Abgefahren

Abgefahren

von: Dirk Pope

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446259706

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 2925 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Abgefahren



Kilometer 279


Alles ist messbar. Die Geschwindigkeit. Die Uhrzeit. Die Luftfeuchtigkeit. Die Quadratmeterzahl einer Zweizimmerwohnung. Die Essensmenge pro Tellereinheit, in Gewicht, Volumen und Kalorien. Die Dioptrienzahl seiner Brille. Der Blutdruck. Der Körperumfang. Bauch, Beine, Po. Alles kann man messen, errechnen, kalkulieren. Vor und hinter dem Komma. Auch die Wegstrecke, die er seit heute Morgen von Essen-Vogelheim aus zurückgelegt hat, kann er bestimmen. Hundertmetergenau. 279,8 Kilometer. 279,9. Die rechte Achse des Tachometers dreht auf null und schiebt die beiden linksseitig angrenzenden Achsen je eine Ziffer weiter. 280 Kilometer. Woher soll er wissen, ob die Angaben tatsächlich stimmen oder nicht fehlerhaft sind? Vielleicht sind hundert Meter in Wirklichkeit 120. Oder nur 90. Und man läuft Gefahr, schon auf kürzester Distanz in die Irre geführt zu werden, wenn nur eine einzige Zahl, ein einziger Parameter falsch ist. Oder man sich nicht auskennt.

Viorel kennt sich nicht aus. Nicht außerhalb des Ruhrgebiets. Und schon gar nicht außerhalb Deutschlands. Alles Ungefähre, alles, was vage ist und über seinen Tellerrand hinausgeht, bereitet ihm Unbehagen. Wahrscheinlich ist es das, was ihn heute am meisten aus dem Tritt bringt. So genau kann er es nicht sagen. Missmutig öffnet er das Handschuhfach, greift nach einer Schachtel Schokoküssen. Mit extradick auf Waffeln dressiertem Schaumzucker. Ein Schokokuss oder auch zwei, bis der Pappkarton leer ist und er ihn neben sich auf die Fußmatte fallen lässt. Aufräumen kann er später.

Weiter auf der linken Spur. Jetzt 130. Viorel beschleunigt, bremst wieder ab und beschleunigt erneut. Bei regennasskalter Fahrbahn, die im Takt der Scheibenwischanlage nur kurz in seinem Sichtfeld auftaucht, um Sekundenbruchteile später wieder weggeschwemmt zu werden. Über die Lautsprecher Musik. Mit feuchten Fingern drückt er auf den Reglern. Vor. Zurück. Wieder vor. Die größten Hit-Konserven der letzten Jahrzehnte. Und das Beste von heute. Oder das, was am wenigsten auf die Nerven geht. Dazwischen der Wetterbericht.

Südlich der Donau weitere Regenfälle. Die Schneefallgrenze sinkt auf unter tausend Meter. Gegen Mittag ist es teils bewölkt, teils gibt es sonnige Abschnitte, und es bleibt weitestgehend trocken. Erst am Abend kommt an der Nordsee neuer Regen auf.

Sauregen, denkt er. Sauregen kommt auf. Was soll man auch sonst von einer Jahreszeit erwarten, die sich kurz vor Weihnachten von ihrer schlechtesten Seite zeigt? Dezemberdeutsches Sauwetter. Sauwetter im Ersten mit einem der unzähligen Fernseh-Sauwetterfrösche. Jonathan Pflüger präsentiert das Tiefdruckgebiet Jonathan, das heute genauso heißen darf wie er selbst. Zur Feier des Tages. Pflüger mit einer zielfernrohrähnlichen Isobarenformation auf der Mattscheibe, aus allen Rohren feuernd. Nichts mehr zu sehen auf dem Tagesthemenströmungsfilm. Filmriss. Oder doch. Der 10.000-Tage-Wettertrend für Hamburg. Hamburg! Was interessiert ihn Pflügers Hamburg, wo er längst hinter Frankfurt ist?

Die Temperaturen erreichen zwei Grad in Oberbayern und drei Grad am Niederrhein. Der Wind weht schwach bis mäßig aus West bis Nord, zum Abend lebt der Wind im Voralpenraum deutlich auf.

Seine Laune sinkt auf den Nullpunkt, in den Minusbereich. Schon jetzt. Nicht dass er irgendwelche Erwartungen an diesen Tag gehabt hätte. So weit würde Viorel nicht gehen. Doch ihn plagt die Gewissheit, diese Reise schlecht geplant zu haben. Weil er gar nichts geplant hat. Er hat intuitiv gehandelt, aus seinem fetten Bauch heraus. Und das erscheint ihm als Voraussetzung für das, was auf dieser Fahrt passieren kann, alles andere als optimal. Suboptimal. Mäßig. Er ist kaum vorbereitet. Nicht einmal einen Regenschirm hat er bei sich. Oder eine Zahnbürste. Und jetzt das. Trommeln. Dröhnen. Ein orchestraler Dauertusch aus faustgroßen Regentropfen hämmert ihm blindwütig auf das Dach. Hört nicht auf, niemals. Fallen Regentropfen kopfüber oder mit den Füßen zuerst?

Viorel fährt sich über die Brillengläser. Das Wetter ist nur eine Angelegenheit für Menschen, die noch zu Fuß gehen, denkt er. Dann schaltet er das Radio wieder aus und konzentriert sich auf die in tiefen Pfützen stehende Autobahn, die meterhohe Fontänen über die vorbeischwimmenden Fahrzeuge spritzt.

*

40 Kilometer weiter Land in Sicht. Eine Insel mit Zapfsäule und Schnellrestaurant. Einmal voll kostet ihn 53,20 Euro. Weit wird er damit nicht kommen. Vielleicht bis Passau. Oder Österreich. Eine befremdliche Vorstellung für jemanden, der ungern verreist.

Erst auf die Toilette, dann in den Essbereich. Viorel hat Hunger. Nicht viel los hier, stellt er fest, obwohl bald Mittagszeit sein müsste. Eine ältere Frau ohne Hals, die sich an einem pferdefußgroßen Zigeunerschnitzel festhält. Eine Familie mit zwei lärmenden Kindern. Eine Reisegruppe Norwegerpullover. Die übliche Geräuschkulisse aus Tellerklappern, essenden oder sich anschreienden Menschen, Handyklingeln und weihnachtlicher Hintergrundmusik. O du fröhliche! Viorel klappt ein plexiverglastes Brötchenvitrinenfach hoch, steckt die Hand gierig rein. Die Finger umschließen, nein krallen. Ein belegtes Brötchen. Nicht mehr ganz frisch, aber jetzt genau das Richtige. Ungesüßter Hefeteig mit Weizenmehl. Außen Kruste, innen Krume. Dazwischen Butter, Tomate, Käse, Salami, noch mal Butter. Ohne sich weiter Gedanken über die mit Lieblosigkeit belegten Raststättenbrötchen zu machen, schlingt er es hinunter. Noch eins. Und zwei zum Mitnehmen, besser drei. Dazu eine Tüte Chips, ein halbes Dutzend Schokoriegel und eine 2-Liter-Flasche Cola. Er lässt sich zwei Plastiktüten geben, hastet durch den Regen zurück zum Auto und deponiert die Vorräte auf dem Beifahrersitz. In Reichweite. Dann anschnallen, Zündschlüssel ins Zündschloss. Und Motor an. So wie er es in seinen ersten Fahrstunden gelernt hat. Drei, um genau zu sein. Dreimal 45 Minuten Praxis. Weiter ist er nicht gekommen. Wozu auch? Statistisch gesehen, verunglücken mehr Fußgänger durch Autofahrer als umgekehrt. Was soll ihm da am Steuer schon passieren?

Die über den Morgen kondensierte Innenraumluftfeuchtigkeit hängt noch immer an der Decke, an den Seitenscheibeninnenseiten. Als Perlenkette. Als Christbaumschmuck am Duftbäumchen, das bereits unter dem Rückspiegel hing, als seine Mutter den Wagen gekauft hatte.

1650 Euro, so wie er dasteht.

Mit Winterreifen?

Mit Winterreifen und Duftbäumchen.

Ein Glückskauf. Viorel durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Nicht nur, weil er dafür alt genug war. Eher deshalb, weil sein Körper hinten nicht reinpasste. Noch nie. Der komfortfremde Klappsitz, die viel zu enge Rückbank. Jetzt aber sitzt er selbst am Steuer. Mit dem Handrücken wischt er von innen über die Windschutzscheibe, um überhaupt etwas erkennen zu können, als er den Wagen ruckartig in Gang setzt.

*

Kurz vor der Ausfahrt ein Anhalter. Ein Anhalter, der aufhält. Viorel fährt rechts ran. Warum nur? Wieso heute? Das Wetter. Ja, das Sauwetter ist schuld. Da jagt man keinen Hund vor die Tür, Menschen schon. Die können sich ja was drüberziehen. Der auf dem Seitenstreifen wartende Mann ist ganz in Schwarz gekleidet. Schwarze Hose, schwarzer Mantel mit silbernen Manschetten und schmalen Epauletten, so wie ihn früher Offiziere getragen haben. Den Kragen hochgestellt. Trotz Dauerregens besitzt er weder einen Schirm noch einen Hut oder eine Kapuze, offensichtlich. Über der Schulter trägt der Fremde einen übergroßen, ebenfalls schwarzen Seesack. Bis auf die bleiche Haut ist alles schwarz an ihm. Düster. Das Wetter scheint ihm wenig auszumachen. Fast wirkt er so, als würde er vom Regen überhaupt nichts mitbekommen. Vielleicht ist er es gewohnt, im Feuchten zu stehen, denkt Viorel. Wie Tiere, die keinen Unterschlupf finden.

Um Platz zu schaffen, verschwindet eine Provianttüte im Handschuhfach, die andere unter seinen Beinen. Viorel öffnet von innen die Tür.

»Hallo … kann … kann ich Sie mitnehmen?«

»Das wäre überaus reizend.«

Der Anhalter zögert keinen Moment. Wie selbstverständlich klappt er den Beifahrersitz nach vorn und lässt sein riesiges Gepäckstück hinten auf den Sitz fallen. Dann einsteigen. Tag. Tag. Danke für so viel Aufmerksamkeit. Der Fremde schließt die Tür, Viorel gibt wieder Gas.

»Bis wohin …?«

»Ich bin auf dem Weg nach Ungarn. In die Nähe von Györ in Pannonien, um genau zu sein. Wenn ich bis dorthin mitfahren könnte, wäre das großartig, überaus großartig sogar. Vorausgesetzt, unser Weg ist derselbe.«

Györ in Ungarn, in der Pannonischen Tiefebene. Als hätte es der Fremde geahnt. Denn wenn Viorel sich recht erinnert, liegt die Stadt tatsächlich auf seiner Strecke, ist aber noch acht, neun, zehn Stunden weit entfernt. Sofern nichts dazwischenkommt. Schon jetzt bereut er, überhaupt angehalten zu haben. Der Mann hätte aber auch Bukarest sagen können. Oder Eriwan. Und was hätte er dann geantwortet, um ihn wieder loszuwerden? Bukarest? Schade, fahre schon in Nürnberg ab. Doch das stimmt nicht. Sein Ziel liegt irgendwo in Rumänien, in Osteuropa. Oder Westasien. Viorel hat zwar eine ungefähre Ahnung, ganz sicher ist er aber nicht.

Unzufrieden mit sich selbst wirft er einen Blick auf die Umgebung. Ein Tag wie jeder andere, denkt er. So wie er hier rund um das Jahr zur Verfügung steht. Der Horizont krümmt sich zwischen Himmel und Erde, zwischen Hellschwarz und Dunkelgrau, dass Viorel nicht weiß, wo genau er sein Auge festmachen soll. Waldgraue Bäume....

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