und voller Ungeheuer sei, die glühende Sonne dort alle Menschen schwarz färbe, ein Magnetberg alles Eisen aus den Schiffen ziehe und riesige Strudel Schiffe und Menschen in die Tiefe rissen. Dass es sich bei diesem sagenhaften Kap tatsächlich um das geographisch auf 26° 07´ Nord liegende Kap Bojador gehandelt hat, ist in der Forschung allerdings umstritten. So führt beispielsweise Peter Russell den Hinweis auf die Umsegelung vom Kap Bojador, so wie er im Bericht des zeitgenössischen Chronisten Gomes Eanes de Zurara nachzulesen ist, auf einen Irrtum mittelalterlicher Kartographen zurück und vermutet, dass es sich bei diesem Bericht eigentlich um die Umsegelung des auf 24° 57´ Nord gelegenen Kap Juby handelt. Russell stützt seine Aussage auf zeitgenössische Reiseberichte, die das Kap gegenüber der Insel Fuerteventura verorten oder konstatieren, dass es zwölf Leguas von der Insel Lanzarote entfernt liege. Solche und ähnliche Berichte sowie die schwierigen Strömungsverhältnisse am Kap Juby lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass es sich in dem Bericht des Gomes Eanes de Zurara tatsächlich um dieses Kap gehandelt hat.1

Besser Informierte dürften schon damals Geschichten von Meeren aus rotem Schlamm eher für eine Art psychologische Abschreckungsmaßnahme interessierter Kreise denn als sachlich fundierte geographische Beschreibung verstanden haben. Schließlich gab es in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits genügend Reise- und Erfahrungsberichte, die ernsthafte Zweifel an solchen Geschichten weckten.2 Prinz Heinrich glaubte sie offensichtlich nicht, sonst wäre er wohl kaum jener engagierte Förderer der portugiesischen Seefahrt geworden, aus dem spätere Generationen von Historikern die »Kunstfigur« Heinrich der Seefahrer formten und damit einen Mythos schufen, der im 19. Jahrhundert zum Kristallisationspunkt der portugiesischen Nationalidentität werden sollte. Den Höhe- und gewissermaßen Endpunkt dieser Geschichtskonstruktion bildet das anlässlich des 500. Todestages Heinrichs auf Veranlassung des Salazar-Regimes im Jahr 1960 errichte monumentale Padrão dos Descobrimentos, das Denkmal der Entdeckungen im Lissabonner Stadtteil Belém am Ufer des Tejo. Es soll den portugiesischen Beitrag zur Entdeckung der Welt würdigen und stellt insgesamt 32 Persönlichkeiten des 15. und 16. Jahrhunderts dar, die sich in der Tat auf unterschiedliche Weise um die Errichtung des portugiesischen Überseeimperiums verdient gemacht haben. Angeführt wird die Kohorte der Entdecker von Heinrich »dem Seefahrer«, der mit einer Karavelle in der Hand gen Südsüdost auf den Tejo blickt. In Verlängerung dieser Sichtachse liegt das Kap der Guten Hoffnung, das der ebenfalls mit dem Denkmal gewürdigte Bartolomeu Diaz 1488 als erster Europäer umrundet und sogleich »Kap der Stürme« getauft hatte. Ob es der portugiesische König Johann war, der aus dem »Kap der Stürme« das »Kap der Guten Hoffnung« machte, als der Seeweg nach Indien offen war, oder ob Diaz selbst die heutige Bezeichnung im Nachhinein geprägt hat, ist unter Historikern umstritten und wird es wohl auch bleiben. Festzuhalten ist allerdings, dass Diaz seine Reise ohne die Vorkenntnisse, die auf Betreiben Heinrichs erworben worden waren, wohl kaum hätte unternehmen können.

Es interessiert an dieser Stelle weniger die Kunstfigur »Heinrich der Seefahrer«, auf die im weiteren Verlauf des Buches noch eingegangen wird. Am Beispiel Prinz Heinrichs von Portugal lässt sich aber vorzüglich herausarbeiten, was europäische Fürsten im 15. Jahrhundert veranlasste, maritime Expeditionen in noch unbekannte Gewässer zu fordern und zu fördern. Unter Umständen eignet sich diese Figur auch dazu, die Revisionsbedürftigkeit der im kollektiven Gedächtnis fest verankerten und irgendwo am Ende des 15. Jahrhunderts verlaufenden Trennlinie zwischen Mittelalter und Neuzeit zu verdeutlichen, wenngleich Peter Russell, einer der besten Kenner Heinrichs, diesen in seiner im Jahr 2000 erschienenen Biographie noch als einen typischen Vertreter des Hochmittelalters charakterisiert hat.3 Mit wachsendem Abstand zum bisher als Übergang vom Hochmittelalter zur Neuzeit wahrgenommenen Wechsel vom 15. zum 16. Jahrhundert und unter Berücksichtigung des Forschungsstandes verwischen sich die Konturen dieser Epochenscheide zunehmend. Heute erscheint gerade das 15. Jahrhundert als ein Zeitraum, der – nach einer längeren Stagnationsphase – von einer bemerkenswerten Dynamik gekennzeichnet war. Diese entfaltete sich im gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Raum und schuf letztlich die Rahmenbedingungen für unsere heutige Welt. In diesem Zusammenhang ist auf die Welle der Stadtgründungen im 12. und 13. Jahrhundert zu verweisen, ebenso auf die Migrationsbewegungen in Mittel- und Westeuropa, die Erfolge der Rekonquista auf der Iberischen Halbinsel im 13. Jahrhundert sowie auf veränderte Anbautechniken und -methoden in der Landwirtschaft. Diese ließen die Nahrungsmittelproduktion steigen und in deren Folge das Bevölkerungswachstum, das erst mit der großen Pest in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts für einige Zeit wieder zum Stillstand kam. Es spricht einiges dafür, dass diese Entwicklung durch günstige klimatische Bedingen zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert (der sogenannten Mittelalterlichen Warmzeit) befördert wurde, da sich die europäische Bevölkerung im selben Zeitraum etwa verdreifachte. Die im 15. Jahrhundert einsetzende und bis ins 19. Jahrhundert andauernde »kleine Eiszeit« führte hingegen wieder zu einer deutlichen Verschlechterung der landwirtschaftlichen Anbaubedingungen und damit zu einer spürbar problematischeren Versorgungslage in Europa.

Die vergleichsweise günstigen europäischen Umwelt- und Lebensbedingungen zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert hatten zweifellos einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Gesellschaft. Die zumindest punktuelle Bevölkerungsverdichtung in den neu gegründeten Städten ging einher mit der Bündelung und Erweiterung des zeitgenössischen Wissens – man denke an die Entstehung der ersten Universitäten –, das durch die Migrationsbewegungen in viele Teile des Kontinents transferiert wurde und vor Ort Anwendung fand. Bevölkerungswachstum und Verstädterung wiederum stärkten die Nachfrage nach Handelsgütern und ließen zahlreiche Fernhandelsverbindungen entstehen. Besonders der Handel über das Meer erfuhr zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert eine signifikante Zunahme. In diesen Zusammenhang gehört die vornehmlich in Mittel- und Nordosteuropa tätige Hanse, die zugleich intensive Wirtschaftsbeziehungen zum Mittelmeerraum pflegte. Während der langen Wachstumsperiode in Europa bestand daher zunächst keine Notwendigkeit zur Erschließung neuer Gebiete außerhalb Europas. Dies änderte sich im 15. Jahrhundert unter dem Eindruck einer spürbaren Verschlechterung der Lebensbedingungen. Nun sollten sich die Kompetenzen, die in den Jahrhunderten zuvor erworben worden waren, als hilfreich erweisen. Sie bildeten die Voraussetzung für das Erschließen neuer überseeischer Räume.

Die europäischen Küstengewässer von der Ostsee bis zum Mittelmeer waren schon bestens bekannt, die Kenntnisse in Nautik und Schiffbau hatten sich deutlich verbessert, und es lagen bereits vereinzelte Berichte von Seereisenden vor, die von Fahrten ins Unbekannte und Ungewisse zurückgekehrt waren und von unermesslichen Reichtümern jenseits der Grenzen der bekannten Welt berichteten. Ihre Reiseberichte dürften die Zeitgenossen auch deshalb geglaubt haben, weil seit längerem über Fernhandelsrouten wie die Seidenstraße Luxusgüter auf dem Landweg nach Europa gelangten. Doch infolge des Dauerkonflikts zwischen Christentum und Islam wurde der Transport dieser wertvollen Waren über Land nach Europa immer schwieriger und damit die Suche nach schiffbaren Überseehandelsrouten immer intensiver. Solche ökonomischen Erwägungen gewannen noch an Attraktivität, wenn sie sich mit dem Kampf gegen den...

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