Glücksfall Mensch - Ist Evolution vorhersagbar?

Glücksfall Mensch - Ist Evolution vorhersagbar?

von: Jonathan B. Losos

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446259782

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 24112 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Glücksfall Mensch - Ist Evolution vorhersagbar?



Vorwort


Wie viele durchlief auch ich als Kind eine Dinosaurierphase. Im Kindergarten war ich berühmt dafür, dass ich jeden Tag mit einem Korb voller Plastikdinosaurier auftauchte: Allosaurus, Stegosaurus, Ankylosaurus, Tyrannosaurus rex. Ich hatte sie alle, oder zumindest alle zwanzig Arten, die es damals gab (heute haben die Kinder es so viel besser).

Doch im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern wuchs ich aus dieser Phase nie heraus. Ich habe meine Spielzeugdinos heute noch, und mehr als damals. Ich kenne immer noch ihre Namen und kann sogar Parasaurolophus aussprechen. Mein Interesse gilt heute jedoch eher lebenden Reptilien: Schlangen, Schildkröten, Eidechsen und Krokodilen.

Diese Veränderung hat zum Großteil mit einer Wiederholung der alten TV-Serie Erwachsen müsste man sein zu tun, vor allem mit der Folge, in der Wally und Beaver per Post einen Babyalligator bestellen und ihn dann im Bad verstecken. Natürlich wird es extrem lustig, als die Haushälterin Minerva das Tier entdeckt. Ich hielt das für eine tolle Idee und kannte ein paar Tiergeschäfte, die damals (in den frühen 1970er-Jahren) Babykaimane, die mittel- und südamerikanischen Verwandten des Alligators, verkauften, daher ging ich mit dem Vorschlag zu meiner Mutter. Sie sagte nicht gern Nein und meinte daher, wir sollten Charlie Hoessle, der stellvertretender Direktor des Zoos von Saint Louis und ein Freund der Familie war, um Rat fragen, weil sie davon ausging, dass er mir die Sache ausreden würde. Danach begrüßte ich meinen Vater jeden Tag nach der Arbeit mit der Frage: »Hast du heute mit Mr. Hoessle gesprochen?« Geduld gehörte noch nie zu meinen Stärken (und mit zehn Jahren schon gar nicht), daher wurde aus meinem Frust schon nach wenigen Tagen Wut. Wo lag das Problem? Mein Vater wollte warten, bis er Hoessle bei einem Meeting traf, statt ihn einfach anzurufen. Würde dieses Meeting je stattfinden? Gerade als ich jede Hoffnung auf einen reptilischen Mitbewohner aufgeben wollte, kam mein Vater eines Abends nach Hause und verkündete, er habe endlich mit Mr. Hoessle gesprochen. »Und?«, fragte ich ganz zappelig vor Hoffnung und Nervosität. Dann Freude: Hoessle hielt es für eine tolle Idee. Genauso sei er selbst zur Herpetologie gekommen!*1 Jetzt hatte meine Mutter keine Wahl mehr, und kurze Zeit später wimmelte es in unserem Keller von Reptilien aller Art. Ich hatte die ersten Schritte auf dem Weg zu meiner beruflichen Laufbahn gemacht.

Während ich mich um meine schuppigen Schützlinge kümmerte, las ich fast religiös die Monatszeitschrift Natural History, die vom American Museum of Natural History in New York herausgegeben wurde. Ein Höhepunkt in jeder Ausgabe war die Kolumne This View of Life des brillanten und belesenen Harvard-Paläontologen Stephen Jay Gould. Der Titel der Kolumne stammte aus dem letzten Satz von Darwins Über die Entstehung der Arten und beschäftigte sich regelmäßig mit Goulds heterodoxen Ideen über den Evolutionsprozess. Gould betonte in der Kolumne häufig, die Evolution sei unbestimmt und nicht vorhersagbar. Die Texte waren elegant formuliert, und Gould streute immer wieder Vignetten aus Geschichte, Architektur und Baseball ein, mit denen er überzeugend für seine Weltsicht warb.

Im Jahr 1980 erhielt ich die Studienzulassung für Harvard und freute mich darauf, von diesem großen Mann in seiner bescheiden als Grundstudiumskurs angekündigten Veranstaltung Die Geschichte der Erde und des Lebens direkt zu lernen. Und er war persönlich ebenso faszinierend und einnehmend wie auf dem Papier. Doch von allen Dozenten am meisten beeindruckte mich Ernest Williams, der Kurator für Herpetologie des Museums für Vergleichende Zoologie von Harvard (der heute ich bin). Er war ein gebieterischer, älterer Wissenschaftler, empfing aber mich Neuling, der sich für Reptilien interessierte, sehr freundlich. Nach kurzer Zeit studierte ich die spezielle Eidechsenart, die im Zentrum seines Lebenswerks stand.

Anolis-Echsen sind in aller Regel grün oder braun mit Haftflächen an Fingern und Zehen und einem farbenfrohen, aufstellbaren Kehllappen, der sie fotogen und faszinierend macht. Doch wirklich berühmt sind sie in wissenschaftlichen Kreisen für ihre evolutionäre Produktivität. Vierhundert Arten sind bereits bekannt, und jedes Jahr werden weitere entdeckt, sodass Anolis eine der größten Wirbeltiergattungen ist. Diese unglaubliche Vielfalt ist das Ergebnis von großem örtlichem Artenreichtum – teilweise leben mehr als ein Dutzend Arten nebeneinander –, kombiniert mit regionalem Endemismus. Die meisten Arten kommen nur auf einer einzigen Insel oder einem kleinen Teil des tropischen amerikanischen Festlands vor.

In den 1960er-Jahren dokumentierte Williams’ Doktorand Stan Rand, dass Anolis-Arten nebeneinander koexistieren, indem sie sich an verschiedene Teile des Habitats anpassen, manche leben hoch oben in Bäumen, andere im Gras oder auf Zweigen. Williams’ große Leistung bestand in der Erkenntnis, dass sich auf jeder Insel der Großen Antillen (Kuba, Hispaniola, Jamaika und Puerto Rico) dieselbe Zusammensetzung an Habitatspezialisten entwickelt hatte: Die Echsen hatten sich auf den vier Inseln jeweils unabhängig diversifiziert, aber die Habitate fast exakt gleich untereinander aufgeteilt.

Als Student führte ich ein Forschungspraktikum über die Interaktionen zweier Arten in der Dominikanischen Republik durch und hatte so einen kleinen Anteil an dieser Geschichte. Ich machte meinen Abschluss, begann ein Dissertationsstudium in Kalifornien und schwor mir, nie wieder über diese Echsen zu arbeiten, weil Williams in seinem Labor bereits alles Entscheidende entdeckt hatte.

Oh, die Naivität der Jugend. Denn wie jeder Wissenschaftler weiß, führt der erfolgreiche Abschluss eines Projekts zwar zur Beantwortung einer Frage, wirft aber drei neue auf. Zwei Jahre und ein Dutzend verworfene Projektideen für meine Dissertation später erkannte ich schließlich, dass Insel-Anolis einfach perfekt sind, um die Vorgänge bei der evolutionären Diversifikation zu untersuchen.

Also verbrachte ich vier Jahre in der Karibik, kletterte auf Bäume, fing Eidechsen und gönnte mir hin und wieder eine Piña Colada. Am Ende hatte ich mit den neuesten Analysemethoden gezeigt, dass Williams völlig recht hatte. Auf den verschiedenen Inseln hatten sich unabhängig voneinander anatomisch und ökologisch sehr ähnliche Arten entwickelt. Darüber hinaus hatten meine biomechanischen Untersuchungen – wie Echsen rennen, springen, sich festhalten – die adaptiven Grundlagen für die anatomischen Variationen enthüllt, die erklärten, warum sich Merkmale wie lange Beine oder große Haftsohlen bei Arten entwickelten, die bestimmte Teile des Habitats nutzten.

Die Tinte auf meiner Dissertation war kaum getrocknet, als Zufall Mensch: Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur in den Buchhandlungen auftauchte, wohl Stephen Jay Goulds bestes Werk. Ich verschlang das Buch und fand die Argumentation überzeugend. Er schrieb, die Wege der Evolution seien verschlungen und nicht vorhersagbar; würde man den Film des Lebens noch einmal ablaufen lassen, käme man zu einem völlig anderen Ergebnis.

Goulds Idee, die Uhr zurückzustellen und den evolutionären Film des Lebens noch einmal ablaufen zu lassen, ist (zumindest in der Natur) unmöglich realisierbar. Allerdings könnte man die Wiederholbarkeit der Evolution auch testen, indem man den gleichen Film an unterschiedlichen Orten ablaufen lässt. Geschieht nicht genau das auf den karibischen Inseln, auf denen ein Urahn der Anolis-Echsen angespült wurde? Wenn man davon ausgeht, dass diese Inseln eine mehr oder weniger identische Umgebung darstellen, ist das dann kein Test für die evolutionäre Wiederholbarkeit?

Doch, genau das ist es, und daher befand ich mich in einer intellektuellen Zwickmühle. Gould argumentierte überzeugend, dass Evolution sich nicht wiederholen könne, doch meine eigenen Forschungen zeigten, dass sie genau das tat. Hatte Gould unrecht? Oder war meine Arbeit nur die Ausnahme, welche die Regel bestätigt? Ich entschied mich für die letztere Erklärung und übernahm Goulds Weltsicht, obwohl meine eigene Arbeit ein Gegenbeispiel lieferte.

In den letzten 25 Jahren hatte es diese Sichtweise schwer, denn in dieser Zeit kristallisierte sich ein intellektueller Kontrapunkt zu Goulds Beharren auf der Unvorhersagbarkeit und Nicht-Wiederholbarkeit von Evolution heraus. Diese neue Sicht betont die Allgegenwärtigkeit von adaptiver, konvergenter Evolution: Arten, die in ähnlichen Umgebungen leben, unterliegen demselben natürlichen Selektionsdruck und entwickeln als Anpassung ähnliche Merkmale. Meine Anolis-Echsen sind ein Beispiel für eine solche Konvergenz. Vertreter halten sie für einen Beweis, dass Evolution keineswegs verschlungen und unbestimmt ist, sondern tatsächlich gut vorhersagbar: Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, wie man in der Natur überleben kann, was dazu führt, dass sich aufgrund natürlicher Selektion immer wieder die gleichen Merkmale herausbilden.

Seit der Veröffentlichung von Zufall Mensch hat die Evolutionsbiologie bedeutende Fortschritte gemacht, und ich habe meinen Doktortitel erworben. Neue Ideen, neue...

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