Die Wurzeln der Welt - Eine Philosophie der Pflanzen

Die Wurzeln der Welt - Eine Philosophie der Pflanzen

von: Emanuele Coccia

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446259485

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 1231 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Wurzeln der Welt - Eine Philosophie der Pflanzen



 

 

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AN DER FRISCHEN LUFT: ONTOLOGIE DER ATMOSPHÄRE

 

Das Leben hat den fließenden Raum nie hinter sich gelassen. Als es zu Urzeiten das Meer verließ, fand und erschuf es rund um sich ein Fluidum mit unterschiedlichen Merkmalen hinsichtlich der Konsistenz, Zusammensetzung, Beschaffenheit. Mit der Besiedelung des Festlands1 außerhalb des maritimen Milieus wandelte sich die trockene Welt zu einem unermesslichen fließenden Körper, in dem die große Mehrheit des Lebendigen in wechselseitigem Austausch zwischen Subjekt und Milieu leben kann. Wir sind nicht Erdbewohner; wir bewohnen die Atmosphäre. Das Festland ist nur die Außengrenze dieses kosmischen Fluidums, innerhalb dessen alles kommuniziert, alles sich berührt und alles sich ausdehnt. Und die Eroberung des Festlands war zuallererst die Herstellung dieses Fluidums.2

Vor mehreren hundert Millionen Jahren am Übergang vom Kambrium zum Ordovizium verließen Gruppen von Organismen das Meer und prägten die ersten Spuren tierischen Lebens, die wir noch bezeugen können: Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um homopode Arthropoden,3 also um Geschöpfe mit Beinen und spitzem Schwanz – dem Telson. Ihr Aufenthalt auf dem Festland ist noch flüchtig und experimentell: Das Milieu Luft betreten sie zur Nahrungssuche oder zur Fortpflanzung.4 Die Welt, die sich vor ihnen öffnet, wurde von anderen Lebewesen gestaltet. Das Universum, das wir bewohnen, ist das Ergebnis einer Verschmutzungskatastrophe, die wahlweise als Große Sauerstoffkatastrophe oder als Sauerstoffkrise bezeichnet wird.5 Offenbar spielten geologische und biologische Ursachen zusammen, um das Gesicht des Planeten grundlegend zu verändern. Die Herausbildung der ersten photosynthesefähigen Lebewesen – der Cyanobakterien – und der Wasserstofffluss von der Erdoberfläche bewirkten die Anreicherung von Sauerstoff, der anfangs umgehend durch Oxidation an die Elemente im Meerwasser oder auf der Erdoberfläche (zum Beispiel an Eisen oder Kalzium) gebunden wurde. Mit Entwicklung und Ausbreitung der Gefäßpflanzen stabilisierte sich die Atmosphäre: Es entstand mehr freier Sauerstoff, als durch Oxidation verbraucht wurde, und dieser reicherte sich in Gasform an. Dieser massive Sauerstoffgehalt bewirkte seinerseits das Aussterben zahlreicher anaerober Organismen, die bisher Land und Meer bewohnten und jetzt aeroben Lebensformen wichen.6

Die sesshafte und endgültige Ansiedelung der Lebewesen auf dem Festland fiel mit der radikalen Transformation des Luftraums zusammen, der die Erdkruste umhüllt: Was wir seit dem 17. Jahrhundert Atmosphäre nennen, hat seine innere Zusammensetzung verändert.7 Dank den Pflanzen wird die Erde endgültig zum metaphysischen Raum des Atems. Die Ersten, die die Erde besiedelten und bewohnbar machten, waren Organismen, die zur Photosynthese fähig waren: Die ersten vollständig terrestrischen Lebewesen haben die Atmosphäre am stärksten verwandelt. Umgekehrt ist die Photosynthese ein großes atmosphärisches Labor zur Umwandlung von Sonnenenergie in lebendige Materie. In gewisser Hinsicht haben die Pflanzen das Meer nie verlassen: Sie haben es dahin gebracht, wo vorher keines war. Sie haben das Universum zu einem unermesslichen atmosphärischen Meer gemacht und ihre maritimen Gewohnheiten an alle Wesen weitergereicht. Die Photosynthese ist nur der kosmische Prozess des Fließendmachens des Universums, einer der Bewegungen, über die sich das Fluidum der Welt herausbildet: was die Welt atmen lässt und in einem Zustand dynamischer Spannung hält.

So geben uns die Pflanzen zu verstehen, dass das Eintauchen keine rein räumliche Bestimmung ist: Eingetaucht zu sein heißt nicht einfach nur, in etwas zu sein, was uns umgibt und uns durchdringt. Das Eintauchen ist, wie wir gesehen haben, zuallererst eine Aktion der wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Umwelt, Körper und Raum, Leben und Milieu; eine Unmöglichkeit, beides physisch und räumlich voneinander zu trennen: Damit es zum Eintauchen kommt, müssen Subjekt und Umwelt einander aktiv durchdringen; andernfalls würde man lediglich von räumlicher Nähe oder von der Vermengung zweier Körper sprechen, die sich an ihren Extremitäten berühren. Subjekt und Umwelt wirken gegenseitig aufeinander ein und definieren sich über ihre reziproke Handlung. Diese Simultanität kommt durch die formale Identität von Passivität und Aktivität zum Ausdruck: Das umgebende Milieu zu durchdringen bedeutet, von ihm durchdrungen zu werden. In jedem Raum des Eintauchens verschmelzen formal Tun und Erfahren, Handeln und Erdulden. Diese Erfahrung machen wir zum Beispiel immer, wenn wir schwimmen.

Vor allem aber ist der Zustand des Eintauchens der metaphysische Ort einer noch radikaleren Identität, nämlich der von Sein und Tun. Wir können nicht in einem fließenden Raum sein, ohne allein dadurch bereits die Realität und die Form der uns umgebenden Umwelt zu verändern. Den triftigsten Beweis dafür liefert das Leben der Pflanzen, wenn man bedenkt, wie sie sich kosmogonisch auf unsere Welt ausgewirkt haben, also an ihrer Entstehung selbst mitgewirkt haben. Die Existenz der Pflanzen verändert an sich schon das kosmische Milieu, also die Welt, die sie durchdringen und von der sie durchdrungen werden. Allein schon durch ihre Existenz verändern die Pflanzen ganz global die Welt, ohne sich dabei auch nur zu bewegen, ohne überhaupt zu handeln. Sein bedeutet für sie Welt machen, und umgekehrt ist die Konstruktion (unserer) Welt, das Weltmachen, nur ein Synonym für das Sein. Und nicht nur die Pflanzen versuchen sich in dieser Koinzidenz: Bei den Organismen ist sie noch sehr viel eindeutiger zu sehen. Damit müssen wir diese Erkenntnis verallgemeinern und schlussfolgern, dass die Existenz jedes Lebewesens notwendigerweise ein kosmogonischer Akt ist und dass eine Welt immer zugleich ein Möglichkeitszustand ist und ein Produkt des Lebens, das sie birgt. Jeder Organismus ist die Erfindung einer Art und Weise, die Welt zu erzeugen (a way of worldmaking, um Nelson Goodmans Formulierung abzuwandeln), und die Welt ist immer Lebensraum, Lebens-Welt.

Aus dieser Perspektive lassen sich die Grenzen der Begriffe Milieu oder Umwelt ermessen, die weiterhin die Beziehung zwischen Lebewesen und Welt ausschließlich mit Blick auf Vermengung und räumliche Nähe repräsentieren und sie als ontologisch und formal unabhängig von dem lebendigen Organismus denken, der sie bewohnt. Wenn jedes Lebewesen ein Sein in der Welt ist, dann ist jede Umwelt ein In-den-Lebewesen-Sein. Welt und Lebewesen sind nur ein Abglanz, ein Echo der Beziehung, die sie verbindet.

 

Nie werden wir materiell von der Welt getrennt sein können: Alles Lebendige formt sich aus derselben Materie, aus der Berge und Wolken bestehen. Das Eintauchen ist ein materielles Zusammentreffen, das unter unserer Haut beginnt. Deshalb brauchen auch die Organismen nicht aus sich selbst herauszugehen, um das Gesicht der Welt umzugestalten; sie brauchen nicht zu handeln, zu ihrer »Umwelt« zu gehen, brauchen sie nicht einmal wahrzunehmen: Allein durch ihr bloßes Sein formen sie den Kosmos. In-der-Welt-Sein bedeutet zwangsläufig Welt machen: Jede Aktivität der Lebewesen ist ein Akt des Designs im lebendigen Leib der Welt. Und umgekehrt braucht man, um die Welt zu konstruieren, nicht einmal einen Gegenstand herzustellen, der von einem selbst unterschieden ist (indem man Materie aus der Haut ausscheidet) noch ein Stück Welt wahrzunehmen, zu erkennen, direkt anzuvisieren und verändern zu wollen. Das Eintauchen ist eine Beziehung, die tiefer geht als Handlung und Bewusstsein – sie geht hinaus über die Praxis wie über den Gedanken. Ein stilles, stummes, ontologisches Design. Es ist eine »Plasmabilität«, eine Formbarkeit, nichts anderes als ein nicht vorhandener Widerstand gegen die Welt, die Leichtigkeit, mit der die kosmische Materie die Metamorphose in ein lebendes Subjekt vollzieht, mit der sie gegenwärtiger Körper von ein paar Organismen wird (selbst jenseits des Umschließungsakts der Ernährung). Darin führen uns die Pflanzen die radikalste Form des In-der-Welt-Seins vor. Sie überlassen sich ihr ganz und gar, doch ohne passiv zu sein. Im Gegenteil, sie üben auf die Welt, die wir alle durch unseren bloßen Akt des Seins leben, den stärksten und folgenreichsten Einfluss aus, und das auf globaler und nicht nur auf lokaler Ebene: Sie verändern die Welt, nicht bloß ihr Milieu oder ihre ökologische Nische. Die Pflanzen zu denken bedeutet, ein In-der-Welt-Sein zu denken, das unmittelbar kosmogonisch ist. Die Photosynthese – eines der bedeutendsten kosmogonischen Phänomene, das mit dem Sein der Pflanzen selbst verschmilzt – ist weder gleichzusetzen mit der Betrachtung noch mit der Handlung (wie etwa dem Dammbau eines Bibers). So zwingen die Pflanzen die Biologie, die Ökologie, aber auch die Philosophie, die Beziehungen zwischen Welt und Lebendigem ganz von vorn zu durchdenken.

Die Beziehung der Pflanzen zur Welt lässt sich nämlich unmöglich über das zutiefst idealistische Modell des deutschen Naturkundlers Jakob von Uexküll interpretieren. In der Nachfolge Kants und unter der Prämisse, dass jedem Lebewesen sein Status als über seine Organe souveränes Subjekt zuerkannt werden muss,8 entwirft Uexküll die Welt als »eine Röhre, die (…) allseitig von Merkmalen gebildet [wird], die man sich entlang und um den Lebensweg des Tieres aufgebaut denken...

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