Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze - Roman

Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze - Roman

von: Wilhelm Genazino

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446259393

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 2033 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze - Roman



1


Die Ankündigung eines Straßenfests bedeutete, dass die in einer Einkaufsstraße ansässigen Bäcker, Metzger, Juweliere, Optiker, Apotheker und so weiter für einen Tag ihre Geschäfte verließen und auf der Straße Holzbuden aufstellten und ihre Bratwürste, Vollkornbrote, Sonnenbrillen auf Holztischen verkauften, vieles etwas billiger als sonst. Andere Geschäftsleute verschenkten kleine Artikel, die sie das Jahr über nicht hatten verkaufen können. Ich gehörte zu den vielen Herumstreunern, die nicht recht wussten, was sie hier zu suchen hatten. Viele Streuner langweilten sich, andere verbrachten hier ihre Mittagspause, wieder andere ließen sich von dem Getümmel ein wenig abschrecken, um mit einem guten Grund an ihre Schreibtische oder Computer zurückzukehren.

Ich dagegen betrachtete dicke Frauen mit Schürzen, Prospektverteiler, bewaffnete Polizisten, Kinder und herausgeputzte Mütter, die an normalen Tagen nicht geschminkt, nicht neugierig und nicht guter Laune waren. Da und dort spielten unbekannte Pop-Gruppen auf erhöhten Podien und versuchten, außerordentliche Augenblicke zustande zu kriegen. Ich stand unter einem Sonnenschirm, betrachtete Rentner, welke Blätter, nasse Taubenfedern, Gummiflitschen, von Erstklässlern verlorene Schwämme. Manches Herabgefallene hob ich auf, drehte es um, schaute es an, trug es eine Weile mit mir herum und legte es an einer anderen Stelle wieder ab. Ich sah Leute, die ich nur wenig kannte und mit denen ich nicht unbedingt sprechen wollte, ich wich ihnen aus, weil ich mir nicht sagen lassen wollte, was ich mir ohnehin selbst dachte. Es erstaunte mich nicht, dass ich nach etwa einer halben Stunde meine ehemalige Ehefrau entdeckte, wobei mir zum ersten Mal auffiel, dass in dem Wort ›ehemalig‹ das Wort ›Ehe‹ aufgehoben ist, was ich gut gelaunt so deutete, dass in jeder Ehe ihre zukünftige Ehemaligkeit schon angekündigt sei. Meine ehemalige Ehefrau schien, ebenso wie ich, keine besonderen Absichten zu verfolgen. In der Formulierung ›ehemalige Ehefrau‹ steckte auch die gewesene Ehefrau, und darin wiederum blitzte die Liebesverwesung auf, das einzig authentische Übrigbleibsel jeder Ehe. Ich meinte, sofort fliehen zu müssen, wozu ich jedoch zu feige und zu umständlich war. Da erkannte sie mich und kam sogleich auf mich zu. Wir begrüßten uns erstaunlich freundlich, sogar froh, als wäre unsere Ehe unterhaltsam gewesen. Oft fiel mir nicht auf, dass sich in meinem Bewusstsein an die Stelle der früheren Ehefrau mehr und mehr meine Mutter geschoben hatte. Und wer gleichzeitig gegen die Gespenster der Ex-Frau und der Mutter kämpft, hat den Kampf meistens schon verloren, noch ehe er begonnen hat. In meinem Kopf schwirrte jetzt gar zu heftig die Formulierung ›ehemalige Ehefrau‹ herum. Ich wollte überlegen, warum sich so viele ehemalige Ehepaare von diesen zwei Worten nicht hatten abschrecken lassen, da küsste mich Sibylle, so hieß meine ehemalige Ehefrau, auf beide Wangen, und gab damit (glaubte ich) zu verstehen, dass sie für erotisches Herumproblematisieren nicht in Stimmung war.

Wohnst du hier in der Gegend? fragte sie.

Ja, sagte ich, durch Zufall bin ich hier gelandet.

Das ist wahrscheinlich das Beste, sagte Sibylle, wenn man schon ohne besondere Absichten lebt.

Ich staunte über diese Formulierung, die nicht auf meinem Mist gewachsen war.

Sibylle bemerkte meine Nachdenklichkeit und sagte: Man verbringt sein Leben in diversen Gegenden mit diversen Männern und Frauen und stirbt dann in irgendeiner diversen Wohnung.

Jetzt musste ich lachen.

Ich muss mich beeilen, sagte sie, ich habe einen Termin bei meiner Schneiderin.

Oh! machte ich; eine Schneiderin hast du neuerdings?

Auf diese Frage ging Sibylle nicht ein. Wollen wir uns nicht wieder mal sehen? fragte sie stattdessen; lebst du allein?

Sibylle war mir zu neugierig und zu direkt, aber so war sie immer. Mein Interesse an ihr war deutlich geringer als umgekehrt. Als ich etwas zu lange schwieg, sagte sie: Ich bin neugierig auf alles, sogar auf deine Möbel, deine Unterwäsche und alles.

Ich lachte erneut und trat dabei einen Schritt von ihr zurück, was sie leider bemerkte.

Also! rief sie, tschüss!

Bleib misstrauisch, sagte ich.

Daraufhin küsste sie mich erneut.

Dann war sie weg. Dass sie zu einer Schneiderin musste, verwunderte mich. Es war möglich, dass sie mich (wie früher) angeschwindelt hatte. Sie hatte nicht das, was Frauen eine Problemfigur nennen – und wofür sie das Fachwissen einer Schneiderin gebraucht hätte. Sie war schlank, seit ich sie kannte. Wahrscheinlicher war, dass sie das Herumsuchen nach Kleidern in Kaufhäusern satthatte. Ich stand eine Weile herum und fragte mich, ob ich auf Sibylle noch einmal neugierig werden könnte. Das war nicht der Fall. Wahrscheinlich unter dem Einfluss einer traurigen Anmutung (kein Verlangen mehr nach Sibylle) ging ich rasch nach Hause und putzte meine Wohnung. Ich fragte mich, was muss weggeräumt, weggeworfen, verhüllt, verbrämt, verborgen werden? Gerade entdeckte ich, dass sich auf der Marmelade, die im Glas auf dem Tisch stand, ein wenig Schimmel gebildet hatte. Es war unwahrscheinlich, dass meine gewesene Ehefrau je ein Marmeladebrot essen wollte, aber ich wollte kein Risiko eingehen und entfernte das Glas. Mein Blick fiel auf einen verschlissenen Pulli, den ich nur am späten Abend trug und in dem ich manchmal auch schlief, wenn ich zum Ausziehen zu müde war. Auch ihn räumte ich weg. Ich musste innerlich lachen über meine weit vorausschauende Fürsorge.

Da fielen mir die Vögel auf, die in den Bäumen herumschwirrten und sich wahrscheinlich überlegten, wo sie noch hinfliegen konnten. Denn überall, wo sie sich niederließen, waren sie schon oft gewesen. Aber dann fiel mir ein, dass Tiere das Problem der Langeweile nicht kannten. Vögel stehen nicht wie Menschen auf Straßen herum und überlegen, wo sie denn jetzt noch hinfliegen können. Ein paar Meisen vollbrachten kleine Kunststücke. Sie flogen direkt auf Hauswände zu und konnten sich mit ihren kleinen Krallen festhalten, wenn auch nur kurz. Die Unmenge vertrauter Anblicke war dagegen, dass ich noch einmal auf die Straße ging. Mein Überdruss machte mich ratlos und flößte mir ein wenig Angst ein. Es gab in diesem Stadtteil keinen Springbrunnen, keinen Palast aus dem achtzehnten Jahrhundert, keinen Paternoster in einem Krankenhaus, das in den Kriegen nicht zerstört worden war, sondern es gab fast nur Autos, vollgestellte Parkplätze und gelegentlich einen Polizisten, der der Anblicke überdrüssig war.

Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass mir gerade jetzt meine tote Mutter einfiel. Ich hatte von ihr nicht nur das Gefühl der Unwissenheit und der Ödnis geerbt, sondern sie hatte mir die Überzeugung der ewigen Ratlosigkeit eingepflanzt. Als ich Kind war, hörten wir nachmittags öfter ein Radiokonzert. Immer mal wieder wurde ein Divertimento von Mozart gesendet. Ich war sicher, dass sie nicht wusste, was ein Divertimento ist. Sie hörte es an, genau wie ich, und störte sich nicht an ihrem Unwissen. Bald darauf (ich war immer noch Schüler) ließ ich mir zum Geburtstag ein Fremdwörterbuch schenken und las, dass Divertimento nichts weiter war als ein Ausdruck für ein »unterhaltsames Stück«. Ich ging mit dem Finger im Fremdwörterbuch zu meiner Mutter und wollte ihr vorlesen, was ein Divertimento ist. Sie wandte sich ab und nahm ihr Strickzeug in die Hand. Auch mein Vater wollte nicht wissen, was ein Divertimento ist. Wenn er mit Zeitunglesen zu Ende war, legte er das Blatt zusammen und sagte manchmal einen Vers: So ist es halt, wenn ein Furz knallt, dann stinkt’s halt. Meine Mutter störte sich weder an dem Vers noch an den Geräuschen des Vaters. Meine Eltern hatten sich von langer Hand aneinander gewöhnt und waren nicht bereit, sich im Alter noch Vorhaltungen zu machen, mit denen sie vor etwa vierzig Jahren hätten anfangen müssen. Ich lief ohnehin oft diese schon lange erschöpften Straßen entlang. Überall sah ich diese vielen Alten, die arbeitslosen Jugendlichen, die wahrscheinlich dumpfen Motorradfahrer, die schlichten Polizisten. Alles, was ich sah, wurde mir zur Klage. Ich wusste, an welchen Häusern die Türen offen standen. Und ich musste es mir abgewöhnen, in die Hausflure zu schauen und mich über die übergroßen Plastikmülleimer zu ärgern. Manchmal blieb ich sogar stehen und sah mir die Mülleimer mit einer Genauigkeit an, für die ich keinerlei Verwendung hatte. Ich konnte über alles nachdenken, über Hausflure und Mülleimer jedoch nicht.

Ich wollte Sibylle nicht wieder treffen, aber ich wollte nicht, dass sie das merkte. Je tiefer ich in das Leben von Sibylle eindringen würde, desto klarer würde mir auffallen müssen, dass sie gerettet werden wollte und dass sie vermutlich schon lange glaubte, dass sie von mir gerettet werden wollte. Sibylle wohnte wegen der überteuerten Mieten in der Stadt in einem Nest zwischen Frankfurt und Wiesbaden. Sie hatte mir den Namen des Weindorfes schon öfter gesagt, ich hatte ihn jedes Mal vergessen. Jetzt musste sie täglich (außer am Wochenende) mit der S-Bahn hin- und herfahren und gab dafür das Geld aus, das sie bei der Miete sparte. Auch darüber redeten wir nicht. Vorerst musste ich verhindern, dass sie in meine Wohnung kam. Ich fühlte, dass sie ausgehungert war und gegen einen Sexualimbiss mit ihrem Ex-Mann nichts einzuwenden hatte. Mit Genugtuung merkte ich, dass der Fahrstuhl kaputt war. Das war weder neu noch selten, aber weil gerade Samstag war, begrüßte ich den Zwischenfall. Außerdem würden die Fahrstuhltechniker frühestens am Montag erscheinen können. Ängstliche Mieter überlegten...

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